Malen, was ist
Selten gab es an einem einzigen Ort so viel Francisco de Goya zu sehen wie jetzt in der Fondation Beyeler. Er kannte keine Gnade – weder mit sich selbst noch mit anderen. Hingehen!
Von Kia Vahland, 03.11.2021
Es gibt Malerinnen der Utopien, Künstler, die eine bessere Welt schaffen wollen, wenigstens im Atelier. Manche wollen zeigen, wie sich in Frieden miteinander leben liesse und wie gerade nicht. Manche lassen die Abgerissenen und Versehrten teilhaben am grossen Ganzen, etwa der christlichen Heilsgeschichte. Es gibt natürlich auch jene Künstlerinnen, die ein hedonistisches Programm verfolgen, sich vorbehaltlos der Privilegien und Zugänge erfreuen, die ihnen ihr Beruf verschafft.
Und es gibt Francisco de Goya. Der Spanier, der vor, während und nach der Französischen Revolution erst in seiner Heimat, am Lebensende dann in Frankreich wirkte, ist eine Kategorie für sich. Keiner ist so desillusioniert an Realitäten interessiert, den äusseren und inneren. Keiner verzichtet so auf Harmoniewillen, keiner beschönigt so wenig, weder die Reichen noch die Armen. Keiner arrangiert sich so geschickt mit der Macht und führt sie dann so vor. Und keiner geht so weit in seiner Überzeugung, dass in scheinbar aussichtsloser Lage nur das genaue Hinsehen, Nachspüren und Aufzeichnen hilft.
Der 1746 geborene, 1828 gestorbene Goya malte, skizzierte und radierte Szenen von Folter, Hinrichtungen, Verrat und Hass. Schaute sich in Einrichtungen für psychisch Kranke und Pestopfer ebenso um wie am spanischen Königshof, dokumentierte die erbarmungslosen Prozesse der katholischen Inquisition, imaginierte aber auch nicht weniger blutige Rituale von sogenannten Ketzerinnen und Abergläubigen. Seine Kunst tut weh, immer noch.
Selten ist so viel von ihr an einem Ort zu sehen wie nun in der Fondation Beyeler in Riehen, die mit rund 170 Werken eine der grössten je im deutschsprachigen Raum präsentierten Ausstellungen des Spaniers zeigt. Der Kontrast zu dem wohlproportionierten, von Renzo Piano errichteten Ausstellungshaus im sorgfältig komponierten Garten könnte nicht grösser sein. Hier die geordnete Welt des Schweizer Wohlstands. Dort, an dunkel gehaltenen Wänden, geschändete Leichen, prügelnde Ehemänner, Schusswechsel, Vergewaltigungen. Dazwischen höfische Szenen zwielichtiger, von Intrigen gezeichneter Adeliger, mit denen man auch nicht tauschen möchte.
Fondation Beyeler: «Goya». Die Ausstellung dauert noch bis 23. Januar 2022. Mehr Details erfahren Sie hier.
Vielleicht braucht es genau dieses sonnige Vorstadt-Ambiente von Riehen, um Goyas Kunst auszuhalten, neu zu betrachten, auf seine Zeitgenossenschaft und seine Zeitlosigkeit hin auszuloten.
Es entstand in einer Epoche, in der die Welt aus den Fugen zu geraten schien. Das feudale Wertesystem verlor rasant an Geltung, die bürgerliche Ordnung aber schälte sich nur qualvoll langsam heraus. In Frankreich tobte schon die Revolution, in Spanien bangte die Monarchie noch um ihr Fortbestehen. Ihre Repräsentantinnen balancierten zwischen liberaler Aufbruchsstimmung und dem Fundamentalismus der spanischen Kirche, die ihr Glaubenssystem und ihre Macht von Aufklärern und Wissenschaftlern bedroht sah.
Unter diesen Umständen das traditionelle Formenrepertoire wieder aufzulegen, erschien dem Maler immer sinnloser; althergebrachte Reiterbilder, Votivtafeln, Historiendarstellungen passten nicht mehr in eine Gegenwart, von der man nicht wusste, in welche Zukunft sie führen könnte. Er hätte nun stattdessen einfach der Mode folgen können, hätte sich bei dem unter Gebildeten so beliebten Klassizismus bedienen können. Mit klaren Linien, strengen Formen und planen Bildflächen zelebrierten Maler wie der Franzose Jacques-Louis David und vor ihm der in Spanien erfolgreiche Deutsche Anton Raphael Mengs das selbst ernannte Zeitalter der Vernunft.
