Der mächtigste Beamte der Schweiz

Die Schweiz hat mit Stefan Blättler einen neuen Bundesanwalt. Wer bei seiner Wahl die Fäden zog. Seine verblüffende Antwort auf die Frage, wo er Schwerpunkte legen will. Und warum das Amt des obersten Strafverfolgers anfällig für Einflussnahme ist.

Von Lukas Häuptli, 30.09.2021

Stefan Blättler soll also für Ruhe sorgen in der Bundes­anwaltschaft. Nur: Straf­verfolgung sorgt immer für Unruhe. Christian Beutler/Keystone

Gewählt ist – mit 206 Stimmen – Stefan Blättler. Vereinigte Bundes­versammlung, Geschäft 20.210, Wahl des Bundes­anwalts. Mittwoch­morgen, 9.09 Uhr, am Schluss geht es ganz schnell.

Am Anfang ging es sehr, sehr langsam.

Im Juli 2020 hatte Blättlers Vorgänger Michael Lauber wegen seiner geheimen Treffen mit dem Fifa-Präsidenten Gianni Infantino zurücktreten müssen. Andernfalls hätte ihn das Parlament abgewählt. Seither sind fünfzehn Monate vergangen, und jetzt sind alle froh, dass die Schweiz wieder einen Bundes­anwalt hat. Froh, dass wieder Ruhe herrscht.

Stefan Blättler also. 62, promovierter Jurist und, wie viele sagen, Polizist durch und durch. Sein Vater war Nidwaldner Polizei­kommandant, er selbst Kommandant von Police Bern; so nennen die Berner ihre Kantons­polizei. Ende Jahr wäre er zurück­getreten und hätte, so der Plan, die Leitung des Schweizerischen Polizei-Instituts übernommen (das Polizisten aus- und weiterbildet). Alles in allem arbeitete Blättler 32 Jahre, die Hälfte seines Lebens, für die Polizei. Es hätten noch ein paar Jahre mehr werden können.

Doch jetzt: Bundesanwalt.

«Stefan Blättler hat einen enormen Leistungs­ausweis», sagt Andrea Caroni, FDP-Ständerat und Präsident der Gerichts­kommission, welche die Wahl des Bundes­anwalts für das Parlament vorbereitet hat. «Er ist führungs­erfahren und krisen­resistent. Und er wird Ruhe in die Bundesanwaltschaft bringen.»

«Stefan Blättler stellt seine Person nicht in den Vorder­grund und ist unaufgeregt», sagt Sibel Arslan, National­rätin der Grünen und Mitglied der Gerichtskommission.

«Stefan Blättler wird die Bundes­anwaltschaft stabilisieren», sagt ein Kader­mitarbeiter der Bundesanwaltschaft.

«Wichtig ist, dass die Bundes­anwaltschaft in Ruhe arbeiten kann», sagt Stefan Blättler selbst.

Ruhe.

Endlich.

Zum Amt «angeschoben»

Stefan Blättler gilt als korrekt, sachlich, besonnen (und gelegentlich spröde). Das attestieren ihm selbst diejenigen, die seiner Polizei Racial Profiling und unverhältnis­mässige Einsätze in der Berner Reitschule vorwerfen.

Selbstverständlich, es gibt auch Vorbehalte gegen seine Wahl. Zu alt. Keine Erfahrung als fall­führender Staats­anwalt. Keine Erfahrung in der Verfolgung internationaler Finanz­kriminalität. Und: heimlicher Kandidat der FDP.

Noch im letzten Frühling, knapp ein Jahr nach Laubers Rücktritt hatte den 62-Jährigen niemand im Blick. Dann wurde er zum Amt «angeschoben», wie Blättler am Telefon mit der Republik selbst sagt.

«Angeschoben von wem?»

Dazu will sich Blättler nicht äussern.

