Der lärmigste Professor der Schweiz
Politökonom Reiner Eichenberger forderte vor einem Jahr eine gelenkte Corona-Durchseuchung. Jetzt schaufelt er an der Seite der SVP am Stadt-Land-Graben. Wieso ist der Freiburger Wirtschaftsprofessor mit seinen Provokationen so erfolgreich?
Von Elia Blülle (Text) und Philip Frowein (Bilder), 14.10.2021
Reiner Eichenberger fürchtet um seine Ruhe. An sonnigen Wochenenden erobern immer mehr Boote den Zürichsee, Feste am anderen Ufer jagen laute Bässe über das Wasser und stören an der Goldküste die gepflegte Stille. Besonders ärgerlich seien die Partyschiffe der hoch subventionierten Schifffahrtsgesellschaft, sagt Eichenberger. «Der Bürger bezahlt seine eigene Beschallung.»
Der Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik wohnt in Feldmeilen mit seiner Familie. Hier ist er aufgewachsen, umgeben von prächtigen Anwesen, deren meterhohe Thujahecken die Sicht auf den Reichtum dahinter verbergen. An der Goldküste zahlen die Bewohnerinnen Millionen für Diskretion und Ruhe.
«Es braucht dringend Regeln», sagt Eichenberger. Keine Verbote, aber Kostenwahrheit: «Müssten Lärmverursacher am und auf dem See einen Teil ihrer Lärmschäden bezahlen, würden sie den See nicht mehr so unverfroren beschallen.»
Ob Lärm, Klimaerwärmung, Energiewende, Migration, Medienförderung oder Pandemiebekämpfung: Eichenberger redet mit. Am liebsten zuvorderst. Als Experte für alles. Seine Meinungen: quälend pragmatisch, stramm neoliberal und selbst dann noch konträr zur Mehrheitsposition.
Viele seiner Fans sehen in ihm einen «Professor Unbequem» («Weltwoche»), der mit unkonventionellen Vorschlägen miefige Schweizer Politikdiskurse aufmischt und vormacht, wie sich Wissenschaftler Gehör verschaffen könnten, wenn sie denn wollten.
Einigen seiner akademischen Mitstreiterinnen hingegen geht sein Gebaren gehörig auf den Wecker. Muss jetzt ausgerechnet die Republik auch noch über Eichenberger schreiben, fragt ein bekannter Professor, der öffentlich nicht über seinen Kollegen sprechen will, am Telefon.
Unbestritten ist: Reiner Eichenberger versteht die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie wie kaum ein anderer. Auch weil er Ökonomie, Politik und Ideologie bis zur Unkenntlichkeit vermischt.
Die Durchseuchung wird zu seinem Erfolgsschlager
Eichenberger wuchs als Sohn eines Biologen und einer Physikerin auf. Der Grossvater erbte jung eine Tabakfabrik und verkaufte sie. Mit dem Vermögen reiste er nach Paris und eröffnete da eine anfänglich florierende Galerie, die vor dem Krieg an der Wirtschaftskrise zerbrach. Die Überreste zieren heute das Haus von Eichenberger: Büsten, Gemälde, Skulpturen.
Auf vielen Pressefotos, die Eichenberger in seinem Arbeitszimmer oder seiner Stube zeigen, stehen die Werke im Hintergrund. Viel kann er mit der Kunst jedoch nicht anfangen. «Ein schöner Schmuck», sagt er. «Aber ich verstand noch nie, wieso Menschen für Kunst Millionen ausgeben und ihr eine so grosse gesellschaftliche Bedeutung beimessen.»
Als Kind putzte Eichenberger Schildkröten in einer Tierhandlung. Er wollte Zoodirektor werden. Doch statt für Elefanten und Tiger entschied er sich schliesslich – auch aus Interesse an Umweltkrisen – für ein Wirtschaftsstudium. Er sagte sich: Wer über Ökologie nachdenken will, muss nicht Umweltwissenschaft studieren, sondern Ökonomie.
Eichenberger promovierte in der Volkswirtschaftslehre in Zürich und wurde 1998 von der Universität Freiburg mit jungen 37 Jahren zum Professor berufen. Während seine Mitstreiter eine Karriere an den grossen Hochschulen anstrebten, gab sich Eichenberger mit der international unbedeutenden Universität Freiburg zufrieden.
