«Die Frage nach dem Lebensstil wird sich bald sehr stark stellen»
Warum ein einseitiger Fokus auf die Klimakrise vom wahren Ausmass der Probleme ablenkt und Wähler ein garantiertes Recht auf Fakten haben sollten. Transformationsforscherin Maja Göpel blickt auf einen deutschen Wahlkampf zurück, in dem der Kampf um Privilegien Zukunftsfragen verdrängt hat.
Ein Interview von Angela Richter, 25.09.2021
Frau Göpel, vergangenes Jahr äusserten Sie in einem Interview die Hoffnung, dass die Wahlen 2021 in Deutschland fair ablaufen und die Spaltung der Gesellschaft nicht noch weiter befeuern. Stattdessen wurde der Wahlkampf richtig schmutzig: Es ging weniger um Inhalte als um Angriffe auf den politischen Gegner bis hin zu Lügen. Was ist passiert?
Die alte Normalität wird zwar noch immer beschworen, aber sie greift nicht mehr. Das löst wahnsinnige Verunsicherung aus. Die Hälfte der Bundesrepublik sagt: Es ruckelt gerade wie verrückt, jetzt müssen wir da durch und dann bauen wir Neues auf. Die andere Hälfte will das Versprechen hören, dass wir uns das Bekannte nun zurückholen und wieder etablieren. Es ist ein Ringen um die Deutungshoheit darüber, was jetzt ansteht. Ein Richtungsstreit. Das ist eine Erklärung, warum der Wahlkampf derart eskaliert ist.
Maja Göpel ist Politökonomin, Transformationsforscherin und Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. 2016 veröffentlichte sie das Buch «The Great Mindshift», das auf Forschung zu Systemtransformationen, politischer Ökonomie und Veränderungsmanagement beruht. Bis Juli 2021 war sie wissenschaftliche Direktorin der Denkfabrik The New Institute. Sie ist unter anderem Mitglied des Club of Rome und des World Future Council. Maja Göpel ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt mit ihrer Familie in Werder bei Potsdam.
Eine junge Kandidatin tritt für das Bundeskanzleramt gegen zwei ältere Kandidaten an: Ringt hier der «alte weisse Mann» als Bild etablierter Macht um seine Vormachtstellung?
Das ist nicht die erste Perspektive, mit der ich darauf schaue. Alter und Geschlecht dürfen nicht zu überstrapazierten Filtern werden. Aber wir haben in diesem Wahlkampf gesehen, dass die patriarchale Struktur wankt. Mir ist es wichtig, diese Struktur nicht mit «Mann» gegen «Frau» gleichzusetzen. Ich meine damit Dominanzstrukturen, sehr hierarchische Machtverhältnisse, die oft mit einer Kultur des Misstrauens und der Überheblichkeit einhergehen.
Was meinen Sie damit?
Der Habitus, den wir oft, aber nicht nur, in wenig diversen Männerrunden beobachten, ist schon länger ins Rutschen geraten, weil alles einfach sehr viel bunter, sehr viel femininer, sehr viel gemischter, sehr viel offener geworden ist. Und die Sicherheitsanker für diejenigen, die vorher privilegiert waren, sind dadurch ins Rutschen gekommen, inklusive Identitäten und Machtpositionen. Der Kampf um diese Privilegien, dieses Nicht-loslassen-Wollen, ist in diesem Wahlkampf jetzt besonders sichtbar geworden.
Hat die Corona-Krise diese Entwicklung verstärkt?
Am Anfang der Krise in Deutschland haben wir mit sehr viel Solidarität reagiert. Da kam ganz viel Vokabular nach vorne, wo man dachte: Was ist denn jetzt passiert? Auf einmal wurde die Gemeinschaft in den Vordergrund gestellt, die systemrelevanten Jobs. Es wurde gesagt: Uns ist da etwas entglitten. Wir haben die Menschen nicht gesehen, die uns die ganze Zeit überhaupt ermöglichen, dass Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Es wurde gefragt: Was ist uns wirklich wichtig?
Weder die Solidarität noch die Reflexion hat in der Krise lange gehalten. Was glauben Sie, wo und warum ist die Gesellschaft falsch abgebogen?
