Die Schweiz ist kein viersprachiges Land
Die Vielsprachigkeit geht weit über die offiziellen Landessprachen hinaus. Das verändert die literarische Landschaft.
Von Daniel Graf (Text) und Darren Shaddick (Illustration), 13.10.2021
Wenn Hussein Mohammadi an seinem Schreibtisch in Pfaffhausen sitzt und an seinem Roman arbeitet, schreibt er auf Persisch. Mohammadi ist 1986 in Afghanistan geboren und im Iran aufgewachsen. Mit der Literatur hat er, ebenso wie mit der Malerei, früh begonnen. Seine ersten beiden Romane wurden vom iranischen Regime zensiert und blieben unveröffentlicht. Ein dritter Roman, «Symphonie der Liebe», konnte erscheinen.
2013 floh er in die Schweiz, wo er sich – neben seiner Arbeit als Hydraulikmechaniker – weiterhin der Kunst und Literatur widmet und derzeit an seinem vierten Roman arbeitet.
Mohammadi ist Teil des 2020 gegründeten Projektes «Weiter Schreiben Schweiz», das exilierte, hier lebende mit einheimischen Autoren zusammenbringt. Mohammadi bildet ein Tandem mit der Schriftstellerin Julia Weber, die ihm bei der Anbindung an den Schweizer Literaturbetrieb hilft. Und wenn er kürzere Texte über seine Fluchterfahrung mittlerweile auf Deutsch schreibt, unterstützt ihn auch Projektinitiatorin Annika Reich als Lektorin und Korrektorin bei der Suche nach dem exakten Ausdruck. Den aktuellen Roman, seinen vierten, aber schreibt er, wie die bisherigen, auf Persisch – der Sprache, in der er über die Nuancen seines ungleich grösseren Wortschatzes und den ganzen Assoziationsraum der Wörter verfügen kann.
Mohammadi ist nur ein Beispiel von vielen für eine neue vielsprachige Realität in der Schweiz, innerhalb und ausserhalb der Literatur. Und während im Parlament kürzlich die «Tage der Mehrsprachigkeit» in den vier Landessprachen zelebriert wurden, zielt die Aufmerksamkeit des Kulturbetriebs genau darüber hinaus: auf die sogenannten «fünften Landessprachen».
«Fünfte Landessprachen» – das ist eine eigenartige Wortkreation mit diesem Mix aus Ordnungszahl und Plural.
In dem Begriff steckt allerdings eine Einsicht, die, einmal ausgesprochen, schon beinah selbstverständlich scheint: Die tatsächliche Sprachenvielfalt des Schweizer Alltags (und des literarischen Lebens) reicht weit über die vier Landessprachen hinaus. Und dies nicht etwa, weil es ein paar einzelne Sprecherinnen beträfe. Sondern weil für mittlerweile fast ein Viertel der Schweizer Bevölkerung eine oder mehrere Sprachen im täglichen Leben bestimmend sind, die nicht zu den Schweizer Amtssprachen gehören.
Unmittelbar einleuchtend ist, dass dabei dem Englischen besonderes Gewicht zukommt, allein schon wegen seiner Funktion im Berufsleben. Eindrücklich zeigen die Daten des Bundesamts für Statistik aber auch: Portugiesisch und Albanisch spielen in der Schweiz für 7-mal so viele Menschen eine zentrale Rolle wie das Rätoromanische. Auch Spanisch und Serbokroatisch werden in der Schweiz um ein Vielfaches häufiger als Hauptsprache verwendet als die kleinste Landessprache.
Und schliesslich: Der Anteil an Sprecherinnen bisher noch nicht genannter Sprachen ist zusammengenommen quasi genauso gross wie der Anteil des Italienischen (inklusive Tessiner oder Bündneritalienischer Dialekte).
Worum es bei solchen Vergleichszahlen gerade nicht geht: eine Hierarchisierung der Sprachen. Das Rätoromanische ist nicht weniger wichtig, weil andere Sprachen im Alltag häufiger gesprochen werden. Aber die Zahlen machen doch augenfällig, wie wenig die offizielle Viersprachigkeit über die tatsächliche Sprachenvielfalt in der Schweiz verrät.
