Der Brexit ist geschafft. Ein Schlamassel
Nicht dass jemand eine Ahnung gehabt hätte, was der Austritt Grossbritanniens aus der EU bedeuten wird. Um die Folgen, hiess es, würde man sich dann später kümmern. Also: jetzt.
Von Juliet Ferguson (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung) und Sany (Illustration), 19.10.2021
«Sorry, aber Pommes frites, Oliven und Brot haben wir nicht … und auch keine von den Vorspeisen», erklärte jüngst die Serviceangestellte eines geschäftigen Restaurants in der Londoner Innenstadt. «Wir bekommen keine Lieferungen.» Das mag ein Extrembeispiel sein, doch seit Restaurants von ausbleibenden Lieferungen und Personalmangel getroffen werden, erlebt man in London immer öfter, dass die Menüauswahl stark eingeschränkt ist.
Sie hätten gern einen kurzen Überblick über die jüngsten Entwicklungen nach dem Austritt Grossbritanniens aus der EU? Bitte schön:
Der Mangel an Lastwagenfahrern mag eine europaweite Erscheinung sein, aber Grossbritannien trifft er schlimmer als andere Länder, da es jetzt vom europäischen Arbeitsmarkt abgeschnitten ist. In den letzten Wochen kam es zu Panikkäufen an den Tankstellen – aus Angst, die fehlenden Fahrerinnen würden zum Versiegen der Zapfsäulen führen. Was dann auch prompt zum Versiegen der Zapfsäulen führte.
Auch das Hotel- und Gastronomiegewerbe tut sich aufgrund des Mangels an europäischen Arbeitskräften schwer mit der Rekrutierung des benötigten Personals. Manche Restaurants haben ein Schild im Fenster, laut dem Hilfskräfte gesucht werden. Der Service ist zuweilen langsamer als gewohnt, und die Tische werden nicht so flink abgeräumt wie sonst.
Und dann sind da die Schweine. Schlachthäusern fehlt es an ausgebildeten Schlachtern wie auch am Personal zur Weiterverarbeitung des Fleisches. Bereits wurden Hunderte Schweine gekeult, und der Verband der Schweinezüchter sieht als «einzig möglichen nächsten Schritt» eine Massenkeulung.
Die Landwirtinnen trifft das doppelt, haben sie doch schon Schwierigkeiten, die nötigen Saisonarbeiter für die Obst- und Gemüseernte zu bekommen. Die letztes Jahr lancierte und von Prinz Charles unterstützte Kampagne «Pick for Britain» (eine Anspielung auf «Dig for Britain» im letzten Weltkrieg) forderte die Briten auf, die Ärmel hochzukrempeln und bei der Ernte mitanzupacken. Aber selbst mit königlicher Unterstützung und dem Hinweis auf den Krieg betrug der Anteil britischer Hilfskräfte gerade mal 11 Prozent.
In diesem Jahr blieb die Kampagne aus.
Ein allmählicher Zerfall
Im Sommer sahen die Regale in den Supermärkten dann zum ersten Mal leer aus. Wer zum Beispiel Salat kaufen wollte, musste feststellen, dass es nichts Grünes gab. Und war man sich des Problems erst mal bewusst geworden, sah man es plötzlich überall, bemerkte etwa, wie kreativ die Regale mit vorrätiger Ware befüllt worden waren, damit der Laden nicht ganz so leer wirkt. Was überdies als Hinweis darauf zu deuten war, dass man nicht damit rechnete, die Lücken so schnell wieder mit der fehlenden Ware auffüllen zu können.
Dies geschah alles kurz nach dem 19. Juli, dem «Freedom Day», wie die Boulevardzeitungen ihn nannten, weil mit den Masken auch die meisten der coronabedingten Einschränkungen fielen. Doch nicht so in Schottland. Nicht so in Nordirland. Nicht so in Wales. Noch nicht einmal in London, wo in öffentlichen Transportmitteln nach wie vor Maskenpflicht herrscht.
