Blick in die Schweizer Seele
Vincent O. Carters «Bernbuch» ist eines der eigenwilligsten Zeugnisse zum Thema Alltagsrassismus – und mit Sicherheit das ungewöhnlichste Buch über Bern und die Schweiz. 50 Jahre nach der Originalausgabe ist es jetzt auf Deutsch zu lesen.
Von Daniel Graf, 25.10.2021
Es war das Jahr 1953, als Vincent O. Carter in Bern eintraf. Am Bahnhof, so wird er später in seinem Buch schreiben, «wimmelte es von Menschen», und sie alle schienen ihn anzustarren. «Was gaffen sie denn so?», fragt er sich und tastet nach dem Hosenschlitz, um sicherzugehen, dass er «nicht vergessen hatte, ihn zu schliessen». Ob die Blicke seinen «Mantel durchdringen»?
Es werden in den kommenden Jahren noch viele dieser Blicke folgen.
Ich war der einzige amerikanische Schwarze in einer Stadt von hunderttausend Einwohnern. Hin und wieder kamen ein paar schwarze Afrikaner oder Amerikaner auf der Durchreise vorbei, aber nach ein, zwei Tagen oder ein, zwei Monaten waren sie gewöhnlich wieder weg. Wenn ich das Mövenpick betrat, fielen den Leuten Messer und Gabeln aus der Hand, sie verdrehten die Köpfe, sassen mit offenen Mündern da, Babys kreischten hysterisch los und Frauen riefen: «Gott steh uns bei!» Die ganz Mutigen hielten ihre Babys hoch, damit sie sich den schwarzen Mann ansehen konnten. Auf den Strassen kam es fast zu Auffahrunfällen, weil die Fahrer damit beschäftigt waren, mich anzugaffen.
Vier Jahre nach seiner Ankunft in der Bundesstadt hat Vincent O. Carter sein «Bern Book», in dem diese Sätze stehen, fertiggestellt. Sechzehn Jahre lang wird es da noch dauern, bis es 1973 in den USA, seinem Herkunftsland, herauskommt. Seither ist ein weiteres halbes Jahrhundert vergangen, bis dieses unkonventionellste aller Bern-Bücher nun auf Deutsch zu lesen ist: Diese Woche erscheint es unter dem Titel «Meine weisse Stadt und ich».
Das «Bernbuch», wie es im deutschen Untertitel immer noch originalgetreu heisst, ist der Textsorte nach so vieles auf einmal, dass man mit literarischen Gattungsbezeichnungen schnell in Verlegenheit kommt.
Ein Erfahrungsbericht über Alltagsrassismus.
Ein Zeugnis über die Schweiz der 1950er-Jahre.
Ein literarisch ambitioniertes Reisebuch quer durch Bern.
Ein verspielter Künstlerroman, mit dem Carter seinen Weg zur Schriftstellerei beschreibt.
Ein Memoir, das man heute vielleicht als eine experimentellere Variante der «Autofiktion» bezeichnete – oder aber das man so lange zurechtlektorieren würde, wie es auch damaligen amerikanischen Verlegern lieber gewesen wäre. (Die Absagen-Liste für Carter-Manuskripte ist lang, das lässt sich eindrucksvoll in einem 1970 erschienenen und bis heute instruktiven Artikel des amerikanischen Journalisten und Sachbuchautors Herbert R. Lottman nachlesen. Dieser Artikel bildet später dann auch das Vorwort zum «Bern Book»).
Wie der Schriftsteller Martin Bieri in seinem kundigen Nachwort ausführt, erinnern sich zwar heute noch manche Berner an Carter als den «ersten Schwarzen» der Stadt, doch ist das eine Mystifizierung. Denn natürlich lebten Botschaftsangestellte aus nahezu allen Ländern in der Stadt, und wie Carter in obigem Zitat verdeutlicht, kamen zumindest für kurze Zeit Besucherinnen von überallher nach Bern. Und schliesslich, auch das gehört zur Geschichte: Seit dem frühen 19. Jahrhundert und mindestens bis in die 1960er-Jahre hinein gab es zahlreiche sogenannte «Völkerschauen» in der Schweiz, kolonialrassistisch-exotisierende Zurschaustellungen von Menschen also, wie sie in Bern etwa im «Bierhübeli» stattfanden.
