Briefing aus Bern

Parlament erschwert Waffen­exporte, die Kommissionen als Lobbyisten-Nester und das zähe Feilschen um die Frauenrenten

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (159).

Von Reto Aschwanden, Elia Blülle, Carlos Hanimann und Lukas Häuptli, 16.09.2021

Herbstsession 2021, die Lobbyisten und Interessen­vertreter ziehen nach langer Corona-Pause wieder an die Front und bieten den Parlamentarie­rinnen in Bern ein fulminantes Programm: Fondue mit Gastro­suisse im Kornhaus­keller, ein Plausch mit Novartis im Hotel Bellevue, und der Schweizer Brauerei-Verband lädt zum Bier­trinken ins Café Fédéral.

Ein Glas Wein und Apéro­häppchen dürften bei den wenigsten Parlamen­tariern dazu führen, dass sie ihre Voten nach den Bedürfnissen der Gastgeber ausrichten. Demokratie­politisch heikel wird es aber, wenn es nicht beim Chardonnay bleibt, sondern sich ganze Branchen durch bezahlte Mandats­träger – etwa via Verwaltungsräte – im Schweizer Parlament vertreten lassen.

Lange war unbekannt, wie dicht das Lobby­netz gestrickt ist. Seit neuestem müssen eidgenössische Parlamentarierinnen bei ihren Interessen­bindungen jedoch angeben, ob ihre Mandate bezahlt sind.

Das Recherchekollektiv Lobbywatch untersuchte gestützt auf diese neuen Informationen, ob der Vorwurf zutrifft, dass insbesondere wirtschaftlich starke Branchen Politikerinnen mit bezahlten Posten an sich binden.

Die wenig überraschende Antwort lautet: ja.

  • In den Gesundheits­kommissionen beider Räte finden sich 25 Parlamentarier mit bezahlten Verbindungen zu Krankenkassen.

  • 13 Mitglieder der Wirtschafts­kommissionen erhalten Geld von Banken.

  • Alle 4 Pharmavertreter in den Wirtschafts­kommissionen werden von Verbänden und Lobby­organisationen für Mandate entschädigt.

  • 7 Mitglieder der Wirtschafts­kommissionen von National- und Ständerat stehen auf den Lohnlisten der Versicherungen.

Lobbywatch schreibt, die Auswertung würde deutlich aufzeigen, dass finanzkräftige Branchen praktisch nach Belieben Politikerinnen für ihre Sache einspannen und entsprechend entlöhnen könnten.

Der Verein fordert deshalb neue Transparenz­regeln. Der «Beobachter»-Journalist und Lobbywatch-Co-Präsident Thomas Angeli sagt: «Die heutige Transparenz­regelung ist ungenügend. Wählerinnen und Wähler haben ein Recht darauf, zu wissen, von wem und in welcher Höhe Politikerinnen für ihre Interessen­vertretung im Bundes­haus entschädigt werden.»

Mitte-Ständerat Beat Rieder geht sogar noch weiter und verlangt mit einer 2019 eingereichten parlamentarischen Initiative ein Verbot von bezahlten Mandaten im Zusammen­hang mit parlamentarischen Kommissionen. Der Vorstoss soll bald in der Staats­politischen Kommission des Ständerats behandelt werden.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Parlament verschärft Kriterien für Waffen­exporte –Korrektur­initiative zurück­gezogen

Worum es geht: Der Nationalrat hat am Mittwoch die Volks­initiative gegen Waffenexporte in Bürger­kriegsländer zwar mit 105 zu 88 Stimmen zur Ablehnung empfohlen. Gleichzeitig sagte er aber Ja zu einem indirekten Gegen­vorschlag zur Initiative. Das entsprechende Gesetz verbietet Waffen­exporte in Länder, die sich an «bewaffneten Konflikten» beteiligen oder die Menschen­rechte «schwerwiegend und systematisch» verletzen. Eine Ausnahme­klausel im Gesetz, gemäss der Exporte in solche Länder unter bestimmten Umständen trotzdem möglich wären, lehnte der Nationalrat mit 96 zu 91 Stimmen ab. Die Klausel war von der bürgerlichen Mehrheit der Sicherheits­kommission beantragt worden. Die Befürworterinnen der Initiative erklärten, die Kriterien für die Ausfuhr von Kriegs­material müssten aus Gründen der Ethik, der Menschen­rechte und der Friedens­förderung verschärft werden. Die Gegner – unter ihnen der Bundesrat – führten in erster Linie wirtschaftliche und sicherheits­politische Gründe ins Feld.