Verschärft wurde diese vom Brexit geschaffene Spaltung des Königreichs, wie so viel anderes auch, durch die Pandemie. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass die drei Nationen sich von diversen der im Parlament in Westminster getroffenen Entscheidungen distanzieren. Insbesondere gilt das für Schottland und Nordirland, wo sich die Mehrheit der Bevölkerung für den Verbleib in der EU entschieden hatte, aber auch (das vielfach als Englands erste und letzte Kolonie bezeichnete) Wales entschloss sich zum Alleingang. Die schottische Unabhängigkeit ist wieder auf dem Tapet, und jetzt setzt der Brexit auch noch das Karfreitagsabkommen aufs Spiel, also den Frieden mit Irland.
Applaus allein reicht nicht
Schon vor dem Brexit waren die Arbeitsbedingungen der Lastwagenfahrer in Grossbritannien prekär. Dies zeigte auch eine Reportage von «Investigate Europe» von 2018, die den Transportsektor unter die Lupe nahm und den Schwerpunkt auf die Situation der Lastwagenfahrer legte. Schon der Titel – «Ausbeutung auf Rädern» – sagt viel über die Erkenntnisse der Reportage aus, doch selbst dieses Heer an Billigarbeitern hat Grossbritannien verloren.
Kaum jemand würde die aktuelle Situation ein erstrebenswertes Geschäftsmodell nennen, und mit Sicherheit ist das Problem nicht über Nacht zu lösen. Denn dazu muss es nicht nur Menschen geben, die diesen Job machen wollen, der Job selbst müsste auch attraktiver werden, und es müssten anständige Einrichtungen wie Duschen, Toiletten und Rastplätze geschaffen werden. Das braucht Zeit. Und Geld. Die Branche hatte zwar durchaus Zeit, sich auf den Brexit vorzubereiten, immerhin fand das Referendum 2016 statt. Aber worauf man sich vorbereiten sollte, war bis zuletzt schlicht nicht klar. Und mit einer Pandemie konnte ohnehin niemand rechnen.
Und dann ist da noch der staatliche Gesundheitsdienst NHS. Donnerstag für Donnerstag wurde dem NHS-Personal als Dank dafür applaudiert, dass es der Bevölkerung durch die Pandemie hilft. Auf der Treppe vor dem Regierungssitz an der Downing Street hat auch Premierminister Boris Johnson applaudiert, der selber auf der Intensivstation Covid um Haaresbreite entkommen war. Man möchte also meinen, dass er den Wert der Pflegeberufe versteht.
Doch wie genau sieht dieser Wert aus? In England und Wales gab es für das Personal des staatlichen Gesundheitsdienstes eine Gehaltserhöhung von 3 Prozent – und auch das nur nach heftigen Protesten gegen das eine Prozent, das ursprünglich geplant war. Eine Gehaltserhöhung, die ausgebildetes Pflegepersonal aller Wahrscheinlichkeit nach in andere, «weniger stressige und besser bezahlte Jobs» hätte abwandern lassen, wie es in einer Mitteilung von Unison hiess, der grössten Gewerkschaft des Vereinigten Königreichs. Es sieht so aus, als würde Premier Johnson sein Versprechen einer Wirtschaft mit hohen Einkommen nur dann halten, wenn jemand anderes dafür bezahlt.
Aktuell ist laut einem Bericht des «Guardian» auf einigen Pflegestationen eine von fünf Stellen unbesetzt. Dort, wo man nicht mehr auf einen Pool von europäischen Arbeitskräften zurückgreifen kann, drohen ernsthafte Auswirkungen auf die Versorgung der Patientinnen. Immerhin gibt es Bestrebungen, weiteres Pflegepersonal auszubilden.
Doch reicht das? Und sind sie erst einmal ausgebildet, kann der NHS sie auch behalten? Eine der Pflegefachfrauen, die sich auf der Intensivstation um Boris Johnson kümmerte, hat ihren Beruf mittlerweile an den Nagel gehängt. Wie die Neuseeländerin Jenny McGee der «Times» sagte, erhalte das Pflegepersonal «weder den Respekt noch die Bezahlung, die wir verdienen».