Was die Statistiken erst auf den zweiten oder dritten Blick offenbaren: Rechnet man die Prozentzahlen der Landes- und der «anderen» Sprachen zusammen, landet man bei deutlich über 100 Prozent. Das ist kein Fehler, sondern eine zentrale Erkenntnis: Mehrsprachigkeit über die vier Landessprachen hinaus ist in der Schweiz für Hunderttausende gelebter Alltag.
Das gilt selbstverständlich auch für Autoren. Es gibt nicht wenige exilierte, ausgewanderte oder einfach mehrsprachige Literaten, die dauerhaft hier leben, ihre Texte jedoch ausschliesslich oder teilweise in einer Sprache schreiben, die nicht erfasst wird, wenn von der «viersprachigen Schweiz» die Rede ist.
Die Literatur, die hier und heute in der Schweiz entsteht, ist also keineswegs allein deutsch, französisch, italienisch oder rätoromanisch. Sondern, zum Beispiel, portugiesisch wie bei Patrícia Melo, einer Autorin von internationalem Rang, die in Lugano lebt. Türkisch wie bei Hasan Sever. Serbisch wie bei Mićo Savanović. Englisch wie bei der Waadtländer Autorin und Übersetzerin Michelle Bailat-Jones. Persisch, arabisch oder im kurdischen Sorani-Dialekt geschrieben wie bei Autoren von «Weiter Schreiben Schweiz».
Neue Aufmerksamkeit
Ob es also schlichtweg am gestiegenen Anteil der sogenannten Nichtlandessprachen liegt, dass sich derzeit ein neues, breiteres Bewusstsein für deren wichtige Rolle auszuprägen scheint? Daran, dass das Engagement von Vereinen wie Alit mit seinem Programm «Weltenliteratur» inzwischen umfassendere Wirkung zeigt, die Arbeit von Initiativen also, die sich um eine grössere Sichtbarkeit für Schreibende jenseits der Landessprachen bemühen? Hatten die Solothurner Literaturtage 2020, wo das Thema prominent positioniert war, und die Gründung von «Weiter Schreiben Schweiz» eine gewisse Initialfunktion für eine anhaltende Diskussion?
Es ist jedenfalls auffällig, dass die Sprachenvielfalt im literarischen Leben der Schweiz aktuell einen Aufmerksamkeitsschub erfährt.
Zwar haben die Literaturhäuser oder Institutionen wie das Berner Kulturbüro artlink mit ihren Veranstaltungen und Programmen schon seit Jahren für unterschiedlichste Fragen von Sprachtransfer und Kulturaustausch sensibilisiert. Womöglich aber ist das Thema «Fünfte Landessprachen» derzeit dabei, ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zu rücken. Und nicht zuletzt in den Fokus einer bislang lückenhaften Kulturförderung.
«Ein Wunder findet gerade statt», schrieb kürzlich die Autorin Dragica Rajčić Holzner, die sich seit Jahren bei Alit engagiert, mit Blick auf ein vom Literaturhaus Zürich initiiertes Symposium zum Thema. Und fügte ihrem Facebook-Post hinzu: «schaut und staunt».
Man darf hier, bei aller Freude, durchaus auch eine kritische Note mithören.
Denn wenn es um Sprachenvielfalt und die Erweiterung von Perspektiven geht, klingen die Wortmeldungen zwar meistens nach «alles wunderbar bunt hier!», egal, ob nun von der klassisch schweizerischen Vier- oder der neuen Vielsprachigkeit die Rede ist. In der Realität aber gibt es ja bereits zwischen den vier Schweizer Sprachregionen neben dem gerne beschworenen Miteinander auch viel interesseloses Nebeneinander. Wie ist es da erst mit den «fünften Landessprachen»?
Deren vorbehaltloser Anerkennung als Sprachen dieses Landes stehen auch in der Literaturszene noch Hindernisse im Weg. Doch ist zuletzt in kurzer Zeit sehr viel in Bewegung geraten.