Es trifft die Sache folglich eher zu sagen: Carter war womöglich der erste Schwarze, der sich langfristig in Bern niederliess, und er war für viele Berner die erste Person of Color, mit der sie ins Gespräch kamen. Was nicht verhinderte, dass sie zum Teil ganz genaue Vorstellungen davon hatten, was für Black Americans «typisch» sei.
Carters «Bern Book» ist unter anderem deshalb so interessant, weil der Autor den ethnografischen Blick, mit dem Europäerinnen über Jahrhunderte die Kulturen anderer Länder beschrieben, umkehrt. Carter erkundet das eigenartige «Völkchen» der Berner: vorurteilsfrei und mit echtem Interesse für Schweizer Alltagsrealitäten. Aber auch nicht zimperlich in seiner Kritik.
Fremder in der Stadt
Unter prekären Verhältnissen in Kansas City, Missouri, aufgewachsen, wurde Carter als 17-Jähriger zur Armee eingezogen. 1944 landete er mit den Alliierten in der Normandie – und kehrte wenige Jahre nach Kriegsende nach Europa zurück, um in Paris ein Leben als Schriftsteller zu beginnen. In der französischen Hauptstadt musste er allerdings feststellen, dass die einst bejubelten Befreier inzwischen nicht mehr ganz so euphorisch begrüsst wurden. Und so kam er, nach weiteren Stationen in Amsterdam und München, im Juni 1953 nach Bern, wenige Monate bevor James Baldwin seine Aufenthalte in Leukerbad zu dem Essay «Fremder im Dorf» verdichtete.
Persönlich begegnet sind sich Baldwin und Carter offenbar nie. Und so ähnlich ihrer beider Erfahrungen im Land waren, so unterschiedlich sind ihre Texte. Bei Baldwin ein knapper, konzis argumentierter persönlicher Essay. Bei Carter ein über 400 Seiten starkes, mäanderndes Prosawerk, in dem trotz aller Ernsthaftigkeit der Themen immer wieder ein schelmenromanartiger Schalk und eine mal dezente, mal angriffslustige Ironie den Ton bestimmen.
Als Carter in Bern eintrifft und ihn ein Hotelportier nach dem anderen mit der Bemerkung «leider ausgebucht» abweist, weckt das Erinnerungen an ähnliche Erfahrungen in Paris.
Doch sind dieses Mal nicht Rassismus und Vorwand im Spiel – die Stadt platzt tatsächlich aus allen Nähten. Bern, so erfährt er, rüstet sich gerade für ein Grossereignis: 600 Jahre Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft werden mit einem historischen Umzug gefeiert. Und so sieht Carter kurz nach seiner Ankunft zusammen mit 150’000 anderen Menschen «die Geschichte der Stadt Bern in Gestalt eines Festzugs» vor sich ablaufen «wie ein leuchtendes, vielfarbiges Band».
Zwei amerikanische Freunde, die in der Botschaft arbeiten und die er schon seit 1947 kennt, hatten ihm Zugang zu einem Balkon in der Gerechtigkeitsgasse verschafft. Von dort beobachten sie nun zusammen «das Spektakel, als wären wir Besucher in einem Museum»: Bauern in Berner Trachten, luxuriöse Kutschen «voller stolzer Bürger und vornehmer Damen mit wogenden Brüsten und blassen Armen voller Blumen», Zugpferde mit der «schwerfälligen Anmut von Elefanten», der Aufmarsch der Zünfte und Militärs. Alles ein bisschen so, «als wären wir von Kindern umgebene Ammen, die durch das Märchenbuch der Zeit auf unseren Knien blättern».
So märchenhaft allerdings bleibt es nicht.