Wie vernünftig aber sind die Menschen wirklich? Goya, so scheint es, hatte seine Zweifel. Und suchte nach einem neuen Ausdruck für die Widersprüche um ihn herum und in ihm drin. Mit weicher Pinselführung und verwischten Grau- und Pastelltönen in der Malerei, mit fein austarierten Schraffuren und viel Helldunkeleffekten in der Grafik wurde er zum Künstler des Unheimlichen, Ungewissen, Unbewussten und Unfertigen. Ein Anti-Ideologe, der keine Marschrichtung vorgibt. Aber einer, der es auch nicht zulässt, dass man die Augen verschliesst vor nahenden Katastrophen und sich von Ängsten vereinnahmen lässt, anstatt sie zu ergründen.
Goyas heute bekanntestes Bild sahen zu seinen Lebzeiten nur wenige Zeitgenossinnen. Es gehört zur Serie von Aquatinta-Radierungen mit dem Titel «Los Caprichos», was so viel wie «die Launen» oder «die Einfälle» bedeutet. Der Titel des Blattes mit der Nummer 43 lautet: «El sueño de la razón produce monstruos». Übersetzen lässt sich das wahlweise als «Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer» oder «Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer».
In heller Schrift leuchtet der Satz auf der Seite eines Zeichentisches, auf dem ein Künstler, wohl Goya selbst, seinen Kopf abgelegt hat. Unbequem sieht das aus, wie immer, wenn man beim Arbeiten einnickt: die Beine gekreuzt, den Leib verrenkt, das Gesicht vergraben in den überkreuzten Armen, die als Kissen dienen. Er sieht uns Betrachterinnen nicht, wir ihn schon. Vor allem sehen wir, was ihn plagt, und es sieht uns: eine Meute Monster. Eine schwarze Katze hinter seinem Rücken starrt uns aus bösen, hellen Augen an. Eulenartige Vögel, riesige Fledermäuse und andere Flügelwesen flattern durch den Bildraum und auf den Mann zu. Ein Luchs, selbst erschrocken, beobachtet das Geschehen mit aufgerissenen Augen.
Vielleicht ist es, ganz im Sinne der Aufklärung, allgemein gesprochen «der Schlaf der Vernunft», also mangelnde Ratio, die den Menschen hier in Gefahr bringt. Vielleicht träumt der Künstler aber auch, und das ruft seine inneren Dämonen auf den Plan, die er dann in der Kunst bannt – Papier und Stift liegen auf dem Tisch schon bereit.
Nicht unwahrscheinlich, dass Goya es auf genau diese Doppeldeutigkeit abgesehen hat. Weil er einerseits mit den Fortschrittsgedanken der Aufklärer sympathisierte. Andererseits aber wusste, dass es zwischen Himmel und Erden mehr gibt als nur die Verstandestugenden. Weswegen es fatal sein kann, reine Vernunft einzufordern, anstatt die Existenz der Triebe, Ängste und Aggressionen anzuerkennen und sich ihnen zu stellen. «Der Künstler heilt, indem er bewusst macht», nannte das der Hamburger Goya-Kenner und Museumsmann Werner Hofmann einmal.
Die «Caprichos» sind eine unzusammenhängende Bildfolge von 80 Blättern, denen nur gemein ist, wie wenig angenehm sie sind. Ein unglückliches Ehepaar ist unentrinnbar aneinandergefesselt; ein halb nackter Verurteilter wird öffentlich vorgeführt; zwei ausgebeutete Bauern tragen einen Esel auf dem Rücken, anstatt anders herum, und brechen unter der Last beinahe zusammen. Schaut hin, wie die Verhältnisse wirklich sind.
