«Schwule und Lesben waren anfänglich gegen die Ehe für alle»

Vor 20 Jahren haben die Niederlande als erstes Land der Welt die gleich­geschlechtliche Ehe ermöglicht. Der Soziologe Gert Hekma über die damalige Debatte, die unmöglichen Vorbehalte der Gegner und den Traum von der multiplen Elternschaft.

Ein Interview von Salome Müller (Text) und Ernst Coppejans (Bilder), 14.09.2021

Gert Hekma hat mehr als 30 Jahre zu Homosexualität in Europa geforscht und publiziert.

Herr Hekma, die Schweiz stimmt bald über die Ehe für alle ab – 20 Jahre nachdem die Nieder­lande sie eingeführt haben. Gegnerinnen wenden ein, die Ehe sei eine «natürliche Verbindung von Mann und Frau». Kommt Ihnen das bekannt vor?
Es ist ein alter Einwand. Er bezieht sich weniger auf die Ehe als auf die Homo­sexualität an sich. Als in den Niederlanden 1993 das Gesetz gegen die Diskriminierung von Homo­sexuellen erlassen wurde, warnten Angehörige der Kirche und Mitglieder von konservativen und christlichen Parteien vor der Gefahr, die von Homo­sexuellen ausgehe. Sie argumentierten mit der Bibel und der Natur: Ein Mann sei ein Mann, eine Frau sei eine Frau, und Mann und Frau gehörten zusammen.

Ein Nationalrat der Schweizerischen Volks­partei befürchtet sogar: Werde die Ehe geöffnet, gelte irgend­wann die Beziehung zu einem Tier als Ehe.
Wenn es um Schwule geht, gibt es immer Leute, die eine Verbindung zu Tieren herstellen. Homo­sexualität wird mit Sodomie gleichgesetzt.

Warum ist das so?
Im Europa des 18. Jahr­hunderts bedeutete Sodomie sexuelle Handlungen, die als wider­natürlich und pervers angesehen wurden. Sodomie war ein Begriff für anal-sexuelle Handlungen von Männern mit Männern, mit Tieren und auch mit Frauen. Solche Handlungen wurden in christlichen Ländern mit dem Tod bestraft. Mit der Zeit hat sich die Bedeutung verändert. Heute wird unter Sodomie im deutschen Sprach­gebrauch Sex mit Tieren verstanden, im englischen Raum Anal­verkehr. Hinter beiden Bedeutungen steckt die Vorstellung, dass Sex nur der Fort­pflanzung dienen darf, dass also nur hetero­sexueller, koitaler Sex natürlich ist.

Zur Person

Gert Hekma, geboren 1951, ist Anthropologe und Soziologe. Von 1984 bis 2017 unterrichtete er LGBTQ Studies an der Universität in Amsterdam. Hekma hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Bücher über Homo­sexualität publiziert, darunter «Homoseksualiteit in Nederland van 1730 tot de moderne tijd» («Homo­sexualität in den Nieder­landen von 1730 bis in die Neuzeit», 2004) und «A Cultural History of Sexuality in the Modern Age» (2011). Hekma beschäftigte sich hauptsächlich mit den verschiedenen Formen von Sexualität und Praktiken wie Sadismus, Bondage, Sodomie. Er lebt mit seinem Ehemann in Amsterdam.

Warum hält sich diese Vorstellung so hartnäckig?
Weil die Vorstellung des Natürlichen für das abend­ländische Verständnis von Sexualität grundlegend ist. Sexualität beruht demnach auf genetischen Ausprägungen, auf Hormonen, sie dient der Erhaltung des Menschen. Diese Perspektive ist aber sehr verengt. Sie macht es schwer, Sexualität und Sexual­praktiken anders zu betrachten – historisch, kulturell. Der Schweizer Hutmacher Heinrich Hössli war einer der ersten Männer in Europa, die die Homo­sexualität verteidigten. In seinem Buch «Eros – Die Männer­liebe der Griechen» versuchte er 1836 herzuleiten, dass die Liebe zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts genauso natürlich ist.

Wie argumentierte er?
Hössli bezog sich auf die alten Griechen, die verschiedene Formen von Männer­liebe kannten. Er schrieb, wenn eine Hoch­kultur wie die Antike die Männer­liebe akzeptiert habe, könne diese Liebe nicht unsittlich sein. Mit Hössli begann die Tradition, Homo­sexualität als eine von verschiedenen möglichen Formen der Sexualität zu denken. Aber viel älter und stärker ist die Tradition, homo­sexuelle Menschen als widernatürlich anzuprangern und homo­sexuellen Sex verbieten zu wollen.