Neue Möglichkeiten, alte Schwierigkeiten
Um mit nachhaltigen Fortschritten zu beginnen: Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia hat seit diesem Jahr ihre Literaturförderung von der vier- auf die vielsprachige Schweiz ausgeweitet. Neu können in der Schweiz ansässige Autorinnen nun unabhängig von der Sprache, in der sie schreiben, eine sogenannte Kreationsförderung beantragen, also Unterstützungsgelder für die Arbeit an einem konkreten Werk.
Man darf diese Neuregelung ruhig einen Paradigmenwechsel nennen – weil die Kulturförderung damit gleichberechtigt anerkennt, dass Autorinnen der «fünften Landessprachen» zwar in aller Regel mindestens eine Landessprache als Konversationssprache im Alltag nutzen, ihre literarischen Texte aber in einer anderen Sprache verfassen.
Ein Problem aber bleibt: Die Kreationsförderung bei Pro Helvetia ist an Autoren gerichtet, die die ersten Schritte im Buchmarkt bereits geschafft haben. Deshalb ist sie – wie auch bei einigen anderen Förderprogrammen – an die Bedingung geknüpft, dass der Antragsteller bereits ein literarisches Werk publiziert hat. Das ist mit Blick auf die Schweiz und alle Länder, in denen ein halbwegs intakter Buchmarkt existiert, auch durchaus sinnvoll. Denn die Publikation in einem (angesehenen) Verlagshaus ist ein wichtiger Qualitätsindikator, und die Prüfung von Förderanträgen muss sich notwendig an qualitativen Standards orientieren.
Diese Logik greift jedoch genau dort am wenigsten, wo die Kunstfreiheit besonders bedroht ist.
Wo soll zum Beispiel ein afghanischer Talibankritiker jetzt in seinem Herkunftsland veröffentlichen? Wie viele potenzielle Verlage hat eine oppositionelle Autorin im Iran zur Auswahl?
Der in Damaskus geborene und heute in Burgdorf lebende Autor Shukri Al Rayyan, dessen Texte auf der Website von «Weiter Schreiben Schweiz» auf Arabisch und in deutscher Übersetzung erscheinen, formulierte Mitte September bei dem bereits genannten Zürcher Symposium das Problem so: Kritische Stimmen hätten in Syrien «keine Chance auf Veröffentlichung, die Autoritäten kontrollieren alles». Und wenn es deshalb für die eigenen Romane keinen Verlag gebe, könne man hier in der Schweiz auch nicht die geforderten Leistungsnachweise erbringen.
So beisst sich für exilierte Autoren mitunter die Katze in den Schwanz: im Herkunftsland kein Buch aus politischen Gründen. In der Schweiz keine Förderung, weil noch kein publiziertes Werk da ist. Was nicht zwangsläufig daran liegt, dass da jemand gerade erst mit dem Schreiben beginnt.
Das lässt möglicherweise zwei Schlussfolgerungen zu.
Zum einen: Je stärker formale Förderkriterien an einer Art Norm-Werdegang von Autorinnen im hiesigen Literaturbetrieb ausgerichtet sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie für Schreibende aus Herkunftsländern mit radikal anderen Voraussetzungen eine Hürde darstellen.
Zum anderen: Was zusätzlich zum Bestehenden helfen könnte, wären Massnahmen, die für Autoren der «fünften Landessprachen» den Einstieg in die Schweizer Literaturszene erleichtern, Publikationsmöglichkeiten in hiesigen Zeitschriften eröffnen und letztlich die Chancen erhöhen, einen Schweizer Verlag zu finden, der ihre Werke in Übersetzung herausbringt.
Hiesige Verlage beschäftigen in der Regel keine Lektorin, die Kroatisch, Albanisch oder Vietnamesisch liest. Wo es also keinen originalsprachlichen Verlag gibt, der potenziellen Lizenznehmern Übersetzungsproben und Gutachten zur Verfügung stellt, müssten die Verlage in jedem Einzelfall selbst diese Investments vornehmen. Das kann man zwar mit Gründen zum verlegerischen Kerngeschäft der Akquisition zählen – und damit als Aufgabe der Verlage deklarieren. Es ist aber fraglos eine zusätzliche Hürde. Nicht zuletzt für die Autorinnen.