Am 6. Februar 1799 erschien in der Zeitung «Diario de Madrid» eine Anzeige, die den Verkauf der mal sarkastischen, mal tieftraurigen und erschreckenden Radierungen bewarb, «erhältlich in der Calle del Desengaño (der Strasse der Enttäuschung) No. 1, im Parfüm- und Likörladen zum Preis von 320 Reales pro Serie». Die Nachahmung der Natur sei schon schwierig genug, heisst es im Werbetext, an dem Goya beteiligt gewesen sein dürfte. Umso mehr verdiene derjenige Achtung, der Formen und Gebärden vorführe, «die bisher nur im menschlichen Geist existierten, welcher verdunkelt und verwirrt ist».
Verdunkelte und verwirrte Geister? Dafür fühlte die Heilige Inquisition sich zuständig. Jemand muss Goya umgehend einen Wink gegeben haben, dass er mit solchen Bildern schnell selbst zu einer der armseligen Figuren werden könnte, die mit kegelförmigem Schandhut durch die Strassen zum Scheiterhaufen getrieben werden oder gefesselt und gefoltert am Boden liegen. Nur wenige Tage nach der Zeitungsanzeige nahm der Künstler «Los Caprichos» vom Markt.
Heute sind diese Radierungen ausserhalb Spaniens Goyas beliebteste Arbeiten. In Westeuropa interessierte man sich im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert dabei weniger für Goyas Probleme mit der Inquisition oder seine Sozialkritik, hier suchte man den Seelenkünstler, dem nichts Menschliches fremd ist. Dabei geriet manchmal in Vergessenheit, dass Goya kein Privatier war, der daheim in Kleinformaten seine Psyche ergründete. Goya war über weite Strecken seiner Karriere der umworbene Hofmaler des Königshauses.
Diese Leerstelle könnte sich mit der Ausstellung in Riehen nun füllen. Hier ist Goya auch der Porträtist des Hochadels, der Intellektuellen und der Monarchen, ein Farbvirtuose mit flirrenden Wischtechniken. Er ist auch der Stillleben-Maler toter, unglücklich blickender Goldbrassen.
Und Goya ist der Beobachter von Alltagsszenen wie dem Spiel junger Damen mit einer lebensgrossen Strohpuppe, die sie mit einem Tuch in die Luft werfen – was am Karnevalssonntag in Madrid Brauch war, hier aber etwas bedrohlich Manipulatives bekommt.
Das Kuratorinnenteam um Martin Schwander fokussiert sich nicht auf eine These, sondern es bietet eine breite Auswahl an Arbeiten an, nach der Besucherinnen selbst entscheiden können, wie er denn nun war und was er ihnen sagt, ihr persönlicher Goya.
Sein Werk war schon immer vielseitig interpretierbar. In der Moderne entdeckte jede Generation ihn neu. Die Impressionisten und ihre Fürsprecher im späten 19. Jahrhundert liessen sich vom lockeren Pinselschwung des Malers und von seinen unkonventionellen Alltagsgestalten inspirieren. Die Surrealisten bewunderten nach dem Ersten Weltkrieg das Traumtänzerische und zugleich Alptraumhafte seiner Druckgrafik. Und Pablo Picasso – die Fondation Beyeler gesellt der Ausstellung einige seiner Arbeiten im Vorraum bei – nahm sich im Spanischen Bürgerkrieg den Landsmann als politischen Künstler zum Vorbild; auch als zwischenzeitlicher Vertreter des Madrider Prado-Museums konkurrierte Picasso 1937 mit dem Sammler Oskar Reinhart aus Winterthur um den Ankauf einiger Werke.
Wie hielt es Goya nun mit den Mächtigen seiner Zeit? Dazu lässt sich in der Ausstellung einiges entdecken, auch wenn die Kuratorinnen das selbst kaum thematisieren.
Goya war kein Kind der Elite, sein Vater war Vergolder in Aragonien im Nordosten Spaniens, die Mutter eine verarmte Landadelige. Der Aufstieg gelang Francisco de Goya nach seiner Lehre bei einem Barockmaler alter Schule in Saragossa erst, als er auf einer Madrid-Reise den Hofmaler Francisco Bayeu kennenlernte, ihm und dem Klassizisten Mengs zuarbeitete und 1773 Bayeus Schwester Josefa heiratete. Bis Goya selbst zum Pintor del Rey, Maler des Königs, befördert wurde, vergingen Jahre, was auch damit zu tun hatte, dass er einen eigenwilligen, farbintensiven und emotional aufgeladenen Stil pflegte und sich nicht an der Nüchternheit der in seiner Zeit erfolgreicheren Maler orientierte.