Die Solidarität kam in den Vordergrund, als der Lockdown für alle galt, also wirklich alles runtergefahren wurde bis auf das Allernötigste. Alle sassen in einem Boot. Dann ging es über den Sommer mit dem Vorwahlkampf los: Die Bundesländer setzten auf unterschiedliche Corona-Strategien, aber nicht in kooperativem Lernen, stattdessen setzte sich der eine gegen den anderen ab, und dann ist alles aus dem Ruder gelaufen.
Inwiefern aus dem Ruder gelaufen?
Plötzlich gab es viele schlecht begründete Ausnahmen für Teile der Gesellschaft. Warum sind die gleicher als wir? Das Gefühl kam auf, dass es jene, die näher dran sind an der Macht, besser haben. Zum Beispiel die grossen Konzerne mit ihren sehr organisierten Interessen. Und den kleinen Betrieben, den Soloselbstständigen und den Künstlerinnen hat der Staat angeboten: Ihr könnt ja in Hartz IV gehen. Das war eine Ansage, die sehr starke Verärgerung ausgelöst hat und durch die Dividendenauszahlungen der Konzerne in Zynismus umgeschlagen ist. Und dann waren da auch noch die Maskendeals der Politik: Da wurde deutlich sichtbar, dass da einiges in der Entflechtung von politischer und privatwirtschaftlicher Macht falsch läuft.
Abgeordnete der CDU haben einem Unternehmen einen Maskendeal für 60 Millionen Euro Steuergeld vermittelt und Provisionen in Höhe von 11,5 Millionen Euro kassiert.
Dass sich auch in einem Moment der akuten Krise die Vetternwirtschaft Bahn bricht, ist natürlich toxisch gewesen. Darauf folgte die nächste Phase des Wahlkampfs: die Suche nach einem starken Mann, der Angela Merkel beerben könnte. Diese Stärke wird nicht dadurch gesucht, dass auch mal Fehler eingestanden werden und Massnahmen zur Überwindung des Misstrauens in die Unabhängigkeit von Politikerinnen und Parteien vorgeschlagen werden – sondern indem Kritikern mangelnde Kompetenz oder Mitbewerberinnen Aussagen unterstellt werden, die sie nie getätigt haben. Anstatt die Transparenz zu erhöhen, nimmt man es lieber mit der Wahrheit weniger ernst. Das empfinde ich als sehr besorgniserregende Entwicklung.
Dass Politiker unangenehmen Wahrheiten ausweichen, gab es schon immer. Dass nun aber offen und oft unwidersprochen Unwahrheiten gesagt werden, ist im Wahlkampf besonders grell sichtbar geworden. Wie kann verhindert werden, dass das der neue Standard wird?
Die Welt hat sich seit der Verabschiedung der Menschenrechtscharta deutlich verändert. Wir brauchen neue individuelle Grundrechte und die Möglichkeit, sie auch auf europäischer Ebene einzufordern. Deshalb unterstütze ich die Kampagne von Ferdinand von Schirach, die genau dies fordert.
Was genau?
Zum Beispiel das Recht auf eine intakte Umwelt. Oder das Recht, nicht von Algorithmen ausspioniert zu werden. Eines war in der öffentlichen Debatte über diese Kampagne besonders umstritten: das Recht auf Wahrheit. Dass wir ein Recht darauf haben sollen, dass in politischen Ämtern die Wahrheit gesagt wird. Wie soll das denn bitte gehen, hiess es. Wir haben das ein halbes Jahr diskutiert, darüber auch mit Juristinnen gesprochen – und der Punkt ist folgender: Es geht nicht darum, nie Informationen vorzuenthalten oder auch mal eine Lüge verwenden zu dürfen. Es geht um das systematische Lügen als Strategie. Wir konnten in den USA sehr gut beobachten, was mit einer Demokratie passiert, wenn der Faden zwischen realem Geschehen und den Aussagen von Amtsträgerinnen reisst.
Wir sollten ein Recht haben auf Fakten? Auf Transparenz?
Es geht nicht darum, dass man in Fragen der nationalen Sicherheit Staatsgeheimnisse offenlegt. Es geht darum, dass in dem Moment, wo ein Politiker an die Öffentlichkeit tritt, ich mich darauf verlassen kann, dass er mich nach bestem Wissen und Gewissen informiert und nicht einfach Sachen erfindet. Die Offensichtlichkeit der Lügen bei einigen prominenten Kandidatinnen im Wahlkampf hat mich da wirklich sehr verstört.
Immerhin lassen sich diese Lügen leicht entlarven, die Wahlprogramme sind ja kein Geheimnis.