Warum das wichtig ist: Die Ausfuhr von Kriegs­material aus der Schweiz wird immer wieder kritisiert – vor allem diejenige in Länder, die in Kriege verwickelt sind oder Menschen­rechte verletzen. Dazu zählt etwa Saudi­arabien, das sich am Krieg im Jemen beteiligt. Was dazukommt: Bis jetzt wurden die Kriterien für Waffen­exporte lediglich in einer Verordnung geregelt. Der Bundesrat konnte diese jederzeit ändern. So lockerte er die Verordnung 2014, 2018 kündigte er eine Lockerung an, sah nach heftiger Kritik aber davon ab. Vor diesem Hinter­grund lancierte eine breite Koalition aus Parteien der Linken und der Mitte, aus Nicht­regierungs­organisationen und aus Kirchen­kreisen die Volks­initiative gegen Waffen­exporte in Bürger­kriegs­länder, die sogenannte Korrektur­initiative. Sie wurde im Sommer 2019 eingereicht und verlangte einen Verfassungs­artikel, der die Ausfuhr von Kriegs­material in Länder in Kriegen und mit heikler Menschenrechts­lage verbietet. Das Thema gewann an Brisanz, weil Schweizer Firmen letztes Jahr Waffen im Wert von mehr als 900 Millionen Franken exportierten. Das war doppelt so viel wie fünf Jahre zuvor. Unter den Abnehmer­ländern 2020 befanden sich unter anderen Pakistan, Katar oder Botswana.

Wie es weitergeht: Der Ständerat hat die ursprünglich vom Bundesrat vorgeschlagene Ausnahme­klausel im Gegen­vorschlag bereits im Juni abgelehnt. Nachdem der Nationalrat es ihm gestern gleichgetan hatte, kündigte das Initiativ­komitee den Rückzug der Korrektur­initiative an. Damit tritt das verschärfte Kriegs­material­gesetz in Kraft.

Nationalrat will Geflüchtete zum Covid-19-Test zwingen

Worum es geht: Der Nationalrat hat am Dienstag mit 120 zu 65 Stimmen einer dringlichen Änderung des Ausländer- und Integrations­gesetzes zugestimmt: Künftig sollen abgewiesene Asyl­suchende zu einem Covid-Test gezwungen werden können.

Warum Sie das wissen müssen: Gewisse Flug­gesellschaften und Staaten verlangen ein negatives Testergebnis, damit sie abgewiesene Asyl­suchende transportieren beziehungs­weise aufnehmen. Bis Ende April haben sich nach Behörden­angaben rund 20 Geflüchtete gegen einen Hals-Nasen-Abstrich gewehrt, im August 126. Deshalb will der Bundesrat das Gesetz dringlich ändern. Ohne Testzwang müsste die Schweiz die abgewiesenen Asylsuchenden weiter beherbergen, was zu teuer sei. Grüne und SP lehnten die Vorlage im Nationalrat ab. Menschen­rechts­organisationen wie Amnesty International Schweiz, die Plattform Humanrights.ch, aber auch die nationale Anti-Folter-Kommission (NKVF) haben sich in der Vernehmlassung gegen Zwangs­tests ausgesprochen. Die Verletzungs­gefahr sei zu gross. Gemäss Europäischem Gerichtshof für Menschen­rechte müssten derartige Eingriffe durch eine medizinische Notwendigkeit gerecht­fertigt sein – was nicht der Fall sei. Die Vorlage diskriminiere Geflüchtete gegenüber anderen Bevölkerungs­teilen, die nicht zu solchen Tests gezwungen werden können. Und Zwangstests verstiessen gegen das verfassungs­mässige Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.

