Die unglaublichen Vorgänge in Frauenzelle Nummer drei
Als Sprecherin des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny sass Kira Jarmysch schon mehrfach im Gefängnis. Ihre Erlebnisse hat sie auf seinen Rat hin literarisch verarbeitet. Nun ist ihr Roman auf Deutsch erschienen.
Von Simone Brunner (Text) und Agnès Ricart (Illustration), 07.10.2021
Wer sich in Russland öffentlich gegen den Präsidenten Wladimir Putin stellt, dessen Lebenslauf bekommt gerne mal eine neue Rubrik: Aufenthalte im Gefängnis. Das Online-Lexikon Wikipedia verfeinert diese besonderen Stationen in der Biografie einer jeden berühmten Kremlkritikerin bereits mit eigenen Unterkapiteln: Haft, Verurteilung oder Strafverfahren.
Kira Jarmysch, 31 Jahre alt, russische Staatsbürgerin, Absolventin einer renommierten staatlichen Kaderschmiede in Moskau und seit 2014 die Pressesprecherin des Oppositionellen Alexei Nawalny, war schon drei Mal im Gefängnis. Das erste Mal in Jahr 2018 fünf Tage für die Online-Übertragung eines Protestmarsches, später 25 Tage für die Verbreitung eines Tweets und das letzte Mal, Anfang dieses Jahres, neun Tage für die Organisation von Massenprotesten über Social Media. Sie kennt die Sonderhaftanstalt, eine Besonderheit des russischen Strafvollzugs, wo Kleinkriminelle, Verkehrssünderinnen und Regimekritiker für ihre Vergehen, ob real oder konstruiert, mehrere Tage in einer engen, verrauchten Gemeinschaftszelle sitzen. Auf russisch heisst sie spezprijomnik, wörtlich übersetzt: «Spezialempfänger».
Eines Tages erhielt sie dort einen Brief von ihrem Chef, der zufällig gerade auch wieder in einem spezprijomnik sass. «Warum schreibst du nicht ein Buch über all das hier?», habe Alexei Nawalny sie gefragt. Und sie habe zuerst gedacht, das sei wieder einer seiner Scherze, erzählt Kira Jarmysch in einem Videogespräch mit der Republik. Als sie wieder freigekommen sei, so Jarmysch weiter, habe Nawalny sie bestärkt, es doch einmal zu versuchen. Und so kam es dann auch. Immerhin wollte Jarmysch ein Buch schreiben, seit sie denken kann.
Jarmysch schrieb, verwarf, schrieb, verwarf. Bis 2020 schliesslich ihr Roman «Die unglaublichen Vorgänge in der Frauenzelle Nummer drei» auf Russisch herauskam. Mitte September ist das Buch in der Übersetzung von Olaf Kühl auf Deutsch erschienen. Titel der deutschen Ausgabe: «Dafuq», Slang für «what the fuck».
Kira Jarmysch: «Dafuq». Aus dem Russischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 416 Seiten, ca. 34 Franken.
Nawalny ist also nicht nur der wichtigste Oppositionspolitiker und Antikorruptions-Aktivist des Landes, sondern nebenbei auch der wohltätige Mentor seiner Mitarbeiterinnen, damit diese sich endlich ihren lange gehegten Lebenstraum erfüllen?
Als Nawalnys Pressesprecherin weiss Jarmysch um die Wirkung solcher Geschichten. Aber tatsächlich ist das Buch keine pfiffige Nawalny-PR, gepresst zwischen zwei Buchdeckel. Das schreibt auch die unabhängige russische Presse, die mitunter ein schwieriges Verhältnis zu Nawalny pflegt.
Es sind viele persönliche Geschichten, die Jarmysch im Roman verdichtet hat. Sechs Frauen, die sich ihre Haftzeit in einer Gemeinschaftszelle auf engstem Raum zwischen drei Stockbetten um die Ohren schlagen müssen, sich einander anvertrauen und aus ihrem Leben erzählen.