Aber wir möchten doch Führungsfiguren, denen wir vertrauen können. Wenn ständig mehr Unsicherheit gestreut wird, was jetzt wirklich wahr ist und was nicht, nähern wir uns dem, was Hannah Arendt über die Gesellschaft im Totalitarismus sagt: Das Problem ist nicht, dass die Leute was Falsches glauben, sondern dass niemand niemandem mehr glaubt. Dabei ist gerade in Umbruchzeiten die Sehnsucht nach einem Anker, nach einer Form von Wahrhaftigkeit und Orientierung, sehr ausgeprägt. Wir können nicht einerseits die kollektive Identität und den Zusammenhalt beschwören und andererseits die Grundlagen für vertrauensvolles Miteinander verweigern.
Wie meinen Sie das?
Neben Transparenz über die Wirkung politischer Entscheidungen braucht es auch eine Verantwortungsübernahme privilegierter Personen. In diesen Kreisen findet sich zum Teil ein sehr aggressiver Ton mit dem Anstrich eines vulgär ausgelegten Liberalismus: «Lass mich bloss in Ruhe in meinem Lebensstil! Ist mir total egal, was die Konsequenzen meines Handelns sind. Und wenn du mir das vorhalten willst, dann bist du der Moralapostel.» Hier wird die zweite wichtige Hälfte der liberalen Freiheit, nämlich die Übernahme von Verantwortung für Entscheidungen, schlicht gestrichen.
Wie äussert sich das?
Weil man es kann, externalisiert man die Folgen von Entscheidungen auf andere. Freiheit ist gesellschaftlich betrachtet immer relativ. Auch bei der Verteilung von Chancen. Wenn durch vorherige Politik eine starke Schieflage entstanden ist, dann gilt es diese zu korrigieren. Das hat dann nichts mit Kommunismus zu tun, sondern damit, dass wir einige Effekte von Politik erst mit der Zeit beobachten können – oder manchmal eben auch damit, dass sich die sowieso Privilegierten vorteilhafte Gesetze geschaffen haben.
Über eines sind sich fast alle einig: Es steht bei dieser Wahl zum Deutschen Bundestag extrem viel auf dem Spiel. Der Klimawandel muss aufgehalten werden. Welche Partei ist Ihrer Ansicht nach für diese Herausforderung am besten aufgestellt?
Ich möchte hier keine Wahlwerbung für eine Partei machen. Ich glaube ausserdem, es würde uns sehr guttun, wenn wir nicht beim Klima blieben. Wir haben weitere grosse ökologische Herausforderungen vor uns: die Frage der Biodiversität und der Landnutzung. Es bleibt uns nur noch eine Dekade, um nature positive zu werden, also auf Regeneration, Widerstandsfähigkeit und Kreislaufwirtschaft zu setzen, um den wahnsinnigen Verfall von ökologischem Kapital aufzuhalten und Resilienz dauerhaft zu stärken.
Der politische Fokus auf das Klima ist zu eng gefasst?
Ja. Diese Jagd nach dem CO2 besorgt mich etwas, weil wir ganz schnell Problemverschiebungen in Kauf nehmen, weil wir den Fokus darauf, welches Problem wir lösen müssen, sehr eng machen. Es ist wichtig, dass wir diese Fragen immer systemisch betrachten, das Ökologische gemeinsam mit dem Sozialen. Lange haben wir von den trade-offs gesprochen. Dann würde ein höherer Umweltschutz die Armen negativ belasten. Das wird auch aktuell extrem gegeneinander ausgespielt, insbesondere von denjenigen, die sich vorher nie für Arme und deren Lebensbedingungen interessiert haben und sich bei Fragen zu Mindestlohn oder Mietbremse nicht sehr generös zeigen.
Was ist die Alternative?
Zukunftspolitik muss zu den trade-ins finden und Umweltmassnahmen sozial progressiv gestalten, aber nicht die Lösung aller sozialen Fragen an die Umweltpolitik delegieren. Im Endeffekt sind es oft ärmere Haushalte, die durch ihre Wohnlagen und Jobs von Umweltbelastungen am stärksten betroffen sind, also von einem sauberen Wirtschaftsmodell profitieren.
Heisst: Es braucht mehr als einen Preis für CO2?
