Toxische Freiheit
Ein Leben ohne Freiheit ist ein unerfülltes Leben. Doch gerade in der Pandemie zeigt sich: Falsch verstandene Freiheit ist Gift.
Von Jan Skudlarek (Text) und Alexander Coggin (Bilder), 24.09.2021
Als europäische Länder in den 1970er-Jahren die Anschnallpflicht fürs Auto einführten, war der Aufschrei gross. Ohne Zweifel: Der Sicherheitsgurt rettet Leben. So viel ist klar. Die Frage war vielmehr: Darf der Staat das? Mir vorschreiben, was ich tun und lassen soll? Unter Androhung von Strafe?
Der Gurt als effektive Schutzmassnahme traf auf einen Bürger, der, plötzlich zwangsgefesselt ans Vehikel, das Ende seiner Freiheit heraufbeschwor.
Es war nicht der Gurt, der ihn störte. Es war die Gurtpflicht.
Mark Twain soll gesagt haben: «History doesn’t repeat itself – but it often rhymes.» Wie sehr Twain mit seiner Diagnose recht hatte, wie sehr sich die Geschichte reimt, das erleben wir heute wieder hautnah.
Während die Gurtfrage längst geklärt ist, sind andere, ebenfalls kontroverse Pflichten dazugekommen. Maskenpflicht, Abstandspflicht. Und derzeit wird über die Corona-Impfung gestritten: Müsste sie zumindest als ein informeller, moralischer Imperativ angesehen werden, als eine Art ethische Bürgerpflicht?
Hinter alledem stehen übergeordnete Freiheitsfragen – und die Frage, wie das schillernde Wort Freiheit auszulegen ist.
Wie viel Individualfreiheit kann es in einer Gesellschaft geben, insbesondere in der Krisengesellschaft? Was betrifft nur mich? Was geht den Staat etwas an? Um es mit Reinhard Mey zu fragen: Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein?
Jan Skudlarek (*1986) ist Autor, Speaker und Dozent. Er hat an der Universität Münster mit einer Arbeit zu «kollektiver Intentionalität» im Fach Philosophie promoviert. Seit 2017 veröffentlicht er populärphilosophische Sachbücher, zuletzt «Wahrheit und Verschwörung» im Reclam-Verlag.
Wie immer bei ethischen Abwägungsfragen stehen verschiedene Schutzgüter einander gegenüber und müssen im konkreten Kontext gewichtet werden. Die Gurtpflicht im Auto bezieht sich vor allem auf die Verpflichteten selbst: Das Schutzgut ist hier die persönliche Gesundheit der Autoinsassin. Wer angeschnallt ist, kommt bei Unfällen viel seltener zu Schaden. Dieser Eigenschutz steht im Konflikt mit Aspekten der Bewegungsfreiheit, wobei im Diskurs der 1970er das psychologische Unbehagen, auf Gedeih und Verderb ans Auto geschnürt zu sein, eine immense Rolle spielte.
Die Maskenpflicht im Supermarkt oder in öffentlichen Verkehrsmitteln mag lästig erscheinen. Immerhin ist sie kein Eingriff in den eigenen Körper. Eine Impfung wiederum ist genau das.
Während die Maskenpflicht eine temporäre Unannehmlichkeit darstellt, ist eine zur Immunisierung führende Impfung ein medizinischer Akt, und es muss, um den Deutschen Ethikrat zu zitieren, «berücksichtigt werden, dass es sich bei der Impfung um einen Eingriff in die körperliche Integrität einer Person handelt, der generell einer höheren Begründungslast unterliegt». Heisst: Eingriffe sind nicht grundsätzlich verboten, auf ihre Begründung kommt es an.