Zwei gut informierte Personen sagen unabhängig voneinander, dass eine Gruppe um den Berner Regierungs­rat Philippe Müller (Blättlers politischer Vorgesetzter), Berns Ex-Polizei­direktor Hans-Jürg Käser und Ständerat Andrea Caroni die Wahl eingefädelt habe. Alle drei sind Mitglieder der FDP. Caroni sagt dazu nur: «Die Gerichts­kommission ist im letzten Frühling proaktiv geworden und hat ihre Fühler nach möglichen Kandidaten und Kandidatinnen ausgestreckt.»

Doch deshalb Kritik an Stefan Blättler? Geschenkt. Er steht für Stabilität. Das war für National- und Stände­rat aus zwei Gründen ausschlag­gebend.

Der erste: Stefan Blättler ist der Gegen­entwurf zu Michael Lauber. Dieser hatte die Bundes­anwaltschaft von 2012 bis zum erzwungenen Rücktritt 2020 geleitet und besass unbestrittene Fähigkeiten. Er führte die Behörde zu mehr Effizienz und war bemüht, ihre Arbeit öffentlich zu erklären.

Doch spätestens von 2015 an, als Lauber an der Seite von US-General­staats­anwältin Lynch öffentlich erklärte, jetzt ermittle die Bundes­anwaltschaft gegen die Fifa, kippte das Bild. Lauber geriet in den Ruf eines Selbst­inszenierers. Er schien am Scheinwerfer­licht der internationalen Medien mehr und mehr Gefallen zu finden.

Dazu kamen umstrittene Personal­entscheide, Reorganisationen der Bundes­anwaltschaft und Interventionen in Straf­verfahren, die Laubers Reputation in der Behörde selbst gefährlich unter­minierten. Den Rest besorgte er mit seinen Geheim­treffen mit Fifa-Präsident Gianni Infantino – und damit, wie er mit der öffentlichen Kritik an diesen Treffen umging. Unvergessen, wie der 54-Jährige 2019 vor den Medien behauptete, die Vorwürfe gegen ihn würden eine «institutionelle Krise» herauf­beschwören. Le Ministère public, c’est moi.

Der zweite Grund dafür, dass sich das Parlament nach Ruhe sehnt: Die Suche nach Laubers Nachfolger ging sehr langsam voran und gestaltete sich ziemlich unruhig. Doch dazu später.

Strafe muss nicht, Strafe kann sein

Stefan Blättler soll also für Ruhe sorgen. Doch Ruhe und Straf­verfolgung schliessen sich aus. Straf­verfolgung sorgt immer für Unruhe, Straf­verfolgung der Bundes­anwaltschaft im Besonderen.

Dazu ein paar grundsätzliche Bemerkungen.

Strafe muss sein. Das ist ein zwar eingängiges, aber falsches Sprichwort. Es legt nahe, dass ein Auto­matismus zwischen Norm­verstoss und Sanktionierung dieses Norm­verstosses besteht. Dass, wer eine Regel bricht, für den Regelbruch zwingend bestraft wird.

Doch den Auto­matismus gibt es nicht. Wann ein Verstoss zur Sanktion führt, hängt von vielem ab: vom Regel­werk natürlich, aber auch von Macht­gefällen, politischen Verhältnissen, persönlichen Verhältnissen, Zufällen. Deshalb hat ein Norm­verstoss manchmal die Sanktion zur Folge. Manchmal aber auch nicht. Deshalb lautet das Sprichwort korrekt: Strafe kann sein.

Nehmen wir die Erziehung: Auch da gibt es Regeln, aber auch da ahnden die Eltern Regel­brüche ihrer Kinder nicht immer gleich. Die Strafe hängt – zum Beispiel – davon ab, wie konsequent Vater und Mutter sein möchten. Wie ärgerlich ihr Arbeits­tag war. Oder ob jemand von ihnen Geburtstag hat.

Natürlich ist das etwas anderes, sagen Strafrechtler und verweisen gern auf das Legalitäts­prinzip. Das besagt, dass der Staat ohne rechtliche Grundlage nicht strafen darf. Und dass umgekehrt die rechtliche Grundlage das Strafen des Staates bestimmt. Strafe muss sein – wenn es denn das Gesetz vorschreibt.