Szenen aus dem Gefängnis light
So erfährt die Leserin, wie sich die tablettensüchtige Irka, die ihre Alimente nicht gezahlt hat, durch das Leben schlägt. Wie sich Maja, eine Oligarchengeliebte auf Abruf, ihren luxuriösen Lebensstil und ihre Schönheitsoperationen finanziert. Dass Natascha, die stotternde Kleinkriminelle, schon im Straflager war und dort die harten Seiten des russischen Strafvollzugs kennengelernt hat. Und nicht zuletzt lernen wir Anja Romanowa, die Romanheldin, kennen, die bei einer Anti-Putin-Demonstration festgenommen wurde und jeden Tag ihrer zehntägigen Haftzeit in einem eigenen Kapitel protokolliert. «Dafuq» ist halb Gefängnisroman, halb Coming of Age im heutigen Russland.
Anja trat von einem Bein aufs andere und sah sich um. Ihr fiel eine Szene aus Trainspotting ein, wo der Held gezwungen ist, etwas aus der schlimmsten Toilette von ganz Schottland zu fischen. Offensichtlich war er nie auf der Polizeidienststelle des Rayons Twerskoi gewesen. Der schartige Fliesenboden war mit flüssigem Unrat bedeckt, am Spülkasten baumelte eine rostige Kette. Dem Klosett, einem Loch im Fussboden, kam Anja dann doch lieber nicht zu nahe.
Der russische Knast ist ein eigener Kosmos, prägend für die Subkultur, besungen in den russischen Schlagern, den «Schansons» und sogar Wiege eines eigenen Sprachjargons. Statistisch gesehen ist fast jeder fünfte russische Bürger vorbestraft.
An die Traditionen der russischen Gefängnisliteratur knüpft Jarmysch allerdings nicht an.
Mit der düsteren, verkopften Seelenschau eines Fjodor Dostojewski, der selbst jahrelang in der sibirischen Verbannung lebte, oder der existenzialistischen Schwere des Gulag-Chronisten Alexander Solschenizyn hat ihr Schreiben nichts gemein. Der Moskauer spezprijomnik, den Jarmysch schildert, ist dagegen nur ein «Gefängnis light»: Kein sibirisches Straflager, wo die Insassen erniedrigt, gequält und gefoltert werden. Sondern ein Ort, wo sie für ein paar Tage in verrauchten, überfüllten Zellen ihren «administrativen Arrest» absitzen.
Es ist oft schwer auszumachen, wo die Fiktion der Romanheldin endet und die Realität der Romanautorin beginnt. Der Roman enthalte «viele autobiografische Elemente», sagt Jarmysch im Gespräch.
Fast eine Biografie
Es ist ein Freitagabend, kurz vor den Duma-Wahlen vom 17. bis zum 19. September, als Jarmysch über Video mit der Republik spricht. Sie sitzt auf einer dunklen Couch, fröhlich, konzentriert, eloquent und neugierig. Man merkt ihr nicht an, dass es keine zwei Wochen her ist, seit sie aus Russland geflohen ist, bevor die nächste Haftstrafe in Kraft tritt, diesmal nicht mehr nur ein paar Tage, sondern eineinhalb Jahre Freiheitsentzug.
Ist sie das jetzt, die politische Emigration?
Jarmysch winkt ab. Im Ausland fühle sie sich der «russischen Wirklichkeit näher» als in Moskau, wo sie zuletzt einen siebenmonatigen Hausarrest in ihrer Wohnung absitzen musste – ohne Internet. Wie solle sie denn unter diesen Umständen arbeiten?
Und Arbeit gab es genug, vor diesen Duma-Wahlen. Nawalny ist in Haft, doch sein Team versuchte, mit der Handy-App «umnoje golosowanie» (auf Deutsch: intelligentes Abstimmen) das Machtmonopol der Kremlpartei «Einiges Russland» zu brechen. Mit beschränktem Erfolg: Die Behörden hatten Google und Apple zuvor gezwungen, die Nawalny-App aus ihren Online-Stores zu löschen, und «Einiges Russland» ertrickste sich bei den Wahlen mit Repressionen, Schikanen und Wahlfälschungen knapp 50 Prozent der Stimmen.