Lieber lernte er von Diego Velázquez. Der grosse spanische Hofkünstler des Barocks war seit über einem Jahrhundert tot; Goya aber folgte ihm wie einem Leitstern. Wie Velázquez seine Figuren mit wenigen Pinselstrichen aus der Dunkelheit herausschälte, wie er einen Wasserverkäufer würdigte oder eine Dienstmagd. Wie er die Herrscher Spaniens als normale Menschen zeigte und ihre Hofnarren als ihnen ebenbürtig, wenn nicht an Lebensweisheit überlegen. Und wie er auch seine eigene Position als Maler der Granden immer wieder reflektierte – das alles muss Goya beeindruckt haben.
Ein Gemälde, das er gut kannte, war Velázquez’ Spätwerk «Las meninas». Der Maler zeigt sich selbst im Königspalast beim Malen der fünfjährigen Prinzessin und ihrer Hoffräulein und Dienerinnen. Darunter ist eine kleinwüchsige Frau, die genauso aufmerksam aus dem Bild herausschaut wie die Infantin. Und wie Velázquez selbst. Der Künstler arbeitet für hohe Herren, aber er verbündet sich mit den Mädchen und kleinen Damen.
Die Sommermonate der Jahre 1783 und 1784 verbrachte Goya auf dem Land in der Residenz von Don Luis, dem jüngeren Bruder des amtierenden Königs Karl III. Der Monarch verdächtigte Luis, König werden zu wollen. Also hatte er dafür gesorgt, dass die Ehe des Bruders mit der Tochter eines Leutnants, Doña María Teresa de Vallabriga, für nicht standesgemäss erklärt wurde und er von der Erbfolge ausgeschlossen blieb, was Karls Sohn, dem späteren Karl IV., den Thron sicherte. Am Madrider Hof hatte Doña María Teresa Hausverbot. Ihr Familienbild konnte Goya also nur ausserhalb der Stadt malen.
Das tat er auch. Das Ergebnis ist wandfüllend, hängt heute eigentlich in Parma, jetzt aber in der Fondation Beyeler. In der Mitte sitzt eine hell ausgeleuchtete Doña María Teresa in einem weissen Umhang, wie sie Friseure ihren Kundinnen anlegen. Ihr dünnes langes Haar fällt ihr offen über die Schulter, ihr Coiffeur macht sich daran zu schaffen. So etwas war ein halböffentlicher Vorgang, seit der 1715 gestorbene französische König Ludwig XIV. aus seiner Morgentoilette ein Staatsritual gemacht hatte, lever du roi genannt. Auserwählte durften und mussten teilnehmen, wenn Herrschende angekleidet, gepudert und frisiert wurden, und wer dabei wo stehen durfte, war eine Frage der Gunst. Auch Doña María Teresa umringen auf Goyas Bild stehende Dienerinnen und Freunde.
Die bei Hofe nicht geduldete Leutnantstochter macht mit diesem Gemälde klar, dass sie sich sehr wohl majestätisch zu verhalten weiss. Sie zwingt sich, entsprechend ernst und wachsam aus dem Bild herauszuschauen. Neben ihr legt ihr Gatte, im strengen Profil zu sehen, im Kerzenschein Karten. Hinter ihm ahmt sein Sohn seine starre Miene nach; der Junge übt sich so auch in einem staatsmännischen Auftreten, das er nie brauchen wird. Nur die kleine Tochter des Paars macht sich nichts aus der Etikette und den gekränkten Ambitionen der Eltern. Sie wendet sich freudig dem Maler zu, der sich am linken Rand anschickt, das Geschehen in seinem Sinn auf der Leinwand festzuhalten.