Noch unzählige Male wird Carter auf die Frage stossen, warum er denn ausgerechnet nach Bern gekommen sei. Und dabei mithören: Du gehörst eigentlich nicht hierher. Noch unzählige Male wird er das N-Wort hören: in der ersten Silbe mit einem «e», wie er registriert und sich trotzdem zwangsläufig an die Version mit «i» erinnert, die er aus den USA nur zu gut kennt. Das führt zu heftigen emotionalen Reaktionen. Bis er sich, wie er schreibt, «mit der Zeit an das Wort» gewöhnt, «weil man es überall in Europa benutzt» und auch Freunde von ihm es ganz selbstverständlich verwenden.
Dann ist da der ältere Herr hinter ihm in der Warteschlange zum Bus, der ihm «abwesend, mit einem verwunderten Ausdruck» übers Haar streicht.
Die Frau, die sich mit ihm zum Tanzen verabredet, aber ablehnt, wenn er sie zu Hause abholen will. Und ihm eines Tages schreibt, sie liebe ihn, könne aber auf seine Avancen nicht eingehen: «Du kennst die Schweiz nicht, du weisst nicht, wie die Leute hier wirklich sind.»
Und da ist der Werbemanager einer grossen Supermarktkette, der ihn auf der Strasse anspricht, ihm voller Begeisterung einen Job anbietet: Es werde in Kürze eine neue Filiale eingeweiht, mit einem Tag der offenen Tür. Carter würde doch – der Manager formuliert es offenbar wirklich so – «dem Ganzen Farbe geben». Ja wirklich, er sei doch wie geschaffen für den Verkauf. Womit er offenbar die Obstabteilung meint, denn: «Wir haben eine riesige Nachfrage nach …» – und jetzt kann man raten, für welche Frucht sich der Marketingmanager Carter wohl besonders als Verkäufer wünscht. Und ja, das Wort fängt mit B an, und die Frucht ist gelb.
Solche eher grellen Szenen gibt es also auch im «Bernbuch», aber sie dominieren nicht die Erzählung. Weil Carter sich mehr für die subtileren Formen des Rassismus interessiert. Weil sein Buch auch Reflexionen über Kunst und das Schreiben beinhaltet. Und vor allem, weil Carter den Spiess umdreht: Ihr starrt mich die ganze Zeit an? Dann schaue ich zurück. Und kontere mit einem tiefen Blick in die Schweizer Seele.
Die Schweiz durch Carters Augen
Der «fast instinktive Konservatismus» auf dem Land, schreibt Carter, «manifestiert sich in der Stadt auf verschiedene Arten, die ebenso vielfältig sind wie ihre Funktionen».
Hat den Bernerinnen schon einmal jemand auf höflichere Weise gesagt, dass er an einen Stadt-Land-Graben in Sachen Konservatismus nicht so recht glauben will?
«Die wichtigsten Wörter des Schweizer Vokabulars», schreibt Carter, sind: «Versicherung» und «Kontrolle». Und er spöttelt: In Schweizer Haushalten seien auch Brote gegen Schimmel und Soufflés gegen «Zusammenfallen» versichert. Ganz sicher sei er sich nicht, aber vermutlich gebe es auch Versicherungen gegen Spülhände und durchgescheuerte Bettlaken; nur gegen das Wetter könne man sich offensichtlich nicht versichern.
Natürlich schrammt Carter oft haarscharf am Klischee vorbei. Wenn er konstatiert, statt einer Liebesheirat schliesse der Schweizer lieber eine Vernunftehe, weil «ein Leben ohne Sicherheit ein schreckliches Risiko ist». Wenn er anmerkt, es herrsche ein «erdrückend starker Widerstand gegen jede Art von ‹Radikalismus›», womit «in Wirklichkeit ‹neue Ideen› gemeint sind». Wenn er schreibt, dass mittwochs und samstags die Mülleimer geleert würden und mehr eigentlich auch nicht zu sagen sei.