In «Dafuq» erzählt Jarmysch ein Stück weit auch ihre eigene Geschichte. Gerade das Heranwachsen in der Putin-Ära und die späte Politisierung der Protagonistin liest sich wie ihre Biografie: Sowohl Jarmysch als auch die Romanheldin Anja sind 1989 in einer russischen Stadt fernab der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg geboren, beide ziehen für das Studium an der gleichen Prestige-Uni nach Moskau. Jarmyschs Eltern lassen sich scheiden, als sie noch ein Kind ist – sie wächst bei ihrer oppositionell eingestellten Mutter auf, die noch in den Wehen eine Rede des sowjetischen Menschenrechtlers Andrei Sacharow gehört haben will – eine Anekdote, die sich auch im Roman wiederfindet.
Für Politik interessiert sich Jarmysch aber erst mehr als 20 Jahre später. Gegenüber Nawalny empfand Jarmysch zuerst nicht gerade Sympathie. Sie habe in ihm nicht mehr als einen woschdik gesehen, sagt sie – ein Wort, das auf Deutsch etwas unglücklich und auch ziemlich unzureichend, aber noch immer am ehesten mit «kleiner Anführer» übersetzt werden kann. Wobei Jarmysch hier eher seine treue Anhängerschaft meint als die nationalistischen Parolen aus seiner politischen Anfangszeit. Heute sagt sie über ihn: «Er ist der mutigste und direkteste Mensch, den ich kenne.»
Die Massenproteste gegen die Wahlfälschung bei den Duma-Wahlen 2011 reissen sie, wie auch ihre Romanheldin, aus der politischen Apathie. Jarmysch geht auf die Strasse, liest die Blogs der Kremlkritiker, verfolgt den umstrittenen Korruptionsprozess gegen Nawalny, hört seine flammenden Reden und schreit bei den Protesten gegen seine drohende Haftstrafe an, die ihn für fünf Jahre hinter Gitter gebracht hätte. Der Oppositionspolitiker kommt frei, für Jarmysch fühlt es sich ein bisschen an wie ein Triumph, zu dem auch sie etwas beigetragen hat. So sehr, dass sie unbedingt weitermachen will.
Wenige Wochen danach, bei den Bürgermeisterwahlen 2013, verteilt sie schon Nawalnys Flugzettel, ein Jahr später bewirbt sie sich für die ausgeschriebene Stelle als seine Pressesekretärin. Ihren späteren Chef trifft sie dabei aber nicht, der muss nämlich gerade wieder einmal eine mehrtägige Haftstrafe absitzen – in der Sonderhaftanstalt, dem spezprijomnik.
Als Jarmysch, damals 23 Jahre alt, in der ersten Runde der Vorstellungsgespräche gefragt wird, was sie tun würde, wenn es bei ihr zuhause eine Razzia gäbe, sagt sie: «Zuerst wäre ich einmal verdammt stolz auf mich, weil das ja bedeuten würde, dass ich meine Arbeit gut gemacht habe.»
Sie bekommt den Job.
Die Vergiftung Nawalnys
Über die Jahre wandelt sich Jarmysch immer mehr zur Fachfrau für Nawalnys Videos in den sozialen Netzwerken. Die Videos werden zum Markenzeichen des Teams, inklusive Drohnenflügen über die versteckten Luxuspaläste der russischen Elite. Sie selbst sagt lapidar dazu: «Ich hatte immer weniger zu tun, weil es in Russland von Jahr zu Jahr weniger freie Medien gibt.» Wer braucht eine Pressesprecherin, wenn es keine freie Presse gibt? Umso weniger, wenn Nawalny im Staatsfernsehen totgeschwiegen wird und Putin nicht einmal den Namen des Oppositionellen in den Mund nimmt. Putin nennt ihn wahlweise «Blogger» oder den «Berliner Patienten».
Heute leitet Jarmysch die Videoproduktion von Nawalnys Medienunternehmen (Youtube: 6,5 Millionen Abonnentinnen) und führt immer wieder selbst als Host durch die Formate. Zum Beispiel lud sie unlängst ein Video über die Immobilien der ersten Frau im All hoch, die sowjetische Kosmonautin Walentina Tereschkowa, die heute für die Kreml-Partei «Einiges Russland» in der Duma sitzt.
Als Pressesprecherin reiste Jarmysch mit Nawalny durch das ganze Land – bis zu seiner Vergiftung im August 2020. Sie sass im Flugzeug neben Nawalny, als das Flugzeug im sibirischen Tomsk abhob und es ihrem Chef neben ihr immer schlechter ging. «Rede mit mir», sagte er zu ihr, bis er nach einigen Minuten aufstand und später auf der Flugzeugtoilette zusammenbrach.