Als ethische Begründungslast muss beim Impfbeispiel die Schutzwirkung der Impfung selbst angeführt werden. Während der Sicherheitsgurt im Auto vor allem mich vor der Intensivstation bewahrt, bewahrt eine Corona-Impfung nicht nur mich vor der Notfallmedizin, sondern sie verringert die Virusweitergabe und schützt somit auch andere. Und im Fall einer Ansteckung bleibt für Geimpfte mit höchster Wahrscheinlichkeit ein schwerer Krankheitsverlauf aus.
Anders formuliert: Ein Autounfall ist nicht ansteckend (ausser für die involvierten Autos). Corona schon.
Im weiteren Sinne handelt es sich bei diesen Beispielen um Biopolitik. Damit bezeichnete der französische Philosoph Michel Foucault den Grundgedanken, dass der moderne Staat sich zunehmend für das Leben (Griechisch bios) seiner Bürger interessiert. Der (post-)moderne Staat mischt sich gesetzgebend ein mit dem Ziel, den Bürger zum Leben zu verpflichten. Nirgendwo sehen wir das deutlicher als in der jetzigen Pandemie.
Aber ist das schon Schikane?
Ein übergriffiger Staat wäre in der Tat abzulehnen. Ein Staat, der bis ins Privateste hineinreguliert. In einer Pandemie allerdings, die weltweit über viereinhalb Millionen Menschenleben gekostet hat, die Millionen weitere Leben ruiniert (etwa der Genesenen, die unter Long Covid leiden, oder der Menschen, welche die Intensivstationen als andere Menschen verliessen), die Krankenhäuser chronisch an die Belastungsgrenze treibt und unsere Welt, wie sie war, auf den Kopf stellt – in einer solchen gesellschaftlichen Krisensituation gilt die «Politik der ersten Person»: Das Private ist politisch.
Ob ich mich impfen lasse oder nicht, hat eine Folgewirkung auf andere. Insofern ist es moralisch nachvollziehbar, dass Menschen sich gegenseitig zur Impfung motivieren – und der Staat nachhilft, wo Motivation und Eigenverantwortung versagen.
In der Diskussion um die Frage, was der Staat und die Zivilgesellschaft legitimerweise vom Individuum erzwingen dürfen und was nicht, zeigt sich ein alter ethischer Dissens. Es ist der Streit zwischen Utilitaristinnen und Kantianern.
Als Utilitarismus wird klassischerweise jene auf Jeremy Bentham und John Stuart Mill zurückgehende Denkrichtung bezeichnet, die den ethischen Wert einer Handlung primär an ihren (wahrscheinlichen) Konsequenzen bemisst. Ihr gegenüber stehen die Pflichtethikerinnen in der Nachfolge von Immanuel Kant. Sie bewerten Handlungen unabhängig von ihren Folgen als gut oder schlecht.
Lügen ist aus Sichtweise der Pflichtethiker nicht moralisch schlecht, weil man jemanden täuscht, sondern an sich falsch. Was man mithilfe einer Gegenprobe feststellen kann: Ich sollte nicht lügen, weil ich selber nicht angelogen werden will. Und weil wir, über die persönliche Ebene hinaus, nicht in einer Gesellschaft leben wollen, in der die Lüge als normal oder legitim gilt. Etwas technischer formuliert: Lügen verstösst gegen den Grundsatz der Universalisierbarkeit. Eine Gesellschaft, in der jeder lügt, wann ihm oder ihr danach ist oder wenn man Vorteile daraus zieht, wäre keine wünschenswerte. Kant geht sogar einen Schritt weiter und sagt, eine Lüge korrumpiere das Prinzip der Wahrhaftigkeit.
Oder allgemeiner, in den Worten des kategorischen Imperativs: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.»
Ein weiterer Bestandteil dieser Ethik ist die sogenannte Selbstzweckformel. Sie besagt, dass Menschen füreinander immer ein Zweck an sich sein sollen, nie nur Mittel zum Zweck. In diesem Sinne kann meine Aufforderung, mein Nebenmann möge sich bitte impfen lassen, niemals allein auf der Konklusion beruhen, dass ich dadurch besser geschützt bin. Niemand ist lediglich das Vehikel für das Wohl eines anderen.