Auch Stefan Blättler sagt im Gespräch: «Es ist klar, dass sich die Bundes­anwaltschaft ans Legalitäts­prinzip halten muss.» Das ist richtig. Aber ebenso richtig ist: Rechtliche Grundlagen bieten immer auch Spiel­räume. Erweitertes Opportunitäts­prinzip könnte man das nennen.

Kriminalitätspolitik per Ressourcen­verteilung

Auch wegen dieser Spielräume stellen sich dem Bundes­anwalt und der Bundes­anwaltschaft grosse Fragen. Wo legt sie ihre Schwerpunkte? Welche Delikte und Delinquenten verfolgt sie? Mit welcher Konsequenz? Und welche verfolgt sie nicht?

Das Gesetz und die politischen Verhältnisse bilden den Rahmen für die Antworten. Konkret die Straf­prozessordnung (StPO) und das Budget des Bundes. Gemäss Artikel 23 der StPO muss die Bundes­anwaltschaft in erster Linie Straftaten gegen den Staat sowie internationale Fälle von Terror, organisierter Kriminalität, Bestechung und Geld­wäscherei verfolgen. Dafür stellt ihr das Parlament pro Jahr rund 77 Millionen Franken zur Verfügung.

Und spätestens da fangen die Spielräume an. Es liegt in der Kompetenz des Bundes­anwalts, wo in seiner Behörde er die 77 Millionen einsetzt, in welcher seiner drei Abteilungen er mehr Personal anstellt und wo er so den Schwer­punkt der Straf­verfolgung legt. Eher bei der Verfolgung islamistischer Terroristen aus dem Nahen Osten? Eher bei Mitgliedern italienischer Mafia-Organisationen? Oder eher bei der Verfolgung geld­waschender Banker und Banken in der der Schweiz?

Ein Kader­mitarbeiter der Bundes­anwaltschaft sagt dazu: «Der Bundes­anwalt muss entscheiden, wie er die Ressourcen verteilt. Für alles reicht das Geld nicht.» Und er ergänzt: «Mit der Ressourcen­verteilung macht der Bundes­anwalt faktisch Kriminalitäts­politik.»

Strafverfolgung sorgt immer für Unruhe, aber in der Schweiz sorgt die Verfolgung inländischer Wirtschafts­straftäter für noch mehr Unruhe als die von – sagen wir einmal – ausländischen Korruptions­delinquenten. Sie sorgt für Unruhe in einem Land, in dem die Finanz­branche etwa 10 Prozent des Brutto­inland­produkts erwirtschaftet, 5 Prozent der Arbeits­plätze geschaffen hat und in dem Gross- und auch mehrere Privat­banken faktisch noch immer als system­relevant gelten.

Die Unruhe zeigte sich auch in der Ära Lauber. Alle Fälle, welche die Bundes­anwaltschaft in die internationalen Schlag­zeilen brachten, waren Fälle mutmasslicher Wirtschafts­kriminalität: allen voran die Fifa-Verfahren, dann aber auch die Verfahren wegen mutmasslicher Bestechung und Geld­wäscherei rund um den brasilianischen Ölkonzern Petrobras und um den malaysischen Staats­fonds 1MDB.

Der Bundesanwalt hat den Spiel­raum und die Macht mitzubestimmen, wer in der Schweiz verfolgt wird. Wer nicht. Wo Strafe sein muss. Und wo Strafe sein kann.

Wo, Herr Blättler, legen Sie die Schwer­punkte? Bei der Verfolgung welcher Delikte?

«Das kann ich noch nicht sagen», antwortet Stefan Blättler. «Dafür ist es zu früh. Ich will zuerst die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundes­anwaltschaft kennen­lernen und mir ein eigenes Bild der Behörde machen.»