Wenn es primär über Preise geregelt wird, können diejenigen mit viel Geld sich weiter ihre Lebensstile finanzieren und dafür Ablasshandel betreiben. Doch die Frage nach dem Lebensstil wird sich bald sehr stark stellen. Hier geht es um Klima- und Ressourcengerechtigkeit. Auf der internationalen Ebene ist das schon lange ein brennendes Thema. Bei uns ist diese Frage in der öffentlichen Debatte noch stark unterbelichtet.
Was bedeutet das dann konkret für unseren Lebensstil?
Dass wir auch bei Ressourcen klare Grenzen der Nutzung brauchen. Finnland zum Beispiel hat den Verbrauch an Primärressourcen gedeckelt, er darf bis 2035 nicht über den Wert von 2015 steigen. Und wenn wir die CO2-Reduktionen ernst nehmen, werden wir um Fragen der Suffizienz und der Einsparung von Energie über Effizienzgewinne hinaus nicht herumkommen. Dafür lassen sich andere Strategien der Bedürfnisbefriedigung entwickeln, das Stichwort ist nutzen statt besitzen. Ein Industriesystem der Zukunft sieht ganz anders aus. Das hat auch die Wirtschaft selbst erkannt. Die Umbauphase wird einige tiefe Veränderungen mit sich bringen, die anstrengend und kostenintensiv sind. Das kann man als Zumutung beschreiben oder aber als Lernprozess.
Verstehe ich Sie richtig: Wir müssten eine temporäre Durststrecke des viel beschworenen Verzichts durchlaufen, aber mittelfristig wäre es am Ende dadurch letztlich billiger für alle?
Ja, wir werden auf Dinge, die wir heute haben, verzichten müssen. Ob das dann gut oder schlecht ist, bleibt auszuhandeln. Berechnungen zeigen, dass wir in der aktuellen Wirtschaftsweise bis zu 19 Prozent des Bruttoinlandprodukts als ökologische, gesundheitliche und gesellschaftliche Kosten abziehen müssten. Eine Wirtschaft sollte dem Wohlergehen der Menschen dienen und das langfristig, sprich innerhalb dessen, was der Planet zur Verfügung stellen kann. Solange wir mit unzureichenden Daten arbeiten, sollten wir vorsichtig sein damit, den Verzicht auf einige Gewohnheiten und Produkte mit einer Verschlechterung der Lebensumstände gleichzusetzen.
Von welchen Daten sprechen Sie?
Das geht los beim Bruttoinlandprodukt. Deutschland hat 30 Milliarden Euro an Ausgaben für die Aufräumarbeiten nach den Überschwemmungen im Juli. Sie werden sicher das BIP positiv beeinflussen, da ja ökonomische Transaktionen notwendig werden. Aber ist das ein Erfolg? Und sind Ausgaben in die Vermeidung einer höheren Frequenz von Flutkatastrophen – also Klimaschutz – wirklich Schulden? Oder doch Investitionen? Das Gleiche muss auf Unternehmensebene korrigiert werden: Geschäftsmodelle, die soziale und ökologische Kosten externalisieren, sind finanziell erfolgreicher.
Wie lässt sich das ändern?
Unter true cost accounting wird an der Erneuerung der Rechnungslegung gearbeitet. Dann können wir sehen, welche kurzfristig kostenintensiven Aufwände auch wieder Wachstum ermöglichen – Wachstum von ökologischem und sozialem Vermögen. Das wird auch von einem zunehmenden Teil von Unternehmen unterstützt, die transformativ budgetieren und damit gestrandete Vermögenswerte – zum Beispiel technische Anlagen oder Rohstoffvorräte, die unerwartet drastisch an Ertrags- oder Marktwert verlieren – vermeiden können. Das heisst konkret, sie arbeiten nicht erst dann an der Tilgung von ökologisch schädlichen Anteilen in ihrer Wertschöpfungskette, wenn dann die Regulierung kommt.
Um Regulierung geht es auch bei den Digitalkonzernen, die sich bisher kaum an Regeln halten. Wieso passiert da so wenig?
Ich weiss nicht, warum wir da so lange fackeln. Die Geschäftsmodelle der grossen internationalen Konzerne entsprechen nicht den Vorsätzen oder Vorschriften, die wir uns im deutschen Recht gewohnt sind. Hierzulande gilt: Im Geschäftsmodell steckt auch ein sozialer Kontrakt drin, also hinterzieht man keine Steuern. Man reinvestiert auch durch die Steuerzahlungen vor Ort. Es gibt Arbeitnehmerverhältnisse, denen man nicht systematisch auszuweichen versucht. Und ja, man muss nicht so tun, als wäre das Einfordern dieses Verhaltens von Konzernen ein Verhindern des Fortschritts.