Glauben Sie, den Gegnern der Ehe für alle geht es im Grunde darum, Homo­sexualität zu verbieten?
Ja. Leute, die mit der Natur argumentieren, sind homophob. Sie wollen die Ehe als Verbindung von Mann und Frau schützen. Und sie wollen die Hetero­sexualität schützen, indem sie sagen, nur Hetero­sexuelle können Kinder zeugen und Familien gründen.

Aktuelle Umfragen zeigen, dass 66 Prozent der Stimm­­berechtigten in der Schweiz die Ehe für alle befürworten. Wie war es damals in den Nieder­landen?
Es gab intensive Debatten, auch weil das nahe Dänemark 1989 als erstes Land überhaupt ein Gesetz für eingetragene Partnerschaften erlassen hatte. In den 1990er-Jahren wurden Befragungen zur eingetragenen Partnerschaft und zur gleich­geschlechtlichen Ehe durchgeführt. Sie ergaben ein klares Bild: Die Nieder­länder wollten die Ehe für gleich­geschlechtliche Paare öffnen. Aber die Idee zur Ehe für alle kam nicht von der Schwulen- und Lesben­bewegung. Die Schwulen und Lesben waren anfänglich sogar dagegen.

Warum?
Sie sprachen sich grundsätzlich gegen die Institution Ehe aus. Vor allem Lesben verstanden die Ehe als Ort der Ungleichheit, wo sich Frauen ihren Männern unter­ordnen müssen. Sie strebten danach, gleich­berechtigt zu sein.

Und warum waren Schwule dagegen?
Schwule wollten Sex, Liebe, Beziehungen in möglichst vielfältiger Weise ausleben. Man darf nicht vergessen: Bis in die 1960er-Jahre wurde ihnen geraten, zu heiraten, um sich von ihrer Homo­sexualität zu «heilen». Mit der Folge, dass nicht nur sie litten, sondern oftmals auch die Ehefrauen und die gemeinsamen Kinder. Schwule und Lesben lehnten die Traditionen ab, sie wollten Individualität und Freiheit. Sie hatten als Heran­wachsende in ihren eigenen Familien erlebt, was es bedeutet, in starren Formen aufzuwachsen und mit den Eltern nicht über Sex, Masturbation und die eigene sexuelle Orientierung sprechen zu können. Da war immer eine Stille, ein Geheimnis. Und dieses Geheimnis trug man in die Schule, in den Sport, überallhin.

Mitte der 1980er-Jahre drehte die Stimmung unter Schwulen und Lesben in den Nieder­landen zugunsten der Ehe für alle. Warum?
Erst war es hauptsächlich die Schwulen­zeitung «Gay Krant», die sich für die Öffnung der Ehe starkmachte und mit Artikeln eine Debatte lancierte. Die Zeitschrift wurde 1980 gegründet und war eher konservativ. Sie stützte die romantische Idee der Ehe und wollte sie Schwulen und Lesben zugänglich machen. Als die wichtigste LGBTQ-Vereinigung in Holland, die «Nederlandse Vereniging voor Integratie van Homo­seksualiteit», um 1990 realisierte, wie populär die Ehe für alle in der nieder­ländischen Gesellschaft geworden war, auch bei den eigenen Mitgliedern, unterstützte auch sie die Öffnung.

Warum wurde 1998 dann zunächst bloss die eingetragene Partnerschaft eingeführt?
Es war ein Kompromiss. Das damalige Justiz­ministerium argumentierte, dass das Parlament grosse Sympathien für die gleich­geschlechtliche Ehe habe. Es fürchtete aber die Folgen eines inter­nationalen Allein­gangs. Tatsächlich war das Parlament gespalten, die eine Hälfte war gegen die Öffnung der Ehe, die andere dafür.

Wie kam es doch noch zu einer Mehrheit für die Ehe für alle?
Im Jahr 2000 wurde eine Experten­kommission eingesetzt. Sie hielt fest, es sei diskriminierend, Schwule und Lesben von der Ehe auszuschliessen. Die Ehe sei eine lebens­lange Bindung, die nicht ausschliesslich zwischen Mann und Frau eingegangen werden müsse. Und auch Fort­pflanzung sei kein elementarer Bestand­teil der Ehe. Eine Mehrheit des Parlaments stimmte für die Öffnung, im Folge­jahr trat das Gesetz in Kraft.