Goya gelingt es, den repräsentativen Wünschen seiner Auftraggeber zu entsprechen, und gleichzeitig hat das Ganze etwas Lächerliches. Nicht weil Doña María Teresa nicht blaublütig genug gewesen wäre für so ein grosses Gemälde, sondern weil das Ritual des lever fünf, sechs Jahre vor der Französischen Revolution wie eine hohle, überkommene Geste wirken musste. Eine Geste, die Goya zugleich zur Schau stellte und aufbrach, indem er nach Vorbild der «Meninas» die Gelegenheit nutzte, Dienerinnen und Höflinge fröhlich zu mischen, als käme es auf Standesunterschiede nicht an. Jede und jeder erscheint als eigener Charakter auf Goyas Bühne. Und wie Velázquez, so begibt auch sein Nachfolger sich auf Augenhöhe mit einem wachen kleinen Mädchen, das sich durch die Zwänge ihres Standes die Lebenslust noch nicht hat nehmen lassen. Nur dass das Ganze bei Goya beissender und – möglicherweise unbeabsichtigt – böser wirkt als bei dem älteren Barockmaler.
Francisco de Goya war ein selbstbewusster Künstler, im wörtlichen Sinne: Ständig muss er überlegt haben, wie es ihm mit seinem Leben gerade ging; das spiegelt sich in den Werken. Er dachte gar nicht daran, seinen eigenen Gefühlshaushalt herunterzuregulieren in seiner Kunst, um besonders vernunftbetont zu erscheinen. Im Gegenteil diente ihm sein Innenleben als Kraftquelle; als etwas, das es kennenzulernen galt, um dann auch das Gebaren anderer Menschen besser verstehen und darstellen zu können.
Rund 40 Selbstporträts schuf er insgesamt. Es ist nie ein Held, auch kein selbstverliebter Macher, dem man in diesen Selbstbildern begegnet. Goya zeigt seine Wunden. Im Jahr 1820, er war schwer krank, fällt er auf einem Gemälde in die Arme seines Arztes, Doktor Arrieta.
Arrieta beugt sich von hinten über Goya und reicht ihm fürsorglich einen Trank. Die anrührende Körperhaltung der beiden erinnert so stark an christliche Kompositionen wie die Pietà, Maria mit dem toten Jesus, dass man meint, Goya liege im Sterben. Und der Arzt sei ein verkappter Geistlicher, der gleich zur letzten Ölung schreite. Hilfe aber kommt bei Goya nicht aus der Religion, nicht von einem Priester, sondern von einem Freund und Naturkundler wie Arrieta. Von jemandem, der einen auch in heiklen physischen und psychischen Lagen stützt und erträgt.
Und auf Entgegenkommen war er angewiesen. Schon in seinen späten Vierzigern litt Goya an einer unbekannten Krankheit, was letztlich zur Taubheit führte. Seine Mitmenschen konnten ihn nun zwar noch hören, er sie aber nicht mehr. Zum Glück war einige Jahre zuvor in Paris die erste erfolgreiche Gebärdensprache entwickelt worden, auch Goya behalf sich mit den Handzeichen – was ihm als Künstler, der Gesten zu studieren gewohnt war, nicht fernlag.
Aus Freundschaftsbildern wie dem mit Doktor Arrieta – das zu den wenigen tröstenden Werken des Künstlers zählt – spricht auch der Wunsch, den Intrigen der besseren Gesellschaft doch noch zu entkommen. Goya war gegen sie nicht gefeit, gerade weil er sich berühren liess im Leben und in der Kunst. Mit Haut und Herz lieferte er sich einmal einer Auftraggeberin aus: der Herzogin von Alba, María Teresa Cayetana de Silva. Und bereute das bitterlich.
Die Herzogin galt als erste Dame des Staates nach der Königin María Luisa de Parma, der Gattin von Karl IV. Wobei sich die Herzogin, die auf ruhmreiche Vorfahren zurückblicken konnte, der aus Italien stammenden Monarchin überlegen fühlte, obwohl diese als talentierte Politikerin galt. Diese Rivalität mag ein Grund gewesen sein, warum die Herzogin auch ein Ganzfigurenbildnis des königlichen Hofmalers besitzen wollte. Was Goya auch anfertigte, und nicht nur das: Einem Jugendfreund berichtete der Maler, die Herzogin habe sich von ihm schminken lassen: «… übrigens gefällt mir das besser, als auf Leinwand zu malen.» Das Porträt, das er dann schuf, zeigt sie als moderne, tatsächlich maskenhaft geschminkte Herrin mit wallender schwarzer Mähne und eng tailliertem, locker fallendem Kleid. Sie steht vor weiten Liegenschaften und deutet auf die Signatur des Künstlers im Sand. Nur einen Schritt von ihr in diese Richtung, und Goyas Name wäre zertreten und vom Wind verweht.