Aber es ist schon frappant, wie klar Carter Mitte der Fünfzigerjahre etwa die Rollenverteilung der Geschlechter analysiert – und diese persiflierend wiedergibt:
Die Schweiz ist eine Männerwelt. Die Schweizerin spielt politisch keine Rolle.
Die Frau zählt nur im Haushalt. In der Politik hat sie nichts zu sagen und darf auch nicht abstimmen gehen.
Allgemein ist man der Meinung, dass Frauen an den heimischen Herd gehören. Sobald sie ihn verlässt und zum Beispiel in die Berufswelt eintritt, verstösst sie gegen das tief verwurzelte Konzept der Frau und bedroht die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung.
Im Grunde läuft Carters Befund darauf hinaus, dass die Schweiz eine puritanische Gesellschaft geblieben sei, in der Arbeit die wahre Religion ist.
Sein eigenes Selbstverständnis als Schriftsteller und Bohemien konnte ihn damit nur auf die Sünderbank führen: Er habe, schreibt Carter, offenkundig «eins der Zehn Gebote in der Schweiz» gebrochen: «Jeder muss arbeiten!» Worunter selbstverständlich nur das zu verstehen war, was «alle zwei Wochen oder monatlich bezahlt wurde, inklusive Lohnzuwachs und Rente mit fünfundsechzig».
Was das Puritanische in Sachen Lebenslust bedeute, hat Carter in eine seiner ironischen Sentenzen gefasst:
Es bedurfte keiner grossen Redekunst, um die Berner Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Welt nicht zum Geniessen, sondern zum Leiden bestimmt ist.
Alles ungerecht? Und langsam ein bisschen viel?
Niemand wüsste besser als Carter, wie problematisch Verallgemeinerungen sind.
In einer typischen Szene sieht man sein Bernbuch-Ich einmal auf der Kirchenfeldbrücke stehen und ins Wasser schauen. Im imaginierten Dialog mit all den Gesichtern, die sich da in der Aare spiegeln, erzählt er eine kurze Mentalitätsgeschichte des Schweizer Protestantismus. Und wechselt dann mitten in der Szene in die fetten Buchstaben einer Zwischenüberschrift:
«Diese Erklärung kann unmöglich auf alle Berner zutreffen!»
zischte ich den Gesichtern im Wasser zu. Sie schienen vor Schmerz zusammenzuzucken. Mit Schaum vor dem Mund entgegneten sie: Nein, das tut sie auch nicht.
Und wenig später, ohne formale Kapriolen, dafür mit Carter-Schalk:
Du, meine Schweiz – ich bitte um Entschuldigung, falls ich dich verletzt habe (…)
Allerdings: Wer würde einem Autor seine Frotzelsätze wirklich übelnehmen, wenn sie so elegant formuliert sind wie Carters Beobachtung, dass selbst die Hühner hierzulande an Misthaufen picken, «die so makellos aussehen wie das Gästebett einer Witwe».
Das Schalkhafte, Ironische und Gewitzte zieht sich durch das «Bernbuch». Doch gibt es auch die melancholischen, die suchend-grüblerischen, die ganz nach innen gerichteten Passagen. Und nicht zuletzt: hellsichtige Analysen zur Psychologie des Rassismus.
Die es gut meinen
Einen beträchtlichen Teil des Buches widmet Carter nicht etwa Begegnungen mit Fremden – sondern den Vorurteilen seiner Berner Freunde und Kolleginnen.
Für Radio Bern erarbeitet er schon bald nach seiner Ankunft Sendungen über Kansas City, das Leben in den USA und über Musik. Wenn er aber ein Thema vorschlägt, das die Kollegen «nicht mit Schwarzen assoziierten», wird der Vorschlag abgelehnt. Er solle doch «über Dinge berichten, die typisch für ihn und seine Leute sind». Womit die Kollegen 200 Jahre alte Spirituals meinen. Carter hätte lieber über die Opernsängerin Marian Anderson geschrieben.