Der Utilitarist John Stuart Mill formuliert wiederum in «Über die Freiheit» (1859) sein sogenanntes «Schadensprinzip»:
Der Grundsatz lautet, dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist, im Selbstschutz besteht. Der einzige Zweck, für den man zurecht Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft ausübt, ist die Vermeidung der Schädigung anderer.
Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Pflichtethik und utilitaristischer Ethik. Die Handlungsbewertung verschiebt sich von der Handlung selbst und ihrer ethischen Natur (Pflichtethik) hin zur Handlungskonsequenz (Utilitarismus). Schlecht ist für Mill, was schlecht wirkt, also schädliche Konsequenzen nach sich zieht.
Pflichtethikerinnen und Utilitaristen setzen unterschiedliche Schwerpunkte bei der Handlungsbewertung. Ob das Maske-Tragen, das Anschnallen oder das Impfen forciert werden sollte, hängt nicht zuletzt vom Ethikmodell und seiner jeweiligen Schwerpunktsetzung ab.
Um die Reinhard-Mey-Frage zu beantworten: Nein, Freiheit muss nicht grenzenlos sein. Sie kann es gar nicht. Unterschiedliche ethische Bewertungssysteme kommen an einer entscheidenden Stelle jedoch zu einem gemeinsamen Schluss: Individualfreiheit muss spätestens dort aufhören, wo sie Schaden anrichtet. Was man nicht zum allgemeinen Gesetz erheben kann und was absehbare Negativfolgen erwirkt, das lässt man lieber.
Was heisst das nun für aktuelle Debatten ums Impfen und angeblich beschnittene persönliche Freiheiten?
Zunächst einmal wird deutlich: Was Querdenkerinnen, Wutbürger und Verschwörungstheoretikerinnen meinen, wenn sie «Freiheit» sagen, hat wenig zu tun mit der pluralistischen Solidargemeinschaft und ihrem bürgerlichen Freiheitsverständnis. Einer Solidargemeinschaft, in der zwar jeder für sich ist, aber auch für die anderen.
Ein solches Freiheitsverständnis, das darauf pocht, auch Schaden anrichten zu dürfen, könnte man als «toxische Freiheit» bezeichnen.
Toxische Freiheit ist Selbstbestimmung um jeden Preis, ein individualistisches Ellbogenrecht des Stärkeren. Schädliche Wirkungen werden unter dem Prinzip «Pech gehabt!» billigend in Kauf genommen. Es gibt gute Gründe, das unmoralisch zu finden.
Nicht zufällig erinnert der Begriff «toxische Freiheit» an ein anderes Konzept: das der «toxischen Männlichkeit». Darunter wird zum Beispiel das Unterdrücken von Gefühlen verstanden, die Angst vor Schwäche und vermeintlicher Weiblichkeit, die Rechtfertigung oder gar Verherrlichung von Aggression. Ein als toxisch verstandenes Männlichkeitsideal ist oft Nährboden für Gewalt und Extremismus.
Eine der Pointen dabei lautet: Falsch verstandene Rollenvorstellungen, kombiniert mit dem ungünstigen Nutzen sozialer Netzwerke, können sogar Depression befördern. Nicht nur die Mitmenschen leiden also unter aggressiv-toxisch gedeuteten Rollenklischees, sondern auch die Aggressoren selbst nehmen Schaden.
Ähnlich wie die Kritikerinnen toxischer Maskulinität nicht behaupten, dass Männlichkeit immer toxisch sei, ebenso wenig bedeutet eine Kritik an toxischer Freiheit: «Alle Selbstbestimmung ist gefährlich.» Die Kritik richtet sich vielmehr auf Negativauslegungen und Negativauslebungen, konkret: eine absichtliche oder unabsichtliche Fehldeutung des Freiheitsbegriffs. Freiheit kann man, ebenso wie Männlichkeit, auf vielfältige Weisen ausleben, die allermeisten davon sind sicher nicht gemeingefährlich. Aber ein Freiheitsbegriff, der nur das Eigeninteresse kennt, ist im Wortsinn unsozial: Er blendet die gesellschaftliche Ebene und das gleichberechtigte Interesse der anderen aus.