Das Bewusstsein für die Fragilität und das Ungleichgewicht in diesem Verhältnis hinderte den Künstler nicht, nach dem Tod des Herzogs von Alba noch mehr Zeit mit dessen Witwe in ihrer Sommerresidenz zu verbringen. Dort skizzierte er eine Schwarzgelockte, die ihre Haare schüttelt oder herausfordernd ihren Rock hebt, um ihren Hintern vorzuführen. Für einen Moment scheint es, als seien die Standesgrenzen aufgehoben, als könne das Leben ohne Rücksicht auf Ränge lustvoll und leicht sein. Dann aber beendete die Herzogin das Spiel; vielleicht aus Interesse an Manuel de Godoy, dem Geliebten der Königin – die zwei lenkten seit längerem gemeinsam den Staat, während Karl IV. sich in politischen Fragen zurückhielt.
Goya, traumatisiert, reagierte tief verletzt. In «Los Caprichos» zeigt Blatt Nummer 19 – leider nicht in der Schau – die Alba als stolzes Flugwesen, das den Verehrer Goya hinter sich lässt, um einem neuen Mann entgegenzuflattern. Ihre Kumpaninnen zu Boden, zwei Prostituierte und eine Kupplerin, rupfen ein geflügeltes Menschenmännchen und spiessen es von hinten auf. Die Gedanken- und Gefühlswelten von Goyas Zeitgenossen Marquis de Sade liegen hier nicht fern.
Oft wurde die Herzogin von Alba als eine aus Prinzip männervernichtende femme fatale beschrieben; das aber ist eine moderne Fantasie. Frauen hielten in der Ständeordnung qua Herkunft öfter Machtpositionen inne als später in der bürgerlichen Gesellschaft; zudem galt im späten 18. Jahrhundert in diesen Kreisen das alte Tugendideal mehr in der Theorie als in der Praxis. Albas Umgang mit Goya erzählt eher vom emotionalen Missbrauch einer Auftraggeberin. Sie traf im Maler auf einen Untergebenen, der im Gegensatz zu anderen in solch einer unglücklichen Lage die ästhetischen Ausdrucksmittel besass, seine Sicht zu Papier zu bringen. Selbst den abgründigen Schmerz des Ausgeliefertseins verstand dieser Künstler produktiv zu wenden.
Auf die Frauen seiner Zeit hat Goya einen differenzierten Blick. Die Schau präsentiert energische Herrinnen wie die Herzogin, die Königin oder einmal sogar eine malende Marquesa. Andere Frauen werden Opfer männlicher Gewalt wie auf einem kleinen Ölbild die schemenhafte junge Frau, die ein Bandit beraubt und ermordet. Und dann sind da die majas, die Hübschen, junge Damen aus dem Volk, die sich Raum zu nehmen wissen. Goya lässt sie von halb vergitterten Balkonen hinabschauen. So bleiben sie zugleich draussen und drinnen, führen ihre goldbetupften Kleider vor, lästern über uns Betrachter und Betrachterinnen.
Goyas berühmteste maja ist die blasse junge Frau, die sich herausfordernden Blickes nackt auf einer Art Diwan räkelt; eine Provokation schon deshalb, weil sie mit ihrem angedeuteten Schamhaar und ihrer leicht spöttischen Mimik ein individueller Mensch und keine Göttin ist. Gesteigert wird dieser Effekt durch die zweite, in Riehen jetzt präsentierte Fassung Goyas, die dieselbe dunkel gelockte Frau spärlich bekleidet zeigt: Wer beide Bilder kennt, dem muss die Nackte nicht nur nackt, sondern frisch ausgezogen vorkommen.