Eine bemerkens­werte Aussage, denn Blättlers Macht und Spiel­raum gehen noch weiter. So heisst es im Straf­behörden­organisations­gesetz, Artikel 13, Absatz 1 und Absatz 2: «Der Bundes­anwalt kann Weisungen erlassen.» Und: «Zulässig sind auch Weisungen im Einzelfall über die Einleitung, die Durchführung oder den Abschluss eines Verfahrens.» Lienhard Ochsner, ehemaliger Staats­anwalt des Bundes, sagt dazu: «Der Bundes­anwalt ist der mächtigste Beamte der Schweiz. Dank dem umfassenden Weisungs­recht kann er Straf­fälle faktisch in Eigen­regie entscheiden. Das birgt das Risiko, dass der Bundes­anwalt auf informellen Wegen von mächtigen Interessen­vertretern vereinnahmt wird.»

Diese Machtfülle macht das Amt des Bundesanwalts anfällig für allerlei Einfluss­versuche – von Anwälten, PR-Profis und Politikerinnen.

Auch das zeigte sich in der Amtszeit von Michael Lauber. Der Bundes­anwalt hatte eine auffällige Nähe zum Zürcher Anwalt Lorenz Erni gepflegt. Dieser wiederum war Verteidiger des ehemaligen Fifa-Präsidenten Joseph Blatter, gegen den die Bundes­anwaltschaft ein Straf­verfahren führte. Und dieser soll ein Mandat der Credit Suisse gehabt haben, in deren Umfeld Laubers Behörde ebenfalls ermittelte. Das bildete den Nähr­boden für Interessen­konflikte aller möglichen und unmöglichen Art.

Die unruhige Wahl

Die Gefahr der Einfluss­nahmen und Vereinnahmungen bestand auch bei der Suche nach dem Nachfolger von Michael Lauber – und damit zurück zum Anfang dieser Geschichte. Die Gerichts­kommission hatte das Amt des Bundes­anwalts im letzten September ein erstes Mal ausgeschrieben.

Bald schien klar, dass der Genfer General­staats­anwalt Olivier Jornot, auch er ein FDP-Mitglied, die besten Karten hatte. Doch Jornot hatte ein Problem: Er hatte 2014 ein Verfahren gegen den Genfer SVP-National­rat Yves Nidegger geführt und diesen schliesslich wegen Verstosses gegen das Strassen­verkehrs­gesetz per Straf­befehl verurteilt.

Nidegger aber ist Mitglied der Gerichts­kommission, die Jornot dem Parlament zur Wahl hätte vorschlagen wollen. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass der SVP-National­rat mit allen Mitteln gegen den Vorschlag lobbyierte. Zwar wollen sich weder er noch andere Kommissions­mitglieder dazu äussern. Doch die Gerichts­kommission schrieb im letzten November, dass keiner der Kandidaten «sämtliche persönlichen und beruflichen Voraus­setzungen mitbringt, die es für ein derart exponiertes Amt braucht». Auch Jornot nicht.

Es folgte eine zweite Ausschreibung. Favorisiert waren diesmal der ehemalige Zürcher Polizei­kommandant Thomas Würgler und die ehemalige stellvertretende Bundes­anwältin Maria-Antonella Bino. Würgler scheiterte an seiner angeblichen SVP-Nähe und einer damals noch bestehenden, in der Zwischen­zeit aber aufgehobenen Alters­obergrenze, Bino an ihrer angeblichen Nähe zum Genfer Bankenplatz.

Auch da also Lobbying, Einfluss­nahmen, Angriffe. Weitere Beweise dafür, was man schon wusste: wie exponiert das Amt des Bundes­anwalts ist.

Am Mittwoch­morgen hat die Vereinigte Bundes­versammlung Stefan Blättler mit 206 von 208 gültigen Stimmen zum Bundes­anwalt gewählt. Das ist ein Glanzresultat.

Er soll – endlich – für Ruhe sorgen.

Diese Ruhe wird ein, vielleicht zwei Jahre halten. Spätestens dann aber wird wieder – so viel ist absehbar – Unruhe in die Bundes­anwaltschaft einkehren. Das liegt in der Natur der Sache. In der Natur der Strafverfolgung.