«In Zürich müssen Forscher in wichtigen akademischen Fachzeitschriften publizieren», sagt er. «In Freiburg tun wir das auch, aber der Druck ist weniger gross. Deshalb gibt es hier auch Wissenschaftler, die anders sind. Unkonventioneller. Die sich in ihrer Forschung auch auf lokale Fragen und Themen konzentrieren.»
Eichenberger hat nie länger im Ausland gearbeitet, bisher keine wichtigen Preise gewonnen und selten für renommierte Fachzeitschriften geschrieben. Wer verstehen will, wie er es dennoch immer wieder schafft, das ganze Land in Aufregung zu versetzen, muss sich mit seinem jüngsten, mittlerweile wohl bekanntesten Erfolgsschlager befassen: der gelenkten Durchseuchung.
Es war ein Sonntagabend im März 2020, als ein Wirtschaftsredaktor der Gratiszeitung «20 Minuten» in Feldmeilen anrief. Der Bundesrat stand kurz davor, einen Shutdown auszurufen, und der Journalist fragte, wie Eichenberger die drohenden Massnahmen beurteile.
Er antwortete, die Regierung müsse die Daten in den Griff bekommen, und bemängelte den «katastrophalen Umgang mit der Statistik». Wenige Stunden später erschien das Interview auf der meistfrequentierten Schweizer Medienseite und flutete noch am Montagmorgen vor dem ersten Kaffee alle sozialen Netzwerke. Der Titel stach heraus: «Ziel könnte eine gelenkte Durchseuchung sein.»
Damit schaffte es Eichenberger einmal mehr. Aufregung. Das Internet drehte durch: Wie kann er es wagen? Jetzt plustert er sich auch noch zum Mediziner auf!
Obwohl die Pandemie damals erst ein paar Monate alt und die Verunsicherung über das richtige Vorgehen selbst unter Epidemiologinnen gross war, präsentierte Eichenberger für die Gratiszeitung eine komplette Lösung: Risikogruppen sollten sich schützen, während sich gesunde Menschen gezielt infizieren müssten. So könne die Schweiz möglichst rasch die Herdenimmunität erreichen und die Massnahmen aufheben.
Weder in diesem Interview noch im später erschienenen NZZ-Aufsatz zu diesem Thema stützte sich Eichenberger auf eigene Modellierungen, Forschungen oder Studien, wie das seine Kollegen aus der Epidemiologie getan hätten. Das «20 Minuten»-Interview schlug trotzdem ein.
Hunderttausende klickten, und das Bundesamt für Gesundheit musste zu Presseanfragen dazu Stellung beziehen.
NZZ-Chefredaktor Eric Gujer wollte von Eichenberger in seiner Fernsehsendung wissen, ob er auch die Verantwortung für negative Folgen seines «gigantischen Sozialexperiments» tragen würde.
«Natürlich», antwortete Eichenberger ohne Zögern. Er hafte mit seiner Reputation, die Regierung mit gar nichts. «Auf eine gelenkte Immunisierung zu verzichten, ist das viel dramatischere Experiment.»
Unabhängig von Eichenbergers Vorschlag strebten die Niederlande, Grossbritannien und Schweden damals tatsächlich eine gelenkte Durchseuchung an. Als aber ihre Fall- und Todeszahlen in die Höhe schnellten, brachen sie das Experiment rasch wieder ab. Es wurde deutlich, dass man Risikogruppen unmöglich vollständig vor einer Ansteckung schützen kann.
Die Idee einer gelenkten Durchseuchung war damit gestorben. Fast.
In der Schweiz – aber auch anderswo – schleppten ein paar wenige Wissenschaftler die Idee weiter durch die Medien. So auch Eichenberger. Drei Monate nach seinem Interview mit «20 Minuten» relativierte er zwar in den Tamedia-Zeitungen, man habe damals, als er den Vorschlag zur Durchseuchung gemacht habe, noch nicht gewusst, dass sich die Verbreitung des Virus durch Hygienemassnahmen, Social Distancing und Lockdown so stark einschränken lasse. Er versicherte aber, er stehe nach wie vor zu seiner Idee einer «kontrollierten Durchseuchung»: «Ich habe Hunderte Mails von Leuten bekommen, die bereit sind, auf diese Weise Immunität zu erlangen.»