Erwin Künzli, Verleger des Limmat Verlags, regte deshalb auf dem Zürcher Symposium an, bei der Unterstützung für Übersetzungsproben anzusetzen – ähnlich wie Pro Helvetia Schweizer Literatur im Ausland mit sogenannten «Sample Translations» promotet. «Vielleicht müsste man das mal umkehren», meinte Künzli, sprich: Übersetzungsproben von Literatur der «fünften Landessprachen» fördern. Das würde, so Künzli, den Verlagen entscheidend helfen, auch unpublizierte Manuskripte in anderen Sprachen angemessen zu prüfen.
Statt Kulturexport also Horizonterweiterung im Inneren.
Der Vorschlag stiess zumindest auf offene Ohren.
Literaturportal als Übergangslösung
Was all die Beispiele zeigen: Neue sprachliche und politische Realitäten erfordern neue Antworten. Regelwerke müssen angepasst, Gewohnheiten verändert werden, um Aufmerksamkeits- und Förderlücken zu schliessen – und genau das geschieht derzeit auch.
Reina Gehrig, die seit Sommer 2020 bei Pro Helvetia den Literaturbereich verantwortet und die Ausweitung der Kreationsförderung mitvorangetrieben hat, resümierte denn auch bei der Zürcher Tagung, es liege «weiter viel Arbeit vor uns allen». Denn blinde Flecke und Fehler im System müssen erst einmal als solche erkannt werden. Der Wille zu möglichst viel Inklusion ist ja vorhanden.
Auch bei der Kulturförderung von Kommunen und Kantonen ist das Thema «fünfte Landessprachen» angekommen. In Zürich etwa haben Stadt und Kanton – die gemeinsam mit Pro Helvetia bereits das Projekt «Weiter Schreiben Schweiz» unterstützen – Ende 2020 eine gemeinsame Erhebung gemacht, um Förderlücken zu identifizieren. Derzeit laufen die Beratungen, wie die Programme auf die «fünften Landessprachen» ausgedehnt werden können. «Noch im nächsten Jahr» wolle man konkrete Regeländerungen umsetzen, sagt Stephanie von Harrach, Ressortleiterin Literatur bei der Stadt Zürich, gegenüber der Republik.
Gerade in solchen Phasen des Übergangs zeigt sich die Bedeutung einer Initiative wie «Weiter Schreiben Schweiz».
In einem Literaturbetrieb, in dem von Lesungen und Podiumseinladungen bis hin zu Literaturpreisen nahezu alles am Medium Buch orientiert ist, hängen Sichtbarkeit, literarisches Prestige und Verdienstmöglichkeiten für Autoren noch immer eng mit einer Verlagszugehörigkeit zusammen. Das Publikationsforum von «Weiter Schreiben» ist kein Ersatz für eine Verlagsheimat der beteiligten Autorinnen – sondern eine mögliche Brücke dorthin. Das Literaturportal ist ausserdem ein Ort, an dem exilierte Autoren in ihrer Sprache publizieren und zugleich auf Deutsch gelesen werden können. Und es ist eine Institution, die Schreibenden aus anderen Herkunftsländern durch die Vernetzung mit etablierten Schweizer Kollegen dabei hilft, zu einem hör- und sichtbaren Teil des literarischen Lebens hierzulande zu werden.
Nimmt man alles bisher Gesagte zusammen, wird deutlich: Eine Schlüsselrolle für all diese Prozesse kommt den Übersetzern zu.
Aber da liegt schon das nächste Sichtbarkeitsproblem.
«This Little Art»: Die Kunst der Übersetzung
In «This Little Art», einem der schönsten Bücher zum Thema Übersetzung, das soeben im Schweizer Verlag ink press auf Deutsch erschienen ist, schreibt die Autorin Kate Briggs (in den deutschen Worten von Sabine Voss):
Es ist leicht, nicht an die Übersetzung und die Übersetzerin zu denken. Die Übersetzerin beim Lesen nicht im Sinn zu haben, keinen Gedanken an sie, an die Geschichte ihrer Arbeit zu verschwenden, ist ganz einfach.