Besitzer der zwei Gemälde war Manuel de Godoy, der Mann, um den die Königin und die Herzogin von Alba offenbar konkurrierten. Er versteckte die Werke in einem geheimen Kabinett, da die Inquisition Aktbilder unter Strafe gestellt hatte. Dort hing, verkauft von Alba, auch die Venus des Velázquez, ein Rückenakt, den Goya an Direktheit ganz offensichtlich noch übertreffen wollte. Er hatte seine Geliebte, die Alba, womöglich an de Godoy verloren; das aber hielt ihn nicht davon ab, ein erotisches Experiment in Kunst zu überführen und so auch seinem Gegenspieler in der Liebe die Richtung zu weisen. Ob die liegende maja nun be- oder entkleidet ist, anbiedern an die Macht wird diese Frau sich nicht. Schliesslich ist sie ein Geschöpf Goyas, und der tat auch, was er wollte. Später musste er sich für das Aktbild bei der Inquisition erklären, verurteilt wurde er nicht.
1807 zogen Napoleons Truppen in Spanien ein. Ein französischer General liess gegen Napoleons Befehl Madrid besetzen, plündern und brandschatzen. Karl IV. und seine Frau flohen nach Frankreich. Zurück blieben um ihre Pfründe fürchtende Aristokratinnen, fundamentalistische Kleriker und eine aufgewühlte Bevölkerung, die gemeinsam den Aufstand probten. In den Wirren der kommenden Kriegsjahre kam es zu blutigen Massakern auf allen Seiten und in Madrid zu einer grausamen Hungersnot. Zehntausende Menschen starben an Unterernährung, noch mehr starben im Kampf. Goya erfasste den Schrecken, ohne politisch Partei zu ergreifen. Offenbar ging es ihm generell um die Sinnlosigkeit von roher Gewalt und Kriegsverbrechen. Er malte, wie Franzosen Aufständische erschossen, und zeigte die Todesangst in deren Augen im Moment vor der Hinrichtung. Und er dokumentierte in düsteren, zu Lebzeiten unveröffentlichten Grafiken, zu welchen monströsen Gräueltaten alle Beteiligten im Krieg fähig waren.
Am Ende sind es seine Zeiterfahrungen, die Francisco de Goyas Werk so zeitlos machen. Er ist ein politischer Künstler, weil er ein menschlicher Künstler ist. Er weiss, dass der Einzelne vielleicht den Gang der Dinge allein nicht immer ändern kann, aber sehr wohl für sein Menschlichbleiben verantwortlich ist. Und dazu gehört, sich die Welt nicht schöner zu malen, als sie ist. Hinschauen, aushalten, Mitgefühl bewahren und einen Ausdruck finden für das, was ist, das schlägt der Künstler vor.
Noch heute ist es nicht einfach, nicht einmal an einem sonnigen Herbsttag in Riehen, sich darauf einzulassen. Wäre Goya ein Mann des 21. Jahrhunderts, man würde ihm vorwerfen, einen Voyeurismus des Schreckens zu bedienen. Manche würden fordern, der Maler müsse Rücksicht auf das Publikum nehmen und dürfe deren mögliche eigene Leiderfahrungen nicht durch den Anblick von Grausamkeiten triggern. Man würde ihm auch eine klarere Parteinahme abverlangen, für oder gegen einzelne seiner Figuren. Die einen sähen die sogenannten Abergläubigen diffamiert, die doch unabhängig vom wissenschaftlichen Erkenntnisstand ein Recht hätten auf ihre Meinung. Andere würden sich angenehme Zukunftsvisionen wünschen statt so viel Einfühlung in Repräsentanten eines alten Systems sowie in gegenwärtiges Elend.
Es lohnt sich, für einen Nachmittag in der Fondation Beyeler solche Überlegungen hinter sich zu lassen. Goya bildet nicht die äussere Welt eins zu eins ab; er findet neue Formen für das Gesehene, Gefühlte, Gedachte, das seine Wahrheit ist. Dazu gehört für ihn, aus Gründen der Vernunft um die Unvernunft zu wissen und Affekte zu verstehen und zu deuten, auch die starken und negativen. Nur so, das zeigt Francisco de Goya, lässt sich in Zeiten der Ungewissheit und des Übergangs mit allzu berechtigter Angst leben.
Kia Vahland ist Kunsthistorikerin, Meinungsredaktorin der «Süddeutschen Zeitung» und Sachbuchautorin in München. Gerade erschien von ihr das Buch «Schattenkünstler. Von Caravaggio bis Velázquez» (Insel-Bücherei, Berlin 2021).