Am 1. April 2001 heirateten die ersten homo­sexuellen Paare in Amsterdam. Wie haben die Nieder­länder reagiert?
Zwei Tage zuvor hatte das nieder­ländische Königs­haus bekannt gegeben, dass sich Kronprinz Willem-Alexander mit der Argentinierin Máxima Zorreguieta verlobt hat – mit einer Ausländerin! Das interessierte die Leute viel mehr als die Ehe für alle. Die meisten hatten sie ja befürwortet und fanden richtig, dass sie nun Realität wurde.

Wie kam es, dass die Niederlande schon vor 20 Jahren offen dafür waren?
In den Fünfziger­jahren hatte ein gesellschaftlicher Umbruch statt­gefunden, der Anteil junger Menschen war gewachsen. Viele von ihnen, auch ich, traten aus der Kirche aus. Die Religion verlor an Autorität, die Leute der Studenten- und feministischen Bewegungen in den Sechziger- und Siebziger­jahren wollten anders leben als ihre Eltern. Es gab viele neue Parteien, die Politik wurde diverser. Homo­sexualität wurde zu einer Subkultur, Schwule und Lesben mussten sich nicht mehr verstecken. Schwulen­clubs, Saunas und Bars öffneten, lesbische Gruppen besetzten leer stehende Häuser. Amsterdam entwickelte sich in den Sechziger­jahren, neben Kopen­hagen, zur europäischen Metropole für Homo­sexualität und Hedonismus. Die Schwulen­communitys in den anderen Ländern blühten später auf, in Deutschland und England in den Siebziger­jahren, in Spanien in den Achtziger­jahren, nach dem Tod Francos.

Im selben Jahr, als die Ehe geöffnet wurde, ging Pim Fortuyn in die Politik. Fortuyn gilt als Gründer des Rechts­populismus in den Nieder­landen, Geert Wilders als dessen Erbe. Wie hat sich die neue politische Stimmung auf Schwule und Lesben ausgewirkt?
Pim Fortuyn war offen schwul. Er war ein Gegner des Islam und wurde politisiert, so erzählte er es, weil ein Imam in Rotterdam gegen Schwule wetterte. Der Imam sagte, Schwule müssten bekämpft werden, sie seien eine Gefahr für den Frieden. Fortuyn setzte sich für Homo­sexuelle ein, schrieb Artikel über die Gewalt gegen Schwule. 2002 wurde er erschossen. Geert Wilders ist nicht schwul, er hat sich politisch auch nie zu Homo­sexuellen geäussert. Aber auch in den Nieder­landen gibt es, wie in vielen anderen Ländern, immer noch Gewalt gegen homo­sexuelle und Trans­menschen, Diffamierung, Hass.

Hat die Ehe für alle gar nicht so viel verändert?
Die allgemeine Vorstellung davon, wie Männer und Frauen sein sollen, diese religiös geprägte Idee von Geschlechter­rollen und Ehe, ist sehr tief in der Gesellschaft verankert. Es gibt ein grosses Bedürfnis, der hetero­normativen Idee zu entsprechen: Man will eine Kern­familie sein, also monogam leben und leibliche Kinder haben. Viele Menschen sehnen sich danach. Auch viele Schwule und Lesben haben solche Träume. Wir leben in einer hetero­sexuellen Welt, die der Idee von Vielfalt der Geschlechter und Beziehungen widerspricht.

Gert Hekma: «Die Menschen sehen auf einer abstrakten, intellektuellen Ebene ein, dass alle frei leben sollen. Nur ist die Realität viel komplizierter.»

Aber die Öffnung der Ehe hat doch das Spektrum möglicher und akzeptierter Beziehungs­formen erweitert.
In gesetzlicher Hinsicht, ja. Aber nicht unbedingt in gesellschaftlicher Hinsicht.

Wie meinen Sie das?
Als in den Achtziger­jahren in den USA und in Europa die Aids-Pandemie über die Schwulen hereinbrach und viele Menschen schwer erkrankten, stellten sich plötzlich Fragen: Wer erbt, wenn der Partner stirbt? Was geschieht mit dem gemeinsamen Haus? Wer darf mich im Spital besuchen? Wer gehört zu meiner Familie? Aids hat den schwulen und lesbischen Paaren aufgezeigt, dass sie im Unter­schied zu hetero­sexuellen Paaren keinerlei Rechte hatten und nicht abgesichert waren. Ähnliches zeigte sich durch den damaligen Baby­boom: Für Kinder, die in lesbischen Beziehungen geboren wurden, blieb die Partnerin gesetzlich betrachtet eine Fremde. In den Nieder­landen wurde die gleich­geschlechtliche Ehe populär, weil sich durch die Ehe­schliessung die Perspektive ergab, alle Rechte auf einmal zu bekommen.