Tatsächlich: «Lost in translation» gehen häufig ja vor allem die Übersetzernamen – und das Bewusstsein dafür, dass uns der weitaus grösste Teil der Weltliteratur überhaupt nur dank der kleinen, grossen Kunst der Übersetzung zugänglich ist. Auch wenn sich durch kontinuierliche Lobbyarbeit der Übersetzerverbände in den letzten Jahren in Sachen Wertschätzung manches gebessert hat: Die Tätigkeit der Übersetzerinnen findet bis heute meist abseits der öffentlichen Wahrnehmung und Anerkennung statt.
Das Übersetzerhaus Looren hat dieser sprichwörtlichen Unsichtbarkeit kürzlich eine Leseperformance unter der Regie von Zarina Tadjibaeva entgegengesetzt.
Der Schweizer Lyriker Jürg Halter las aus seinem Gedichtband «Gemeinsame Sprache» – und in den offenen Fenstern des Loorener Stipendiatenhauses rezitierten Übersetzer ihre Übertragungen auf Französisch (Eva Antonnikov), Tadschikisch (Mirzo Boboev), Italienisch (Sándor Marazza), Slowakisch (Zorka Ciklaminy) und Lettisch (Inga Karlsberga).
Dabei blieben zwar die Ausgangstexte symbolisch stärker im Zentrum der Inszenierung als nötig gewesen wäre, doch war die wesentliche Botschaft augenfällig ins Bild gesetzt: Die Übersetzerinnen traten aus der Unsichtbarkeit heraus und auf die Bühne.
Die eindrücklichste Pointe dann am Ende: kein Gedicht im deutschen Original vorab. Man hört zuerst einen Text auf Slowakisch. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, kein Wort Slowakisch versteht, war bei der folgenden Lesung auf Italienisch zunächst nicht einmal sicher, ob da überhaupt gerade Übertragungen desselben Texts gelesen wurden. Bis dann die französische Fassung den «Filo rosso» aus dem italienischen Titel aufnimmt. Und am Ende der «Rote Faden» bei Jürg Halter und seinem gleichnamigen Gedicht landet. So wurden Nähe und Ferne zu einzelnen Sprachen und der Vorgang des Sprachtransfers sehr direkt und individuell erfahrbar.
Es sind die Übersetzer, die Literatur über Sprachgrenzen tragen. Deshalb ist es auch für Schreibende der «fünften Landessprachen» so wichtig, Kontakt zu Übersetzerinnen zu bekommen. Diese sind für ihr Sprachgebiet häufig zugleich die Entdecker von Autoren und agieren als Vermittlerinnen in die Verlagswelt hinein.
Darüber hinaus entwickelt die Literatur dann immer auch ihre eigenen Dynamiken.
Der eingangs vorgestellte Hussein Mohammadi beispielsweise oder der ebenfalls in Afghanistan geborene Jafar Sael tragen bei Lesungen mittlerweile nicht nur selbst die deutschen Übersetzungen ihrer persischen Texte vor. Wie Mohammadi schreibt Sael inzwischen kurze Texte auch in deutscher Sprache. Bei einer Lesung im Literaturhaus Zürich trug Mohammadi kürzlich auf Deutsch aus seiner Fluchtchronik «Unter einem Baum» vor, Sael rezitierte neben seiner persischen Lyrik auch erste deutsche Gedichte. «Das Mittelmeer» zum Beispiel: Verse von sarkastischer Direktheit. Darin Sätze, die einem einfahren, wie nur bittere Wahrheiten es tun.
Aber hören Sie selbst:
Jafar Sael: «Das Mittelmeer», gelesen vom Autor.
In alle Richtungen
Das Gedicht von Jafar Sael ist ein deutsches Gedicht. Es ist Teil der deutschsprachigen Literatur, verfasst von einem, der mit dem Schreiben und Performen auf Deutsch nicht wartet, bis ihm das Goethe-Institut ein akzentfreies C2-Niveau bescheinigt hat.
Ob sich auch langsam das Bild ein wenig wandelt von dem, was Deutschschweizer Literatur sein kann? Wer Deutschschweizer Autor sein kann?
