«Ich finde es fürchterlich, dass wir so denken»
Mit einem Buch tragen die SRF-Moderatorin Angélique Beldner und der Schriftsteller Martin R. Dean das Thema Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft in die Mitte der Gesellschaft. Nicht als Expertinnen, sondern als Betroffene. Geht das gut?
Von Carlos Hanimann (Text) und Anne Morgenstern (Bilder), 11.10.2021
Das Publikum lachte an den richtigen Stellen. Und das ist in der Schweiz bei einer Lesung zum Thema Rassismus schon mal nicht selbstverständlich.
Da wurde nicht betreten geschwiegen oder peinlich die Hand vor den Mund geschlagen – es wurde lauthals gelacht. Zum Beispiel, weil jemand folgenden Leserbrief geschrieben hatte:
Komisch ist für mich, dass das Wort «N*» für mich keinen negativen Touch hat. (…) Negro ist in vielen Sprachen synonym für Schwarz. Ich trage mit Vorliebe schwarze Hemden. Ich mag schwarz. Ich mag auch «N*».
Im Publikum im «Bierhübeli» in Bern sassen an diesem Abend Mitte September also Leute, die ein Minimum von Antirassismus verstanden hatten; die Rassismus erfahren und trotzdem darüber lachen konnten; die auf Menschenverachtung mit Spott antworteten. Das liess darauf schliessen, dass Angélique Beldner und Martin R. Dean, die zur Vernissage ihres gemeinsamen Buchs geladen hatten, den richtigen Ton angeschlagen hatten. Und das ist in der Schweiz bei einem Buch zum Thema Rassismus schon mal nicht selbstverständlich.
Aber von Anfang an.
Den Rassismus lange heruntergespielt
Angélique Beldner, 45 Jahre alt, arbeitet beim Schweizer Fernsehen als Sprecherin der «Tagesschau» und als Moderatorin der Quizsendung «1 gegen 100». Sie ist gelernte Typografin, war Schauspielerin, Radiomoderatorin und Chefredaktorin, ehe sie 2015 in die Nachrichtenredaktion des Schweizer Fernsehens wechselte: «Die erste Schwarze bei der ‹Tagesschau›», schrieb der «Blick» damals – mit dem Hinweis, dass man ihr das «mit den streng zurückgebundenen Locken» ja kaum ansehe.
Angélique Beldner verbrachte die ersten Lebensjahre in Frutigen im Berner Oberland, im Kindergartenalter zog sie in die Berner Agglomeration. Die Mutter war Lehrerin, der Vater Informatiker in Paris. Geboren war er im westafrikanischen Benin. Die Eltern trennten sich noch vor Beldners Geburt. Und so wuchs Angélique Beldner, ein Schwarzes Mädchen mit krausem Haar, allein auf unter Weissen.
Das prägte sie: Ein Leben lang schob Beldner Rassismus zur Seite, blendete ihn aus, verharmloste ihn. Sie war doch immer akzeptiert gewesen, oder etwa nicht?
Bis vor wenigen Jahren dachte sie, Rassismus sei zwar schlimm, aber nicht etwas, das sie persönlich gross was anginge. Jedenfalls hatte sie sich das über all die Jahre eingeredet.
Dass man ihr ungefragt in die Haare fasste, sie unablässig löcherte, woher sie wirklich kam, dass man ihre morgendliche Radiosendung mit «heissi Schoggi zum Frühstück» bewerben wollte, dass das Schweizer Fernsehen nicht bereit war für eine Schwarze Moderatorin – diese Dinge überging Beldner, spielte sie runter. Und wenn jemand sie rassistisch beschimpfte, dann war diese Person vielleicht ein Schwein, aber nicht unbedingt eine Rassistin. Mit dieser Strategie verdrängte Beldner jahrelang ihre Rassismuserfahrungen.
In diesem Sinne war Beldner die idealtypische Schweizerin mit Migrationsgeschichte: angepasst, sich selbst und ihre Wurzeln vermeidend, die wiederkehrenden Anfeindungen des Umfelds entschuldigend.
Doch dann kam der Sommer 2020.