Und heute? Würde Eichenberger dem «20 Minuten»-Journalisten mehr als ein Jahr später noch einmal dieselben Worte ins Telefon diktieren? «Befänden wir uns in derselben unsicheren Situation wie damals, würde ich zur Problemlösung erneut die intelligent gelenkte Durchseuchung vorschlagen», sagt er. In einem trivialen Punkt habe er aber tatsächlich versagt und eine falsche Annahme getroffen, gesteht Eichenberger: «Die Impfung kam viel schneller als erwartet. Das war gut. Schlecht war, dass ich nicht vorausgesehen habe, wie unwürdig Politiker die Ungeimpften behandeln, wenn die Hälfte der Wähler geimpft ist. Wenn die Impfung ein Jahr später gekommen wäre, hätte man wählen müssen: wilde Durchseuchung oder klug gelenkte Durchseuchung?»
Klar ist: Die gelenkte Durchseuchung, so wie sie Eichenberger im März 2020 vorschlug, hätte wohl Tausende von Menschen das Leben gekostet. Doch obschon die wissenschaftliche Taskforce des Bundes und die Mehrheit aller Virologinnen und Epidemiologen den Vorschlag als unethisch, gefährlich und nicht machbar verurteilten, hat er Eichenbergers Popularität kaum geschadet.
Der Ökonom bleibt weiterhin auf Dauersendung. Gemäss der Schweizer Mediendatenbank erschien sein Name in den letzten eineinhalb Jahren in über 590 Pressebeiträgen. Der Vorschlag zur gelenkten Durchseuchung und die damit verbundene Medienpräsenz brachten ihm 2020 erneut eine Zweitplatzierung im Ökonomen-Ranking der NZZ – wie bereits in den Jahren zuvor. Und auch 2021 hiess es wenig überraschend: Eichenberger ist der zweiteinflussreichste Ökonom der Schweiz.
Medienpräsenz als Paradedisziplin
Das NZZ-Ranking habe für ihn persönlich eine grosse Bedeutung, sagt Eichenberger. Die Wissenschaftskarriere sei eine irre akademische Wettfahrt, selbstbezogen, und viele würden nur darauf achten, bei ihrer Peergroup anzukommen. «Das Ranking berücksichtigt glücklicherweise auch, wer sich in gesellschaftlich und politisch relevanten Fragen engagiert.»
Viele andere Ökonominnen spielen das Gewicht der Rangliste herunter. Die Rankings würden einzig der Eitelkeit dienen, sagt einer, der immer wieder auf der Liste steht. «Unwichtig», findet ein anderer.
Stimmt das?
Die Universitäten publizieren die Resultate auf ihren Websites und gratulieren den Gewinnern. Wer wie Eichenberger auf den oberen Plätzen rangiert, erhält schnell einmal das Prädikat «einflussreich» oder wird in Talkshows als «Top-Ökonom» vorgestellt. «Das Ranking findet in der Szene viel Beachtung», sagt NZZ-Journalist Matthias Benz, der die Liste betreut. «Seit sie existiert, beobachten wir, dass sich Ökonominnen stärker in Debatten einbringen.»
Das «Ökonomen-Einfluss-Ranking» erstellt die NZZ in Kooperation mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und der österreichischen «Presse» mit dem Ziel, Wissenschaftler zu honorieren, die sich ausserhalb ihres Arbeitszimmers engagieren. Dabei werten die Journalistinnen seit 2014 vier unterschiedlich gewichtete Kategorien aus. Neben der Forschung zählen für eine gute Platzierung vorwiegend der Einfluss auf die Politik und die Medienpräsenz.
Beides sind unangefochtene Paradedisziplinen von Reiner Eichenberger. In solchen Rankings zählt nicht, was jemand sagt, sondern, von wie vielen es gesehen und wiederholt wurde. Und kein anderer Schweizer Ökonom kommt in den deutschsprachigen Wirtschafts- und Printmedien so häufig zu Wort wie Eichenberger. Zwischen ihm, den Journalistinnen und diversen Zeitungstiteln hat sich in den letzten Jahren eine innige Zweckbeziehung entwickelt, die während der Corona-Pandemie ihren Höhepunkt erreichte.
«Wenn Journalisten im Zweifelsfall nicht wissen, wen sie anrufen sollen, kontaktieren sie zuweilen mich», sagt Eichenberger. Die Medien wüssten, dass sie von ihm eine halbwegs vernünftige ökonomische Antwort erhielten. «Ich gestehe den Journalisten gegenüber auch ein, wenn ich nichts Gescheites oder Originelles beitragen kann – zum Beispiel, wenn es sich um Fragen rund um Wirtschaftsskandale handelt. Aber ich will meinen Geschäftspartnern – in dem Fall dem Journalisten – immer einen Mehrwert bieten und nehme mir Zeit. Der Anruf soll sich lohnen, denn nur dann kommen sie später wieder zu mir.»