Gesellschaftlich gesehen gab es keine Veränderungen?
Natürlich veränderten sich gesellschaftliche Dinge. In den Nieder­landen hatten die Schwulen­community und die Gesundheits­behörden während der Aids-Pandemie eng zusammen­gearbeitet. Die Darkrooms wurden nicht geschlossen wie in anderen Ländern, sondern zu einem Ort, wo sich Homo­sexuelle über HIV und sicheren Sex informieren konnten. Die HIV-Pandemie konnte eingedämmt werden, die Stigmatisierung von Schwulen und Lesben wurde geringer als in anderen Ländern.

Aber?
Auch in den Nieder­landen besteht die hetero­normative Welt weiter: Grund­sätzlich gehen wir heute davon aus, dass eine Person hetero­sexuell ist. Das heisst, sie muss sich als homo­sexuell outen, wenn sie offen homo­sexuell leben will. Der Entscheid zum Outing muss immer wieder getroffen werden, in jedem sozialen Kontext aufs Neue.

Die eigene Sexualität wird dadurch zu einer öffentlichen Angelegenheit.
Ja, und deshalb ist das Outing auch wider­sprüchlich: Einerseits wollen Schwule und Lesben in der Gesellschaft sichtbarer sein. Anderer­seits fürchten sie die Reaktionen der Menschen, wenn sie sich als schwul oder lesbisch zu erkennen geben. Aus Furcht vor Ablehnung entscheiden viele, ihre Sexualität für sich zu behalten. So bleibt Homo­sexualität in gewisser Weise ausserhalb der Gesellschaft, im privaten Raum.

Sexualität ist doch spätestens seit der sexuellen Revolution in den Siebziger­jahren ein öffentliches Thema.
Trotzdem bilden fixe Geschlechter­rollen, Monogamie und Hetero­sexualität noch immer die Basis, auf der Kinder erzogen und sozialisiert werden. Diese puritanische Vorstellung von Sexualität ist schwulen- und lesben­feindlich. Sie macht es jungen Menschen schwer, ihre eigene sexuelle Identität zu finden, und sie betrifft auch Sex­arbeiterinnen, die in unserer Gesellschaft als abnorm betrachtet werden.

90 Prozent der nieder­ländischen Bevölkerung sagen, Schwule und Lesben sollen leben, wie sie wollen. Aber 30 Prozent finden es abstossend, wenn sie zwei küssende Männer sehen. Die Zahlen in der Schweiz sind ähnlich wider­sprüchlich. Wie erklären Sie sich das?
Die Menschen sehen auf einer abstrakten, intellektuellen Ebene ein, dass alle frei leben sollen. Nur ist die Realität viel komplizierter. Unter jenen, die Homo­sexuelle verachten, befinden sich auch junge Menschen, gebildete Leute. Die Mutter eines meiner Studenten sagte zu ihm: «Für mich ist es kein Problem, dass du schwul bist.» Aber eigentlich sagt sie damit etwas anderes.

Dass es doch ein Problem ist?
Dass Schwulsein problem­behaftet ist, weil es Leute gibt, die mit Homo­sexualität ein Problem haben. Viele Schwule und Lesben haben die negative Vorstellung verinnerlicht, dass man als homo­sexuelle Person kein gutes Leben führen kann. Es fehlen noch immer die positiven Vorbilder.

In der Schweiz stören sich Gegnerinnen der Ehe für alle vor allem daran, dass homo­sexuelle Paare Kinder adoptieren dürfen und lesbische Paare Zugang zur Samen­spende erhalten. Gab es in den Nieder­landen damals auch solche Stimmen?
Frauen mit Kinder­wunsch, auch Lesben, hatten schon vor der Ehe für alle Zugang zur Samen­spende. Durch die Einführung der gleich­geschlechtlichen Ehe wurde für homo­sexuelle Paare die Adoption von fremden Kindern ermöglicht. Mit einer Ausnahme: Sie durften keine Kinder aus Ländern adoptieren, die traditionell schwulen­feindlich waren. Die Befürchtung war: Wenn Länder wie China sich bei den Adoptionen für homo­sexuelle Paare querstellen, würde es auch für hetero­sexuelle Paare schwerer, Kinder von dort zu adoptieren. Die Ausnahme­regelung sollte verhindern, dass sich die Öffnung der Adoption nachteilig auf hetero­sexuelle Paare auswirkt. Die Regelung wurde aber ein paar Jahre später gestrichen.