George Floyd wurde getötet, die Menschen gingen gegen Polizeigewalt auf die Strasse, Rassismus und seine Folgen wurden breit debattiert – auch in der Schweiz. Für Angélique Beldner war das «der Sommer, in dem ich Schwarz wurde», wie sie sagt.
Alle redeten plötzlich über Black Lives Matter. Beldner hörte zu und staunte, wie stark die Meinungen waren und wie schwach die Argumente: Das sei doch nur in den USA ein Problem, so etwas gebe es in der Schweiz nicht …
«Alle wussten, wie darüber reden», sagt Beldner heute. «Dabei redeten sie vor allem viel Unsinn.» Sie selbst hingegen wusste nicht recht, wie sie über ein Thema sprechen sollte, von dem sie sich so lange hatte abgrenzen wollen, das sie aber in ihrem Kern bewegte. «Ich fand die Worte nicht», sagt Beldner.
Sie suchte sie, indem sie einen Film drehte. Als acting reporter wollte sie durch das Land reisen und mit der Kamera festhalten, wo die Schweiz im Sommer 2020 in Sachen Rassismus steht.
Rasch merkte sie: Nur als beobachtende Mikrofonhalterin würde das nichts. Also machte sie es «richtig», brachte sich selbst ein, erzählte ihre eigene Geschichte mit. So wurde aus einem Film über Rassismus ein Film über Angélique Beldner, genauer: über das «Black Awakening» von Angélique Beldner.
Das Ergebnis war mutig, berührend, beklemmend – streckenweise nur schwer auszuhalten. Und nicht zuletzt: sehr erfolgreich.
Eine Flut von Reaktionen
Der Film erschien in der Reihe «SRF Reporter» und sorgte für ein riesiges Echo. Beldner wurde mit Zuschriften überschwemmt: Rund tausend Briefe, Mails und Nachrichten gingen ein. Beldner brauchte Monate, um sie zu beantworten. Eine Auswahl davon hat sie nun in das Buch gepackt, das sie gemeinsam mit dem Schriftsteller Martin R. Dean verfasst hat und das den gleichen Titel trägt wie schon ihr Film: «Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde».
Die Briefe ergeben ein Mosaik – eine Bestandesaufnahme, die in aller Ungeschliffenheit dokumentiert, wie die Menschen in diesem Land über Rassismus denken.
Einer der Briefe kam von Martin R. Dean. Der Aargauer Schriftsteller beschäftigt sich schon lange literarisch mit Mehrfachidentitäten. Für ihn war der Sommer 2020 kein Erweckungserlebnis. In seiner Wahrnehmung änderte sich etwas ganz anderes: Er fühlt sich erst seither gehört.
Dean schrieb Beldner. Vielleicht könnten die beiden an einer öffentlichen Veranstaltung über Rassismus sprechen. Sie kannte seine Bücher, willigte in ein Treffen ein. Sie verstanden sich gut. Er war begeistert von den Reaktionen, die Beldner auf den Film erhalten hatte. Und von der Stärke, die sie ausstrahlte.
Beldner und Dean sprachen über ihre Erfahrungen, ihre Wege, ihre Strategien, über Missverständnisse und über Boshaftigkeiten. Sie tauschten sich aus über Verletzungen und über Schwächen. Kurz: Sie redeten darüber, was der Rassismus in diesem Land mit ihnen gemacht hatte.
Diese Gespräche verdichteten sie zu einem Buch. Und umrahmten es mit ausgewählten Zuschriften, die Beldner auf ihren Film erhalten hatte.
Im Film hatte sich Beldner zum ersten Mal mit ihrer Geschichte als Schwarze Frau in diesem Land auseinandergesetzt, erst zögerlich, dann bestimmter. In den gedruckten Gesprächen mit Dean hingegen liest man eine stolze Schwarze Frau, die eine sehr intensive Auseinandersetzung hinter sich hat: mit sich selbst, mit ihrem Umfeld, aber auch mit ihrem Schwarzen Erbe.