Ähnlich sieht es übrigens in den Pflegeheimen aus, einem weiteren Sektor, der personaltechnisch in hohem Masse vom Kontinent abhängig ist.
Kurzfristige Lösungen
Klar ist: Die ganze Geschichte ist ein einziges Schlamassel. Es hätte nicht so weit kommen müssen, war aber vorprogrammiert. Es war ein Referendum, das nicht hätte sein dürfen, und das man dann, als es dann doch so weit war, nie und nimmer hätte verlieren sollen. Und als es dann doch verloren war, versprach der Slogan «Get Brexit Done», alles zu richten, ohne dass jemand wirklich eine Ahnung gehabt hätte, wie der Brexit denn eigentlich aussehen sollte, wäre er erst einmal «done». Sobald der Artikel 50 des EU-Vertrags – der Austritt – in Kraft getreten war und die Uhr zu ticken begann, ging es nur noch darum, sich einen «Deal» zu sichern, um dessen Folgen man sich später kümmern würde. Mit anderen Worten: jetzt.
Wirtschaftsführerinnen, Gewerkschaften und Branchenverbände warnten vor potenziellen Problemen bei den Versorgungsketten, personalen Engpässen und einer Zunahme der Bürokratie. Ein eigens angelegter Parkplatz, auf dem Lastkraftwagen auf die Abfertigung warten können, hatte bald den bitter-ironischen Spitznamen «Farage Garage» zu Ehren des Kopfs der Brexit-Bewegung, ohne den das Ganze wohl kaum passiert wäre.
Nigel Farages einwanderungsfeindliche Haltung beeinflusste nicht nur die Art des Brexits, sie bescherte Grossbritannien auch ein Punktesystem, das jetzt so viele der Arbeitskräfte ausschliesst, ohne die im Land so gut wie gar nichts mehr geht. Nun liefert das Militär das Benzin aus, was wenigstens die Schlangen an den Zapfsäulen verschwinden liess. Jedenfalls fürs Erste.
Um wenigstens Weihnachten und Neujahr zu retten, gibt es jetzt Kurzzeit-Visa für LKW-Fahrer und Arbeiterinnen aus der Geflügelbranche.
Seit Bekanntgabe dieser Massnahme hat auch das Hotel- und Restaurantgewerbe um eine Verlängerung befristeter Visa in seiner Branche gebeten. Auf eine diesbezügliche Frage der BBC sagte die Regierung, man solle doch einfach die Arbeitsbedingungen verbessern und mehr bezahlen.
Wie geht es nun weiter?
Viele der Probleme, mit denen Grossbritannien heute konfrontiert ist – die zunehmende Ungleichheit, das niedrige Lohnniveau, die zunehmende Abhängigkeit von gemeinnützigen Einrichtungen wie etwa Essensausgaben –, sind struktureller Art und hausgemacht.
Die Europäische Union und insbesondere die Zuwanderung waren lange eine bequeme Ausrede, und während die EU alles andere als perfekt ist, hatte Grossbritannien doch immer einen Einfluss auf die Implementierung der in Brüssel beschlossenen Politik.
Und ja, selbstverständlich hat auch Covid eine Rolle gespielt und in einigen Fällen die Probleme verschärft, in anderen aber bloss ihr Sichtbarwerden hinausgezögert, sodass die Wurzeln des Übels nicht immer klar zu erkennen sind. Grossbritannien ist nicht das einzige Land mit einem Mangel an LKW-Fahrern – auch die EU hat da grosse, strukturelle Probleme –, aber nach einer einwanderungsfeindlichen Brexit-Kampagne jetzt Fahrer auf der Basis befristeter Visa zu gewinnen, dürfte nicht besonders leicht sein. Die CO2-Krise, die vor einigen Wochen die Getränkeindustrie und – da CO2 zum Kühlen und Verpacken von Lebensmitteln benötigt wird – auch die Supermärkte bedrohte, dürfte bald ein europaweites Problem werden. Es lässt sich nicht alles auf den Brexit schieben, aber es lässt sich auch nicht leugnen, dass in Grossbritannien gerade einiges schlimmer ist als anderswo.