Zurzeit wird in den Nieder­landen die multiple Elternschaft diskutiert. Also die Möglichkeit, dass ein Kind mehr als zwei Eltern­teile hat. Es wäre ein Schritt weg von der traditionellen Kernfamilie.
Die lesbische und die Schwulen-Community setzen sich sehr für die multiple Elternschaft ein. Bei homo­sexuellen Paaren mit Kindern, die aus einer hetero­sexuellen Beziehung stammen, gibt es den biologischen Vater, die leibliche Mutter, den schwulen Vater, die lesbische Mutter, vielleicht noch den Stief­vater, die Stief­mutter. Manchmal leben ein lesbisches und ein schwules Paar mit ihren Kindern zusammen. Rechtlich ist die Elternschaft aber auf zwei Personen begrenzt. Die multiple Elternschaft würde der Schwulen- und Lesben­perspektive mehr entsprechen, weil es verschiedenen Beziehungs­möglichkeiten Rechnung trägt. Auch verschiedenen Beziehungen zum Kind.

Denken Sie, dass sich dadurch auch gesellschaftlich etwas verändern könnte?
In den Niederlanden warten wir derzeit auf eine neue Regierung, deshalb sind die Chancen für die multiple Elternschaft noch offen. Wenn sie kommt, würde sie vor allem eine rechtliche Verbesserung bedeuten. Und vielleicht auch eine soziale, weil sie beeinflusst, wie Familien zusammen­leben.

Wie optimistisch sind Sie?
Nicht allzu sehr. Solche Entwicklungen sind schwer vorweg­zunehmen. Sie sind kompliziert wie das Leben selbst.

Sie sind seit 2007 mit Ihrem lang­jährigen Partner verheiratet. Wie kompliziert ist es bei Ihnen?
Ich habe meiner Familie lange verschwiegen, dass ich geheiratet habe. Mein Mann und ich führten eine Art geheime Ehe. Für uns hat die Ehe nichts mit Romantik zu tun, sondern mit finanzieller Absicherung und dem Recht zu erben, wenn der andere stirbt.

Ihre Familie wusste aber, dass Sie schwul sind?
Nicht alle in der Familie. Als mein Vater starb, sprach ich mit meiner Mutter darüber, was in der Todes­anzeige stehen soll. Sie wollte, dass mein Ehemann auch aufgeführt wird. Ich war dagegen. Ich wollte nie, dass wir als Ehepaar gelten, wir haben auch andere Beziehungen. An der Beerdigung waren einige überrascht, als ich mit meinem Mann erschien. (lacht)

Sie leben Ihre Ehe als nicht monogame Verbindung. Grund­sätzlich: Hat sich die Ehe durch gleich­geschlechtliche Beziehungen verändert?
Der gesellschaftliche Trend zu mehr Gleich­berechtigung hat den Boden bereitet, die Ehe allen zugänglich zu machen. Doch die Idee von Gleichheit beeinflusst die Beziehungen, hetero- wie homo­sexuelle: Die Partner und Partnerinnen sind oft ähnlich alt, haben eine ähnliche Bildung und ähnliche Lebens­vorstellungen. Gleichheit hat in schwulen und lesbischen Beziehungen eine lange Tradition. Wenn man dasselbe Geschlecht hat, ist man sich ja schon bedeutend ähnlicher. Aber wie sich dadurch die Ehe verändert hat, weiss ich nicht. Interessant ist, dass sich in den Nieder­landen lesbische Paare am häufigsten scheiden, gefolgt von hetero­sexuellen Paaren. Schwule bleiben eher zusammen. Ich glaube, weil sie insgesamt häufiger eine offene Beziehung führen.

Wer nicht monogam lebt, ist glücklicher verheiratet?
Ich persönlich bin davon überzeugt, ja. Aber grund­sätzlich geht es darum, dass es möglich sein muss, auf ganz unter­schiedliche Arten zu lieben und zu leben. Die Gesellschaft muss von der Idee wegkommen, dass man nur als Kern­familie ein gutes Leben führt.

Zur Autorin und zum Fotografen

Salome Müller ist freie Journalistin und Autorin. Zuvor arbeitete sie sechs­einhalb Jahre beim «Tages-Anzeiger». 2018 erschien ihr Buch «Love, Pa. Briefe an meinen Vater» im Echtzeit-Verlag. Müller lebt in Zürich.

Die Bilder zu diesem Artikel stammen von Ernst Coppejans. Er lebt in Amsterdam und befasst sich fotografisch immer wieder mit Menschen aus der LGBTQ-Community. Zum 20-Jahr-Jubiläum der Einführung der Ehe für alle in den Nieder­landen hat er 20 Paare für die Ausstellung «Legal Love» porträtiert.