Wie es weitergeht: Die Vorlage geht nun in den Ständerat. Wird die Gesetzes­änderung angenommen, ist sie bis zum 31. Dezember 2022 gültig.

AHV: Wie viel mehr Geld sollen die Frauen erhalten?

Worum es geht: 3,2 Milliarden – so viel Geld will der Ständerat denjenigen Frauen bezahlen, die wegen der angestrebten AHV-Reform länger arbeiten sollen. Die ersten neun betroffenen Jahrgänge sollten demnach bis zu ihrem Tod einen monatlichen Renten­zuschlag von 100 bis 240 Franken erhalten – je weniger eine Frau verdient, desto höher fällt der Zuschlag aus. Mit seinem jüngsten Entscheid hat der Ständerat seine bisherige Politik revidiert. Im März wollte die kleine Kammer nur 2,2 Milliarden für die Übergangs­generation gewähren.

Warum Sie das wissen müssen: Die AHV muss dringend neu organisiert werden. Aufgrund des demografischen Wandels beziehen immer mehr Menschen eine Rente, während die Zahl der Personen abnimmt, die in die Kasse einzahlen. Mit der Angleichung des Frauenrenten­alters von 64 auf 65 Jahre wollen der Bundesrat und die Bundes­versammlung in den nächsten zehn Jahren rund 10 Milliarden Franken einsparen. Dagegen wehren sich jedoch die linken Parteien. Mit der Abfederung versucht das Parlament, deren Wählerinnen trotzdem für die Reform zu gewinnen. Neben dem neuen Frauen­renten­alter soll die AHV vor allem mit einer Mehrwertsteuer­erhöhung und Beiträgen aus der jüngsten Steuer­reform finanziert werden.

Wie es weitergeht: Das Feilschen geht weiter. Als Nächstes diskutiert der Nationalrat noch einmal über die Abfederung. Er forderte bisher 4 Milliarden für die Übergangs­generation. So oder so: Die Gewerkschaften, SP und Grüne haben das Referendum bereits beschlossen. Können sich National- und Ständerat rechtzeitig einigen, kommt die Vorlage voraussichtlich 2022 an die Urne.

Tourismus: Impuls­programm nur für Berg­regionen

Worum es geht: Das Parlament möchte die Sanierung von Hotels im alpinen Raum fördern. Nach der kleinen Kammer hat auch der Nationalrat einer Motion des Berner SP-Ständerats Hans Stöckli zugestimmt, die vom Bundesrat ein Impuls­programm fordert. Abgelehnt hat der Nationalrat hingegen eine Motion der ständerätlichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK), die ein generelles, zeitlich befristetes Impuls­programm für den Schweizer Tourismus verlangte.

Warum Sie das wissen müssen: In den Bergkantonen sind viele touristische Einrichtungen in die Jahre gekommen. Laut Ständerat Stöckli können notwendige Sanierungen, gerade auch im energetischen Bereich, aber oft nicht vorgenommen werden, weil es den Banken zu riskant scheint, dafür Kredite zu sprechen. Hier soll gemäss der 2019 eingereichten Motion der Bund einspringen. Weil die Tourismus­branche allgemein unter der Corona-Pandemie leidet, verlangte die ständerätliche WAK im Februar dieses Jahres ein generelles Impuls­programm für den Schweizer Tourismus. Im Ständerat kam das durch, der Nationalrat folgte mit seiner Ablehnung nun aber dem Bundesrat. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie hat der Bund schon verschiedene Unterstützungs­massnahmen zugunsten der Tourismus­branche beschlossen.

Wie es weitergeht: Der Bundesrat muss dem Parlament nun Vorschläge zur Umsetzung der Motion Stöckli machen. Für den Tourismus generell hat er Anfang dieses Monats ein Recovery-Programm verabschiedet.