Neben den Interviews hat sich Eichenberger hauptsächlich mit Zeitungsaufsätzen und markigen Kolumnen in die Debatten geschrieben. Für NZZ, FAZ, «Basler Zeitung», «Handelszeitung», «SonntagsZeitung», «Finanz und Wirtschaft», «Weltwoche» und den «Schweizer Monat» verfasste er in den vergangenen Jahren Hunderte von Meinungsbeiträgen.
Hinter vielen, aber nicht allen seiner Beiträge stecke ernsthafte wissenschaftliche Arbeit, die er in den Artikeln nicht immer herausstreiche, sagt Eichenberger: «Die anderen beruhen auf diszipliniertem Nachdenken. Bei den Artikeln zur Corona-Pandemie habe ich intensiv mit meinem ehemaligen Mitarbeiter David Stadelmann – heute Professor an der Universität Bayreuth – zusammengearbeitet, und wir haben uns in die naturwissenschaftliche Literatur eingelesen und mit Spezialisten diskutiert.»
Eichenberger sagt, von ihm würden Exklusivbeiträge erwartet. Das sei nicht immer einfach, erzeuge viel Druck, treibe ihn aber an, immer wieder neue Gedanken einzubringen. Eine gute Sache, findet er: «Wenn man Bedeutung haben will, dann sollte man nicht dasselbe sagen wie alle anderen.»
Seine Suche nach «dem neuen Gedanken» treibt zuweilen kuriose Blüten. So behauptete Eichenberger 2018 etwa in einer Kolumne, der Veloverkehr würde pro Personenkilometer weit höhere externe Kosten als das Auto verursachen, und er bezichtigte das Bundesamt für Raumentwicklung des Schwindels, weil es dem Velofahren einen «beträchtlichen Gesundheitsnutzen für die Allgemeinheit» attestierte.
Thomas Götschi, Statistiker an der Universität Zürich und Mitautor der Berechnung, sprach darauf in einem Leserbrief von «Falschaussagen» und «schwindelerregender Zahlenakrobatik». Der Vizedirektor des Bundesamtes für Raumentwicklung schrieb, es sei Tatsache, dass der Veloverkehr mit 3,7 Rappen pro Personenkilometer tiefere externe Kosten verursache als der Autoverkehr mit 5,6 Rappen. Und ein aufgebrachter Leser schrieb: «Wer mit ‹Lüge› und ‹Schwindel› hausiert, sollte mit der Materie vertraut sein.»
Trotzdem: Diesen März wiederholte Eichenberger seine Behauptung, der öffentliche Verkehr und der Veloverkehr führten zu hohen gesellschaftlichen Kosten. Darauf schaltete sich Litra ein, ein Verein, der sich für den öffentlichen Verkehr einsetzt und dessen 50-köpfiger Vorstand zur Hälfte aus National- und Ständeräten aller Parteien besteht. Eichenberger vertrete Ideen, die schon lange und deutlich widerlegt worden seien, heisst es in einer Replik. Die Berechnungen von Eichenberger seien «akademische Sandkastenspiele».
«Je steiler die These, desto höher die Beweislast», sagt Marius Brülhart, Ökonomieprofessor an der Universität Lausanne. «Ich schätze Reiner Eichenberger als originellen Denker und begabten Kommunikator, er untermauert aber seine Zeitungskommentare bisweilen nur mit bruchstückhaften Aussagen, die nicht auf überprüfbaren Analysen beruhen.»
Die Kritik teilen auch andere Ökonominnen, mit denen die Republik gesprochen hat. Brülhart ist aber der einzige, der öffentlich darüber spricht. Er hält es für wichtig, dass sich Ökonomen in die öffentliche Debatte einmischen. «Schwierig wird es aber, wenn Wissenschaftler zu provokativen Thesen neigen, ohne diese nachvollziehbar wissenschaftlich untermauern zu können – sei es aus eigener Forschung oder aus derjenigen Dritter.»
Eichenberger selber sagt, er wolle mit seinen Artikeln den Diskurs öffnen, mit neuen Ideen zu «einer vernünftigen politischen Diskussion» beitragen und die Leserschaft dabei in schwierigen Zeiten auch etwas unterhalten. «Das ist mein Business-Case.»
Verzichtet Eichenberger auf Provokationen, wird er unsichtbar. Er lebt davon, dass Politikerinnen, Kollegen und Journalistinnen auf ihn und seine peppigen Thesen reagieren. Das fällt ihm auch deshalb so leicht, weil er ein Vakuum füllt.