«Niemals hätte ich mir gedacht, dass es Nowitschok ist», sagt Jarmysch.
Die Vergiftung hätte sie damals fast aus der Bahn geworfen, schrieb sie am Jahrestag auf Instagram, dieser «unerträgliche und ausweglose Tag, jede Erinnerung an ihn ist eine einzige Qual». Es ist der einzige Moment im Gespräch mit der Republik, in dem sie ins Stocken gerät.
Nawalny überlebt, kuriert sich an der Berliner Charité aus und reist im Januar dieses Jahres wieder zurück nach Moskau – wo er von der Passkontrolle weg verhaftet und später zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wird. Seither gehen die russischen Behörden nicht nur gegen Nawalny vor, sondern auch gegen sein Netzwerk – mit aller Härte. Im Sommer stufte ein Moskauer Gericht Nawalnys Stiftung «Fonds im Kampf gegen Korruption» und alle seiner Wahlkampfstäbe im Land als «extremistisch» ein und stellte sie damit auf eine Stufe mit Terrororganisationen wie al-Qaida. Seither operiert Nawalnys Team im Untergrund, fast alle führenden Mitarbeiter sind mittlerweile ins Ausland geflohen.
Widerstand mit Humor
Dass es den Roman «Dafuq» überhaupt gibt, erzählt aber nicht nur etwas über Jarmysch selbst, sondern auch darüber, wie das engste Nawalny-Milieu tickt.
Junge, gut ausgebildete und digitalaffine Russinnen in ihren Zwanzigern und Dreissigern sind das Rückgrat der Stiftung «Fonds im Kampf gegen Korruption», die Nawalny 2011 gründete. Ein Kollektiv, das jeder Repression des Regimes – zumindest nach aussen – mit Humor, Kreativität und Inszenierung begegnet, nie mit Furcht, Einschüchterung oder Rückzug.
Mehrere Haftstrafen? Intellektueller Stoff für einen Roman.
Ein Jahr Militärdienst, zu dem Mitarbeiter Ruslan Schaweddinow im Corona-Jahr verdonnert wurde? Ideengeber für eine Silvester-Youtube-Show: «Der Typ, der 2020 verpasste».
Eine Razzia durch Polizisten? Die Kulisse, vor der sich Nawalnys Ärztin Anastasia Wassiljewa filmte, wie sie «Für Elise» auf dem Klavier spielte.
Die Repression, sie ist nur noch eine humoristische Pointe.
«Das Lachen befreit nicht nur von der äusseren, sondern vor allem von der inneren Zensur, der in vielen Jahrhunderten im Menschen erzeugten Angst vor dem Heiligen, dem Verbot, der Vergangenheit und der Macht», schrieb der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin 1940. Dass es dem Geheimdienst nicht einmal mit einer Spezialeinheit und dem tödlichen Gift Nowitschok gelungen ist, Nawalny endgültig aus dem Weg zu räumen, machte er zu seinem bisher grössten Clou. Nawalny gab sich als Geheimdienstler aus und rief einen Agenten aus dem Mordkommando an – und brachte ihn dazu, zu erzählen, wo er das Gift bei ihm angebracht hatte: auf der Innenseite seiner Boxershorts. Titel des Youtube-Videos (29 Millionen Klicks): «Ich habe meinen Mörder angerufen. Und er hat gestanden.»
Der bissige Humor – eine Bewältigungsstrategie?
«Ich versuche, allen zu beweisen, dass der Kampf gegen das Regime Spass macht», sagte Nawalny einmal selbst dazu.
«Alexei ist ein ironischer und selbstironischer Mensch und macht nun mal gerne Witze», sagt Jarmysch. Das gelte für viele in seinem Team. «Wenn du zur Dramatisierung neigt, dann ist dieser Job nichts für dich. Wir sind alle sehr fröhliche und aufgeweckte Menschen.»