Die Raster in den Köpfen der Kolleginnen registriert Carter sofort – und was das Problem daran ist. Dennoch wirkt ihre Denkweise zurück auf ihn und seine Arbeit. Weil er die Erwartungshaltung bereits antizipiert und bald frustriert über seine eigenen Sendungen sagen muss:
Sie vermittelten ein Bild des schwarzen Amerikaners, das nicht ganz zutreffend, aber, wie mir mit der Zeit bewusst wurde, im Grossen und Ganzen das Einzige war, das die Europäer haben. Das Bild unterdrückter, aber glücklicher, leidender, aber zutiefst religiöser Schwarzer, letzten Endes relativ primitiver, einfältiger Kreaturen.
Selbst Vertrauenspersonen belehren ihn gerne über den «natürlichen Ausdruck» der traditionellen schwarzen Musik, die «den tiefsten Empfindungen der Schwarzen, der primitiven Einfachheit und der rhythmischen Intensität Afrikas näher» sei, als wenn sich schwarze Sängerinnen durch eine Konservatoriumsausbildung von ihrer «Ursprünglichkeit» entfernten. Carter kontert sarkastisch: Da er «der erste schwarze Amerikaner war, den die meisten von ihnen je gesehen, geschweige denn gesprochen hatten», überrasche es ihn, «dass sie über die ‹tiefsten Empfindungen› von Schwarzen so genau Bescheid wussten».
Aus solchen Disputen, auch unter Freunden, gestaltet Carter teils ausgreifende Dialogsequenzen: Rededuelle, als würden Settembrini und Naphta aus dem «Zauberberg» aufeinandertreffen.
Was Carters Schilderungen aber besonders auszeichnet, ist sein Sensorium für psychologische Dynamiken. Der Autor benennt nicht nur klar, wie er durch den Rassismus, mit dem er von klein auf konfrontiert war, zutiefst internalisiert habe, sich hässlich, minderwertig und weniger intelligent zu fühlen. Er beschreibt auch die déformation, die selbst dann eintreten kann, wenn sich einer selbstbewusst gegen verbale Ausweisungen zur Wehr setzt.
«Was, du bist noch immer in Bern?», fragt ihn ein loser Bekannter und schliesst an: «Aber wieso bist du überhaupt nach Bern gekommen?» Je nach Deutung und Kontext ist das eine ernsthaft interessierte oder eine ausgrenzende Frage. In Carters Szene entspinnt sich aus ihr ein Dialog, in dem kleine Verbalaggressionen sich rasant steigern. Bis der Ich-Erzähler endgültig zum Gegenangriff übergeht: Er habe gehört, die Schweiz sei «eins der primitivsten Länder Europas», «mit dem niedrigstmöglichen Grad an Kultur und unglaublich dekadent».
Dann der entscheidende Twist:
Ich grinste in mich hinein, während er auf seinem Sitz herumzappelte. Ich mochte ihn nicht, allerdings nicht, weil er so war, wie er war, sondern, weil er sich selbst nicht mochte und mich zwang, die Kleinlichkeit meines Charakters zu offenbaren, die mich dazu brachte, derart hässliche Dinge zu sagen. Aber ich durfte keinesfalls zulassen, dass er mich kampflos besiegte.
Was Carter mit dieser kurzen Passage einfängt: Zur Perfidie des Rassismus gehört es auch, dass der Betroffene, der sich wehrt, dazu verleitet werden kann, hinter eigene ethische Massstäbe zurückzufallen. Der Ausgang dieser Szene ist nicht, dass ein Angriff erfolgreich pariert worden wäre. Sondern dass sich zu allem Überfluss ein Gefühl von Schuld und Versagen im Ich-Erzähler breitmacht, wenn ihm für einmal nicht die souveräne Selbstdistanz gelingt, die an den Tag zu legen nicht nur er selbst von sich erwartet – ungeachtet aller Zumutungen.