Dragica Rajčić Holzner, die seit Jahrzehnten in Zürich und Innsbruck lebt, auf Kroatisch und auf Deutsch schreibt, erzählte beim Zürcher Symposium, in den 1990ern habe Pro Helvetia sie nicht zu Veranstaltungen ausserhalb der Schweiz schicken wollen. «Es könnte sonst im Ausland jemand denken, die Schweizer können nicht richtig Deutsch.»
Das erinnert ein wenig an die Ratlosigkeit, mit der einige Jurorinnen des Ingeborg-Bachmann-Preises 2016 auf das «Broken German» von Tomer Gardi reagierten: Weil der in Israel geborene, in Berlin lebende Autor ein Pidgin-Deutsch inklusive Grammatikfehlern präsentierte, wurde in der öffentlichen Jury-Diskussion kaum über literarische Fragen gesprochen; dafür eifrig spekuliert, wie gut der Autor Deutsch könne und ob man ein falsches Deutsch denn sinnvoll mit dem korrekten der anderen Wettbewerbsbeiträge vergleichen könne.
Tomer Gardi übrigens hat im Grazer Droschl-Verlag mittlerweile drei Romane veröffentlicht: der erste geschrieben auf Deutsch, der zweite auf Hebräisch (Deutsch von Anne Birkenhauer) – und der neueste, «Eine runde Sache», auf Deutsch und Hebräisch. Was zu der schönen bibliografischen Angabe führt: «Zur Hälfte aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer».
Auch mehrsprachige Texte sind längst Teil der deutschsprachigen Literatur – etwa bei Dagmara Kraus, die in ihre Gedichte unter anderem Polnisch und Französisch integriert und den Sprachmix zu einer eigenen Kunstsprache erweitert. Oder bei Uljana Wolf, die aus dem code switch zwischen Deutsch und Englisch eine ganze Poetik kreiert.
Die in Moskau geborene Westschweizer Lyrikerin Marina Skalova hat ihren Gedichtband «Atemnot (Souffle court)» zweisprachig auf Französisch und Deutsch angelegt. Und wahrscheinlich arbeitet hierzulande niemand so konsequent und literarisch eigenwillig an einer kosmopolitischen Literatur wie Annette Hug, deren Romane inhaltlich wie sprachlich zwischen der Schweiz und Südostasien aufgespannt sind und das Übersetzen selbst zum Thema machen. (Nicht entgehen lassen: In diesem Video kann man Annette Hug aus einer Zürcher Küche heraus Tagalog sprechen hören.)
Mehrsprachigkeit, Sprachenvielfalt und Kulturtransfer sind nie Einbahnstrassen. Sie wirken aus allen und in alle Richtungen. Und ziemlich sicher lässt sich sagen: Auch die Literatur der vier Landessprachen bleibt nicht dieselbe.
Diese Prozesse sind aber nicht auf die Literatur beschränkt. Auf der literarischen Bühne wird nur ein wenig sichtbarer, was sich ganz allgemein im Land vollzieht – und wie sehr die Rede von der viersprachigen Nation ein Mythos ist.
Literatur als Kunstform hat keinen pädagogischen Auftrag und sie erschöpft sich nicht in einem Fingerzeig auf soziologische Realitäten. Aber sie kann dennoch das Bewusstsein schärfen. Dafür, welche Sprachenvielfalt in der Schweiz nicht theoretisch, sondern in alltäglicher Praxis existiert. Und wie klein meist der Ausschnitt ist, den wir davon zur Kenntnis nehmen.
Wie viele Sprachen spricht die Schweiz?
Kate Briggs: «This Little Art». Aus dem Englischen von Sabine Voss. ink press, Zürich 2021. 368 Seiten, ca. 30 Franken.
Olga Grjasnowa: «Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt». Duden, Berlin 2021. 128 Seiten, ca. 18 Franken.
Yōko Tawada: «Überseezungen». Literarische Essays. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2002. 160 Seiten, ca. 19 Franken.
Uljana Wolf: «Etymologischer Gossip». Essays und Reden. kookbooks, Berlin 2020. 232 Seiten, ca. 31 Franken.