Worum es bei der Frage nach der Impfung gesellschaftlich eigentlich geht, kann man sich ironischerweise mit einem Philosophen vor Augen führen, der gemeinhin (und zu Unrecht) als Misanthrop verschrien ist: Arthur Schopenhauer.
Überhaupt aber beruhen 9/10 unseres Glückes allein auf der Gesundheit. Mit ihr wird alles eine Quelle des Genusses: hingegen ist ohne sie kein äusseres Gut, welcher Art es auch sei, geniessbar, und selbst die übrigen subjektiven Güter, die Eigenschaften des Geistes, Gemütes, Temperaments, werden durch Kränklichkeit herabgestimmt und sehr verkümmert.
Man benötigt keine Pandemie, um zu erkennen, wie viel Wahrheit in Schopenhauers Worten liegt.
Über die neun Zehntel mag man dabei gerne streiten. Als ziemlich unbestritten darf hingegen gelten: Gesund sein ist eine gute Sache, krank sein ist eine Belastung.
Vielleicht werden wir eines Tages auf das Impfgegnertum mit ähnlicher Verwunderung zurückblicken wie auf die Tatsache, dass Autofahrer den Sicherheitsgurt einst für Bevormundung hielten. Vielleicht werden wir mit Unverständnis auf die Vergangenheit schauen wie jetzt auf die Tatsache, dass wir früher flächendeckend im Restaurant, im Zug, ja selbst im Flugzeug geraucht haben (der Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen). Vielleicht werden wir in den Spielregeln, die wir uns gegenseitig auferlegen und die uns ein Staat, insbesondere in Krisenzeiten, schützend auferlegt, eher legitime Eingriffe sehen als illegitime Übergriffe.
Beim Thema Impfen jedenfalls würden wohl Kantianerinnen sagen: Impfen ist moralisch geboten, weil ich andere schützen muss, genauso wie ich will, dass andere mich schützen, wenn ich selbst gefährdet bin. Und als Utilitarist könnte man argumentieren: Es ist geboten, mich impfen zu lassen, weil ein schnelleres Ende der Pandemie geringeren wirtschaftlichen Schaden anrichtet, weniger Opfer fordert und so schneller noch mehr Einschränkungen für noch mehr Menschen wegfallen können. Und beide Denkschulen zusammen bieten Gründe dafür an, warum es sinnvoll ist, wenn das Gesundheitswesen nicht überlastet ist. Weil wir alle dafür Verantwortung tragen. Und weil es mir selbst und jeder Einzelnen nützt.
Für eine Impfpflicht liessen sich, je nach Sachlage, angesichts einer weltweiten Pandemie also ethisch durchaus gute Gründe anführen.
Allerdings: Wo Einsicht herrscht, ist Zwang obsolet.
Unserem Selbstbild als mündigen Wesen entspräche es viel mehr, dass sich jede und jeder von uns immer wieder per kostenlosem Selbsttest befragt, ob die eigene Lebensweise noch unter dem Label «Freiheit» läuft – oder schon mit guten Gründen als toxisch gelten könnte.
Diesen Blick in den Spiegel dürfen wir voneinander erhoffen. Freiwillig. Autonom.
Die Bilder zu diesem Artikel stammen vom Londoner Fotografen Alexander Coggin. Für seine Bildserie «Year of the Ear» hat er Ohren in allen Variationen fotografiert. Und weil gerade Pandemie ist, gehört der Maskenbändel an den Ohren sozusagen zu den Standardaccessoires. Die Inspiration zu dieser Serie war laut Coggin naheliegend: «Irgendwann schmerzten meine Ohren, ich habe nachgeschaut, warum, und das war der Start.»