Eine zweite Ankunft
«A Record of a Voyage of the Mind» heisst das «Bern Book» im englischen Untertitel. Es geht also um eine Reise im Kopf und wohl auch um eine Suchbewegung der Gedanken. Carters Text ist im Grunde eine Bricolage aus vielen einzelnen Texten: Anekdoten, Parabeln, kleine Essays, inklusive Abschweifungen und Redundanzen. Und da Carter immer auch ein bisschen über Gott und die Welt schreibt, und das stellenweise recht unbedarft, redet er sich bei einzelnen Themen auch um Kopf und Kragen – etwa wenn er über Homosexualität räsoniert, erkennbar empathisch und solidarisch sein möchte und trotzdem den Vorurteilen seiner Zeit verhaftet bleibt.
Als das «Bernbuch» Anfang der 1970er-Jahre in den USA erscheint, hallt im Land die Hochphase der Bürgerrechtsbewegung nach. Die Literatur, gerade auch die von schwarzen Autoren, war weitgehend auf das politisch-engagierte Genre festgelegt. Carters betont subjektive Erzählweise passte in keine literaturbetriebliche Schublade der Zeit. Sein sonstiges literarisches Werk blieb zu Lebzeiten unveröffentlicht – trotz der vehementen Fürsprache von Branchenkennern wie Herbert R. Lottman.
So wechselte Carter schliesslich das Feld, wandte sich der Malerei zu und nahm 1975 gemeinsam mit Grössen wie Meret Oppenheim und Erica Pedretti an der Ausstellung «Bildende Künstler als Dichter / Dichter als bildende Künstler» im Berner Kunstmuseum teil. Da war seine «spirituelle Wende» bereits im Gange. Zusammen mit seiner Partnerin Liselotte Haas widmete er sich in den Jahren vor seinem frühen Tod 1983 intensiv dem Yoga und der Meditation.
Als Schriftsteller ist Carter die Anerkennung letztlich verwehrt geblieben; als Berner hat er sie, trotz aller Widrigkeiten, gefunden.
Nach seinen Radiosendungen und einer Veröffentlichung in der Frauenzeitschrift «Annabelle» war er für die Menschen nicht länger «der N(…)», sondern der «Herr Carter»: «Endlich hatte ich einen Namen!» Die Kinder, die ihm kichernd und angstfasziniert hinterherrannten, «als wäre ich ein furchtbares Ungeheuer», nannten ihn irgendwann «Herr Gatin, was Carter so nahekam, wie es nur ging». Sein Geld verdient er als Englischlehrer. Am Ende wird er drei Jahrzehnte, sein halbes Leben, in Bern verbracht haben.
Das Fazit im «Bernbuch» fällt nüchtern aus. Und es steht, wie es sich für diesen Text gehört, nicht etwa am Schluss, sondern irgendwo mittendrin.
Mein Verstand wurde abgehärtet. Belanglosigkeiten verletzten mich nicht mehr so schnell. Ich gewöhnte mich an die Stadt, und die Stadt gewöhnte sich an mich.
Einen übergreifenden Abschlussgedanken formuliert das «Bernbuch» dennoch:
Der Mensch beginnt mit dem «Ich», dem «Einen». Er leidet, weil er denkt, alles, was nicht «Ich» ist, der «Eine», sei feindlich und daher eine Bedrohung für seine Existenz, gefährlich. Doch die Existenz des «Einen» setzt die Existenz von «Zweien» voraus, eines «Du», der nicht «Ich» bist. Wenn wir aber dieses Wesen untersuchen, das «Du» bist und nicht «Ich», stellen wir fest, dass es gar nicht so anders-als-ich ist, wie wir glaubten.
Das ist für diesen vielschichtigen Text dann schon beinahe zu versöhnlich. Aber es bringt die universalistische Haltung dieses aussergewöhnlichen Buches bestens auf den Punkt.
Vincent O. Carter: «Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch». Aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda. Mit einem Nachwort von Martin Bieri. Limmat-Verlag, Zürich 2021. 440 Seiten, ca. 34 Franken.