Unverdächtige Absenderin
In den letzten Jahren sind im deutschsprachigen Raum schon einige Erklär-, Erfahrungs- und Ratgeberbücher zum Thema Rassismus erschienen: So konnte man bei Alice Hasters, Tupoka Ogette oder Mohamed Amjahid beispielsweise viel über rassistische Erfahrungen lesen und dabei lernen, wie man Rassismus verlernt und Antirassistin wird. Geschrieben wurden diese Bücher von Autorinnen, die Rassismus nicht nur erlebt, sondern im Idealfall auch theoretisch als Forschungsgegenstand ergründet haben. Sie sind also Expertinnen auf dem Gebiet des Antirassismus.
Nicht so Beldner und Dean. Und das wollen sie auch nicht sein. Sie sind zwei von Rassismus Betroffene, die sich über ihre Erfahrungen austauschen und hoffen, dass ihr Gespräch irgendwo da draussen Widerhall findet.
Am besten ist dieser Austausch immer dann, wenn die beiden nicht grad alles wissen, wenn sie sich zögerlich nach vorne tasten und beispielsweise über ihre persönliche Suche nach der richtigen Sprache reden. Wenn Dean etwa sagt, dass er den Ausdruck PoC für People of Color zwar wissenschaftlich und diskursiv für richtig, aber literarisch für unbrauchbar hält. Oder wenn Beldner erzählt, dass sie sich als Kind erst als «Mischling» bezeichnete, später – als sie merkte, dass dieser Begriff vielleicht für Tiere, aber bestimmt nicht für Menschen passte – als «dunkelhäutig» und erst heute als Schwarz mit grossem S.
An diesen Stellen nehmen Beldner und Dean Leser aus der weissen Dominanzgesellschaft an der Hand und erklären ihnen – noch einmal geduldig –, warum sie künftig auf gewisse Begriffe verzichten sollten. Das mag nach wenig tönen. Aber in einem Land, das Diskussionssendungen zum Thema Rassismus mit der Frage beginnt, ob es diesen überhaupt gibt, ist das ganz offensichtlich nötig. Und man ist den beiden überaus dankbar, dass sie diesen Job übernehmen.
Besprochen wurde das Buch bisher auch nicht in den Feuilletons, sondern in der «Glückspost», in der «Schweizer Familie», in den People-Sendungen. Und das wiederum ist ein Verdienst von Angélique Beldner: Dass sie das Thema Rassismus als unverdächtige Absenderin aus der Mitte der Gesellschaft in die Mitte der Gesellschaft trägt. Sie popularisiert antirassistisches Wissen und erreicht damit Leute, die vermutlich vorher nicht wussten, was PoC bedeutet.
Indem Beldner ihre Geschichte, ihre Verwandlung und ihre Schwarze Identität so öffentlich diskutiert, schlüpft sie in eine neue Rolle. Und setzt sich einem gewissen Erwartungsdruck aus – gerade von Schwarzen und People of Color, die sich schon lange antirassistisch engagieren. Wohl ist ihr dabei nicht immer, wie sie sagt.
«Aber ich habe nun mal die Hand ausgestreckt. Jetzt kann ich sie nicht einfach wieder zurückziehen.» Beldner weiss um ihre Stimme. Sie weiss um ihren Einfluss. Sie fühlt sich deshalb auch verpflichtet, die Gespräche über Rassismus voranzutreiben.
Unbeantwortete Fragen
«Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde» ist ein sehr persönliches Buch geworden, ein intimes gar. Aber – wie schon der Film – ist es stellenweise zu intim. «Warum tut sie das?», fragt man sich unweigerlich, wenn Beldner erzählt, wie sie als Jugendliche ihre Hautfarbe verabscheute, sich danach sehnte, weiss zu sein?
Wozu die Selbstentblössung? Im Gespräch mit Dean führt sie jedenfalls nirgendwohin. Ausser zum Tiefpunkt des Buches.
Dort sagt Beldner, sie sei froh, dass ihre Kinder hellhäutig seien, auch wenn dann von aussen manchmal angezweifelt werde, dass sie die Mutter sei. Dean pflichtet ihr bei: Auch er sei froh um eine hellhäutige Tochter.