Industriezölle fallen, Bund verzichtet auf eine halbe Milliarde pro Jahr

Worum es geht: Die Schweiz schafft die Industrie­zölle ab. Nach dem Ständerat hat nun auch der Nationalrat der Vorlage zugestimmt. Der Bund verliert dadurch pro Jahr Einnahmen in Höhe von einer halben Milliarde Franken. Die Konsumentinnen sollen laut dem Bundesrat jährlich 350 Millionen Franken einsparen. Als Industrie­produkte gelten alle Güter mit Ausnahme von Agrar­produkten und Fischerei­erzeugnissen.

Warum Sie das wissen müssen: Letztes Jahr noch war der Nationalrat nicht auf die Vorlage eingetreten. Damals hatte eine Mehrheit Bedenken, dass die Schweiz mit der einseitigen Abschaffung der Zölle einen Trumpf bei der Verhandlung neuer Freihandels­abkommen verlieren würde. Nun folgte die grosse Kammer dem Bundesrat, in dessen Namen Wirtschafts­minister Guy Parmelin erklärte, die Abschaffung bringe der Wirtschaft den nötigen Sauerstoff nach der Krise. Eine Minderheit um Jacqueline Badran von der SP beantragte erfolglos, erneut nicht auf die Vorlage einzutreten: Zölle hätten nur einen marginalen Einfluss auf die Preise, sie würden hingegen gewisse Branchen gegen ausländische Konkurrenz schützen. Knapp fiel der Entscheid zur Frage, ob die Abschaffung der Zölle in mehreren Etappen erfolgen soll, wie es SP, Grüne und Teile der Mitte forderten. Mit Stich­entscheid des Präsidenten Andreas Aebi (SVP) sprach sich die grosse Kammer schliesslich gegen eine Staffelung aus.

Wie es weitergeht: Die Vorlage ist nun bereit für die Schluss­abstimmung, die Formsache sein dürfte. Abgeschafft werden die Industrie­zölle dann auf den 1. Januar 2022.

Trychler der Woche

Bei Protesten gegen Corona-Massnahmen gibt oft eine glockenschwingende Gruppe den Ton an, die sich Freiheitstrychler nennt. Letzten Samstag wurde sie bei einer unbewilligten Demo in Luzern von der Polizei weggewiesen. Gehör finden die Glöckner dafür bei einem, der von Amts wegen für die Massnahmen einstehen müsste: Bei einem SVP-Treffen zeigte sich Ueli Maurer mit einem Shirt der Freiheitstrychler. Selbst für den eigensinnigen SVP-Bundesrat ist es eigenartig, dass er sich mit Massnahmen­gegnerinnen solidarisiert, derweil eben solche ins Kantons­spital Freiburg eindringen. Merkwürdig auch, dass Armee­chef Thomas Süssli einem Linkedin-Beitrag mit Maurer im Trychler­hemd einen Like verpasste, und noch merkwürdiger, dass er anschliessend beteuerte, das sei ein Versehen gewesen – ein Armeechef, der unkontrolliert Knöpfe drückt, vermittelt nicht unbedingt ein Gefühl der Sicherheit. Aber zurück zu Ueli dem Trychler: Wenig überraschend erhielt er Support durch Partei­kollege Köppel, der ein Foto twitterte, das ihn, Blocher und Partei­präsident Chiesa mit den Freiheits­trychlern zeigt. Vorher­sehbar war auch die Kritik der politischen Gegner: Grünen-Präsident Glättli warf Maurer «Trumpismus» vor, die SP forderte in einem offenen Brief an die SVP-Führung: «Reissen Sie sich zusammen!» Das beste Resümee der Ereignisse lieferte schliesslich Satiriker Mike Müller: «Ueli Maurer trifft sich am Wochen­ende mit jenen, vor denen man unter der Woche Alain Berset schützen muss.»

Illustration: Till Lauer