Sondern?
Es nicht einzufordern, ist ein Verlust von tief konservativen Werten. Insofern verstehe ich nicht, warum die Parteien hier nicht zusammenfinden. Der ehrbare Kaufmann, die ehrbare Kauffrau ist eine zentrale Figur in der sozialen Marktwirtschaft. Ich muss doch mit Integrität ein erfolgreiches Unternehmen leiten können und nicht bescheissen müssen, weil andere es auch tun.
Solche zentralen Themen wurden im Wahlkampf kaum verhandelt.
Nein. Deshalb arbeite ich viel an der Diskurshoheit, weil wir merken, dass diese Fehlentwicklungen immer deutlicher zutage treten; und damit ist die Hegemonie des vorherigen Fortschrittsmodells gebrochen, diese Geschichte, mit der wir viele politische Entscheidungen legitimiert haben.
Welche Geschichte?
Dass Wirtschaftswachstum entkoppelt ist vom Umweltverbrauch. Mindestens die Hälfte der Gesellschaft glaubt das nicht mehr. Oder nehmen wir den Trickle-down-Effekt. Selbst wenn ihn einige Parteien wieder bemühen: Ausgerechnet jetzt, wo reiche Menschen 0,1 Prozent Zinsen zahlen, brauchen sie Steuererleichterungen, damit sie anfangen zu investieren? Das ist absurd. Auch die Erzählung, dass es gut für die reale Wirtschaft ist, wenn die Finanzmärkte immer freieres Spiel kriegen, überzeugt überhaupt nicht, solange nicht auch bei Investitionen ökologische und soziale Effekte und langfristige Auswirkungen berücksichtigt werden.
Sie warnen vor Kipppunkten, die irreversibel sind, beim Klima, bei der Biodiversität, bei den Ozeanen. Gibt es so einen Kipppunkt eigentlich auch beim Menschen?
Für mein kommendes Buch haben wir bei Goldman Sachs recherchiert, wo die jungen Bankerinnen sagen: «Eine 100-Stunden-Woche und jede Nacht nur vier, fünf Stunden schlafen. Ich habe bald nichts mehr, was ich Leben nennen würde.» Diese Maschine läuft sich ja wahnsinnig heiss. Ich sehe es als Chance, wenn selbst bei den «Gewinnern» des Systems die Unterstützung für diese Form des Wirtschaftens erodiert. Die Menschen merken, dass sie auch mal schlafen müssen, weil sie sonst nicht nur weniger effektiv arbeiten, sondern vor allem auch ihren Optimismus verlieren. Schlaf darf dabei nicht bedeuten, dass dann keine Freizeit oder kein Sport mehr möglich ist. Es ist ein wichtiges Kriterium für Lebensqualität und individuelle Widerstandsfähigkeit, in Beziehungen zu stehen, die einen tragen. All die tragischen Analysen über die Einsamkeit, all die Studien über Depressionen und Anspannung – vor allem in angelsächsischen Ländern, welche die Freizeit der Menschen weit weniger geschützt haben –, sollten wir ernst nehmen.
Wenn Sie für die Zeit nach der Wahl in Deutschland eine Utopie formulieren müssten, wie würde sie lauten?
Die Hoffnung, dass wir aufhören, uns gegenseitig die Schuld zuzuschieben, und stattdessen sagen: Lasst uns die veralteten Strukturen ändern, dann können wir auch gemeinsam wieder nach vorne kommen. Dass wir wirklich auf die kulturell, sozial und ökologisch destruktiven Strukturen schauen und sie integrativ, partnerschaftlich, kooperativ und chancengerecht neu ausrichten. Dass wir aus einer systemischen Perspektive heraus sagen: Lasst uns mit rechts, links, grün, rot, oben, unten, mit diesen vorgefertigten Meta-Konzepten wie Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus aufhören und ganz konkret die Überzeugungen, Anreize, Beziehungsmuster, Regeln und Institutionen transformieren, die ein wertschätzendes und regeneratives Wirtschaften und Zusammenleben künstlich schwer machen. Dass wir also fragen: Welche Lösungen dienen dem Schutz des Lebendigen, der Diversität und der Versorgungssicherheit – und nicht dem Mammon, der technischen Machbarkeit und der Macht?