In den letzten Jahren haben sich die Geistes- und Sozialwissenschaften selber marginalisiert. Das Belohnungssystem der Universitäten, das auf Zitierungen baut, drängt ihre besten Denker ins Aus. Öffentliche Auftritte und Engagement zählen nicht. Die Konsequenz: Wichtige Stimmen fehlen in gesellschaftlichen und politischen Debatten. Die Bühne: Sie ist allzu oft leer.
Kein Wunder, geben nationale und kantonale Politikerinnen Eichenberger in Umfragen für das NZZ-Ranking als denjenigen Ökonomen an, der sie am meisten inspiriere. Eichenberger sucht Aufmerksamkeit und politischen Einfluss überall da, wo man ihm Platz gibt.
Dafür schreckt er auch nicht davor zurück, ausgerechnet mit jener Schweizer Partei zu flirten, die gerne einmal die Entlassung einer linken Professorin fordert oder Menschen mit Doktortitel und Studenten als Personen «ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit» verunglimpft.
Ausser natürlich, sie bestätigen ihre Politik, so wie Professor Eichenberger.
Der Lieblingswissenschaftler der SVP
Es ist ein warmer Herbstnachmittag im Zürcher Stadtzentrum. Während draussen Autofahrerinnen vom Land die Strassen verstopfen, wettern drinnen im 4-Sterne-Hotel Glockenhof die Politiker von der SVP über die «linken Luxussozialisten» in Zürich und anderswo, weil sie dreispurige Velowege bauten, Tempo 30 einführten und Parkplätze vernichteten.
Sekundiert werden sie dabei von Reiner Eichenberger, dem «unabhängigen Experten für komplizierte Fragen», wie SVP-Präsident Marco Chiesa ihn vorstellt.
Bezahlen müsse die Ausgaben der Städte die Landbevölkerung, erklären die SVP-Politikerinnen. Nationalrat Erich Hess wettert über die Berner Reitschule; die Präsidentin der SVP-Frauen Romandie, Lucie Rochat, sagt etwas über Lausanne und Banker; Thomas Matter liest Zahlen vor, die irgendwie belegen sollen, dass das Land die Städte und ihren «Luxussozialismus» finanziert.
Bereits bevor SVP-Präsident Chiesa in seiner 1.-August-Rede den Feldzug gegen die Städte ausrief, schrieb Eichenberger über die «tiefere Ursache des Stadt-Land-Grabens». Wenige Wochen später wiederholte er in einem langen Interview mit der «SonntagsZeitung», viele Städter hätten den Bezug zur Realität verloren. «Wenn die Ländler in der Stadt 30 fahren müssen, dann müssen auch die Städter auf dem Land 30 fahren.»
Es ist nicht das erste Mal, dass Eichenberger mit SVP-nahen Kreisen gemeinsame Sache macht. Anfang 2016 betreute er ein kritisches Gutachten zu den Bilateralen, welches «Weltwoche»-Redaktor Florian Schwab verfasst hatte und das vom rechten Financier Tito Tettamanti bezahlt worden war. Und als die Gemeinde Meilen 2016 und 2017 die Steuern erhöhen wollte, sprach sich Eichenberger zusammen mit Blocher-Schwiegersohn und SVP-Mitglied Roberto Martullo vehement dagegen aus.
Der Gemeinde drohte damals – trotz vermögender Bürgerinnen und Blocher-Millionen – das Geld auszugehen. Als Banker und SVP-Nationalrat Thomas Matter – ebenfalls wohnhaft in Meilen – den Ökonomen Eichenberger an der Pressekonferenz «spontan» um eine Einschätzung zur «Stadt-Land-Problematik» bat, sagte Eichenberger, der «Bericht» der SVP übertreibe nicht. Er betonte aber vor allem, dass er wirklich unabhängig sei und nichts mit dem wissenschaftlichen Grundlagenpapier der Partei zu tun habe, das er «erst vor ein paar Tagen» gegengelesen habe, um die Tippfehler zu korrigieren.
Das «Grundlagenpapier zum Stadt/Land-Konflikt im Kanton Zürich» haben wissenschaftliche Mitarbeiter der SVP ausgearbeitet. Es ist ein Sammelsurium aus wild kombinierten Statistiken und fragwürdigen Modellen, die beweisen sollen, dass die «wohlstandsverwahrlosten linken Städte» auf Kosten der Landbevölkerung leben. «Für den Wahlkampf mag das Auswählen einzelner Finanzzahlen reichen, für eine vielschichtige Diskussion nicht», kritisierte die NZZ.