Starke Frauen und Maulhelden
Doch was nützt die beste Stimmung, wenn inzwischen der Chef hinter Gittern ist, die meisten Mitarbeiterinnen aus dem Land geflohen sind und es keine Aussicht auf Proteste gibt? «Ich bin optimistisch», sagt Jarmysch. «Wir haben keinen Wunderknopf gegen Putin.» Aber die Unzufriedenheit mit dem autoritären System oder der zunehmenden Armut im Land werde früher oder später die Menschen wieder auf die Strasse treiben.
Jarmysch verarbeitet in ihrem Roman noch eine weitere Ebene: die Rolle der Frauen in der russischen Gesellschaft. Anjas Zellengenossinnen mögen gebrochene, vom Schicksal gebeutelte Figuren sein. Aber sie sind stark, solidarisch und sprechen sich gegenseitig Mut zu, während die Männer Maulhelden sind, immer auf der Suche nach dem eigenen Vorteil, ohne Rückgrat und Gewissen. Polizisten, die insgeheim auf die Staatsmacht schimpfen, ohne aber auch nur ein einziges Mal aufzumucken. Ein Vater, der Romanowa beschwört, ihren Kampf gegen das herrschende System aufzugeben. Männliche Systemerhalter.
Das mag etwas überspitzt sein. Jarmyschs Figuren erinnern ohnehin eher an Comic-Figuren oder Sitcom-Charaktere, an manchen Stellen der Dialoge muss man beim Lesen laut auflachen. Die Autorin orientiert sich mehr am schwarzen Humor westlicher Filmklassiker («Trainspotting») oder dem surrealen Irrsinn der amerikanischen Nachkriegsliteratur als an den russischen Klassikern. Die Handlung in «Dafuq» kippt immer wieder ins Absurde, ins Surreale, ins Fantastische, unheimliche und rätselhafte Visionen, die Anja immer wieder heimsuchen: magischer Realismus aus dem Frauenknast.
Irka schlief nicht, sie sass auf dem Bett. Im rostigen Licht der einzigen Glühlampe sah Anja ihre Gestalt, die unnatürlich hoch aufragte. Anja wusste genau, dass Irka eher klein gewachsen war, jetzt aber berührte ihr Kopf fast das Bett über ihr. Wäre sie als Riesin vor ihr gestanden, hätte Anja das weniger Angst eingejagt als dieser kaum fassbare, doch unmögliche, wahnwitzige Anblick. Irka murmelte vor sich hin – Anja sah die fieberhafte Bewegung ihrer Lippen, doch war kein Laut zu hören. Es sah aus wie ein Gebet oder eine Verhexung, und Anja spürte, wie Panik sie überfiel – was da vor sich ging, schien der reine, destillierte Wahnsinn zu sein.
Durch den gesamten Text zieht sich ein feministischer Grundtenor der Ermächtigung. Die weibliche Perspektive aus dem Knast habe sich regelrecht «aufgedrängt», ein intellektueller Gegenschlag zu den aufdringlichen Männern in der Haftanstalt, immer nur einen Handgriff, eine frauenfeindliche Zote oder eine anzügliche Wortmeldung vom nächsten Übergriff auf die wenigen Insassinnen im Knast entfernt.
Jarmysch: «Im Gefängnis habe ich erst eine Ahnung davon bekommen, mit welchem Sexismus die meisten Frauen in Russland zurechtkommen müssen.» Der Chauvinismus des russischen Gefängnisses ist der Chauvinismus der russischen Gesellschaft.
Und der Kreml?
Jarmyschs Buch, das in einem regimekritischen Verlag veröffentlicht wurde, sorgte schon für einen Skandal in der russischen Literaturszene. Der Roman sollte in diesem Frühling bei der grössten russischen Buchmesse non/fiction in Moskau im grössten Veranstaltungssaal vorgestellt werden. Die Buchpräsentation wurde aber wenige Tage davor aus dem Veranstaltungskalender gelöscht. Ein Anwalt hat die russische Staatsanwaltschaft bereits dazu aufgerufen, «Dafuq» auf verbotene Homosexuellen-Propaganda («lesbische Liebesszenen») sowie die Verherrlichung von Drogen («Instruktionen zum Haschischrauchen») zu untersuchen.
Ein Vorwurf, bei dem es Jarmysch schwerfällt, ernst zu bleiben. Es könnte durchaus sein, dass der Roman am Ende in Russland verboten wird. Und dann? «Gute PR», sagt Jarmysch.