Auf dem diesjährigen Parteitag der Konservativen sagte der Premierminister Anfang Oktober, der Wirtschaft dürfte «die Einwanderung nicht länger als Ausrede für ihren Mangel an Investitionswillen dienen». Er sprach vom Aufbau einer Wirtschaft mit hohem Lohnniveau und hoch qualifizierten Jobs. Das Adam Smith Institute, ein Thinktank für Marktwirtschaftler, bezeichnete Johnsons Rede als «pompös, aber nichtssagend und von ökonomischen Kenntnissen unbeleckt» und merkte an, er scheue sich «vor der Planung irgendeiner Art von sinnvoller Reform».
Wie allgemein bekannt, bemerkte Boris Johnson einmal hinsichtlich der Beziehung zur EU nach einem Brexit, er wolle den Fünfer und das Weggli haben. Was sich mittlerweile als der Irrtum erwiesen hat, der es von Anfang an war. Dennoch erfüllte seine Formel die Brexit-Debatte mit ungezügeltem Optimismus, und die Presse schrieb pflichtbewusst, «die brauchen uns mehr als wir sie». Dann stehe das «wackere England» eben wieder mal allein da, womit auch die obligate Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg nicht fehlte.
Jeder Hinweis auf den möglichen Austritt einer weiteren Nation aus der EU stösst in Grossbritannien auf freudige Häme – wie bei frischgebackenen Konvertiten, die andere rekrutieren müssen, um ihre eigene Entscheidung zu validieren. Im Augenblick hat ein Polexit seinen grossen Auftritt, aber Polen ist nur der letzte einer Reihe von Kandidaten, von denen die britischen Boulevardzeitungen hoffen, dass sie der EU den Rücken kehren.
In dem Augenblick, in dem der Brexit zum Selbstzweck wurde (man musste ihn einfach hinter sich bringen), verbot sich auch jede weitere Diskussion darüber, was das denn nun eigentlich bedeutete, und damit wiederum jede Planung für die Konsequenzen. Da der Brexit nur Gutes bringen konnte, galt alles andere als «Panikmache» schlechter Verliererinnen, die dem «Willen des Volkes» zu trotzen versuchten. Die so dringend benötigte Diskussion hätte die Mängel in der Argumentation der Austrittswilligen aufgezeigt und vielleicht zu einem weicheren Brexit geführt. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wäre man trotzdem zum Schluss gekommen, dass das, was jetzt geschieht, die beste Option ist – aber es wäre womöglich eine fundierte Entscheidung gewesen, auf deren Folgen das Land sich besser hätte vorbereiten können.
Alles, was dem Vereinigten Königreich jetzt bleibt ist, den Metrischen Märtyrern zu applaudieren, die wieder in Pfunden und Unzen wiegen dürfen (wenn es wieder etwas zu wiegen gibt); und natürlich darf man sich über die «ikonischen» blauen Pässe freuen, auch wenn sie nur für den Tausch der Bewegungsfreiheit gegen das Privileg längerer Grenzkontrollen stehen.
Ungezügelter Optimismus hat das Land dort hingebracht, wo es heute ist, und vieles von dem, wovor gewarnt wurde, trifft jetzt ein.
Und das ist nun mal das grösste Problem, wenn man die Zügel wieder selbst in der Hand hat – man kann nicht mehr länger anderen die Schuld geben.
In einer früheren Version haben wir im Zusammenhang mit coronabedingten Einschränkungen von Irland geschrieben – richtig ist Nordirland. Wir entschuldigen uns für den Fehler und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.
Juliet Ferguson ist Journalistin bei «Investigate Europe» und dem British Centre for Investigative Journalism, zudem ist sie Ausbilderin im Bereich Datenjournalismus. Juliet Ferguson lebt in London. Der Beitrag erschien am 13. Oktober unter dem Titel «Brexit’s done. It’s a mess» bei «Investigate Europe».