Herr Eichenberger, wie können Sie als seriöser Wissenschaftler an einer Pressekonferenz unter dem Titel «Die Schmarotzer-Politik der links-grünen Städte» teilnehmen, an der sich Marco Chiesa darüber aufregt, dass Städter erst um 8 Uhr aufstünden?
«Das ist nicht mein Stil. Der SVP-Bericht liest sich jedoch eher nüchtern. Und seien wir ehrlich: Wie viele Journalisten wären gekommen, wenn die SVP mit einem sachlicheren Titel für die Konferenz geworben hätte?»
Die Partei bedient sich damit genau jener Rhetorik, die spaltet.
«Ich wünschte mir eine Welt, in der ein solcher Bericht ohne Polemik von qualifizierten Journalisten gelesen wird, die eine seriöse Diskussion lancieren. Aber diese Welt existiert nicht. Es ist mir wesentlich lieber, wenn jemand ein Problem wie die Stadt-Land-Spannungen mit verschobenen Worten anspricht, als wenn es einfach unter den Teppich gekehrt wird.»
Seit Jahren bemängelt Eichenberger, die Städte würden viel zu viel Geld aus dem kantonalen Finanzausgleich zur Abgeltung ihrer Zentrumslasten (Kultur, Freizeitangebote, Verkehr, Sicherheitsaufgaben, soziale Aufgaben) erhalten. Die Pressekonferenz habe ihm die Möglichkeit geboten, mit Journalisten über dieses Problem zu sprechen, so Eichenberger.
Wie viel Geld die Städte für ihre Zentrumslasten erhalten sollen, ist letztlich eine politische, keine wissenschaftliche Frage. Im Kanton Zürich hat die Stimmbevölkerung letztmals 2011 eine von der Jungen SVP geforderte Reduktion der Beiträge abgelehnt, mit über 70 Prozent der Stimmen.
Natürlich gebe es eine Geistesverwandtschaft zwischen ihm und der SVP, sagt Eichenberger: die Begeisterung für direkte Demokratie und kleinräumigen Föderalismus, die Ablehnung der Personenfreizügigkeit. Aber in vielen Bereichen ticke er ganz anders. So unterstützt er die Wehrpflichtabschaffung zugunsten einer freiwilligen Miliz und fordert mehr politische Rechte für Ausländerinnen.
Eichenberger sieht die Politik «als Markt für politische und staatliche Dienstleistungen», der auch immer wieder versage. Zum Beispiel, wenn Behörden ohne Notwendigkeit ihre Budgets aufblasen würden. Oder Lobbyisten Entscheidungen herbeiführten, die für den Staat unvorteilhaft sind, aber den Politikerinnen wichtige Privilegien bringen – etwa zu hohe Landwirtschaftssubventionen oder eben: Gelder für Zentrumslasten.
Solche «Politik- und Staatsversagen» will Eichenberger «heilen». Mit «einfachen ökonomischen Denkmustern» wolle er «komplexe gesellschaftliche Probleme besser verstehen und Lösungsvorschläge» entwickeln.
Was unterscheidet ihn dabei noch von einem Politiker?
Eichenberger sagt, er habe ein gespaltenes Verhältnis zur Politik. Sie sei eine Zwangsjacke: «Man darf nur über bestimmte Themen sprechen, muss Parteiinteressen vertreten und erzählt deshalb zuweilen dummes Zeugs.» Er aber möchte frei wirken können. Und sowieso würde ihn keine Partei wollen: «Viel zu unberechenbar.»
Eichenberger tut das, was von Wissenschaftlern immer wieder gefordert wird: Kommt raus aus eurem Elfenbeinturm! Sprecht mit den Menschen! Bringt eure Ideen ein! Der Professor von der Goldküste folgt diesen Imperativen mit den Methoden eines Politikers: meistens höflich, aber laut, zugespitzt und oft ohne einen Funken Zweifel an der eigenen Wahrnehmung oder Meinung.
Eichenberger nimmt die Aufmerksamkeit, die man ihm gibt. Sie ist die Luft, die er atmet. Und so passt auch seine Antwort auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte, irgendwann für das nationale Parlament zu kandidieren.
«Gäbe mir eine Partei einen sicheren Platz auf ihrer Nationalratsliste und garantierte sie mir die freie Rede», sagt Eichenberger, «ich würde ihn annehmen.»