«Ich finde es fürchterlich, dass wir so denken», sagt Beldner. Und noch während man ihr innerlich «Ich auch!» zuruft, wechseln die beiden schon zum nächsten Thema.
Dabei könnte die Offenbarung eines so dunklen Geheimnisses ja durchaus Ausgangspunkt für ein spannendes Gespräch werden: Wie kommt es, dass zwei erwachsene, selbstbewusste Menschen so viel Selbstverachtung an den Tag legen? Was hat dieses Land mit ihnen angerichtet, dass sie sich und ihre Herkunft so sehr ablehnen?
Mit diesen Fragen lassen einen die beiden allein. Leider.
Und das wiederum bringt einen zur Frage, warum Angélique Beldner ausgerechnet Martin R. Dean als Gesprächspartner für dieses Buch aussuchte.
Die Antwort lautet vermutlich: Zufall.
Dean war gerade in London, als Beldners Film ausgestrahlt wurde. Er hatte Tage und Wochen in Archiven verbracht und für einen nächsten Roman die Geschichte seiner Vorfahren recherchiert. Diese waren Mitte des 19. Jahrhunderts aus Indien nach Trinidad in der Karibik gebracht worden, wo sie auf Zuckerrohrfeldern arbeiten mussten, die zuvor von versklavten Schwarzen bestellt worden waren. Dean sagt, er habe sich während dieser Recherche in einer grossen Einsamkeit befunden.
Dann sah er Beldners Film, war berührt, fühlte sich verbunden. Denn ihre Geschichte war irgendwie auch seine Geschichte. Anders, aber doch gleich: Auch er war als Kind eines binationalen Paares hier geboren und aufgewachsen und doch wurde ihm, dem Schriftsteller, der mittlerweile im Pensionsalter angekommen ist, ein Leben lang das Gefühl vermittelt, dass er nicht dazugehört.
Und so unterhalten sich in diesem Buch zwei Menschen, die in einer anderen Zeit, auf dem Land und vereinzelt gross wurden. Warum hat Beldner das Gespräch nicht mit einer jungen Frau aus einer Stadt geführt, die vielleicht auch heute noch die gleichen mühseligen rassistischen Erfahrungen macht wie schon Beldner, die aber wach und wütend darauf antwortet? So hatte es Beldner in ihrem Film vor einem Jahr eigentlich angekündigt: «Ich war viel zu lange viel zu nett. Das muss jetzt aufhören.»
Leider redet jetzt in diesem Buch nur die Vergangenheit. Und die Gegenwart, die so in Bewegung ist, bleibt aussen vor.
Nach der Lesung im «Bierhübeli» in Bern fragte jemand aus dem Publikum Angélique Beldner, wie sie denn darauf reagiere, wenn ihr die Leute sagten, sie solle nicht so empfindlich sein.
Angélique Beldner zögerte einen Moment. Dann sagte sie: «Wie reagierst denn du?»
Das war typisch dafür, wie Beldner mit ihrer neuen Rolle umgeht. Sie gibt nicht vor, auf alles eine Antwort parat zu haben, sondern trägt ihre Unsicherheiten offen zur Schau. Sie ist keine Expertin, sie ist Betroffene. Sie antwortet nicht, sie fragt. Sie findet nicht, sie sucht.
Das ist ehrlich. Das ist sympathisch. Und vor allem lässt es Raum für eine Hoffnung: Dass das nicht das Ende, sondern erst der Anfang ist eines langen Gesprächs.
Hinweis: In einer früheren Version schrieben wir, Angélique Beldner sei in Frutigen aufgewachsen. Richtig ist: Sie lebte dort nur die ersten Jahre bis zum Kindergarten, danach zog sie in die Berner Agglomeration.
Der Autor schreibt «Schwarz» in diesem Beitrag gross. Das Adjektiv meint keine vermeintliche Hautfarbe, sondern ist eine politische Selbstbezeichnung. Sie drückt Zugehörigkeit zu einer Gruppe Menschen aus, die auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen wird und gewisse Erfahrungen teilt.