Dieser Berg rutscht. Und könnte ein ganzes Dorf auslöschen
Die Klimazukunft in Mitteleuropa: Trockenheit, Hitze und starke Niederschläge werden das neue Normal. Was bedeutet das für die Menschen vor Ort? Expedition in drei Schweizer Gefahrenzonen.
Von Flavia von Gunten, Florian Wüstholz (Text), Mathias Braschler und Monika Fischer (Bilder), 10.09.2021
Die Wassermassen der Unwetterkatastrophe in Deutschland Mitte Juli und das Extremwetter in der Schweiz haben zwei Glaubenssätze weggespült:
1. Der Klimawandel findet später statt.
2. Der Klimawandel findet anderswo statt.
Dazu passt, dass der Weltklimarat vor wenigen Wochen in seinem neusten Bericht über die Auswirkungen der Klimaerhitzung noch einmal bekräftigte, was das bedeutet: Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Klimakrise menschengemacht ist. Und ohne Massnahmen erwärmt sich die Erde bis 2030 um 1,5 Grad. Um jenen Wert also, den die Staaten gemäss Pariser Abkommen nicht überschreiten wollen – bis Ende des Jahrhunderts.
Realistische Fahrpläne mit griffigen Massnahmen fehlen jedoch fast überall. Auch die Schweiz tritt nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes auf der Stelle. Abgaben auf Benzin, Öl und Flüge sind inzwischen auch für die Schweizer Umweltministerin Simonetta Sommaruga vom Tisch.
Dabei haben Wissenschaftler bereits 2018 aufgezeigt, was eine ungebremste Erderwärmung für die Schweiz bedeuten könnte: Die Sommer würden trockener, die Niederschläge heftiger und die Hitzetage zahlreicher.
Doch was heisst das konkret? Wie zeigen sich die Gefahren heute und in Zukunft? Welche Lösungen gibt es? Und: Sind die betroffenen Menschen darauf vorbereitet?
Eine Expedition zu drei exemplarischen Gefahrenorten in der Schweiz.
1. Wattenwil, Kanton Bern: «Das Wasser räumt dich weg»
«Für Sandsäcke bitte melden.» Darunter die Telefonnummer des Materialwarts. Diese Notiz am Eingang des Feuerwehrmagazins, von Hand mit grünem Filzstift auf weisses Druckerpapier geschrieben, lässt erahnen: Die Feuerwehr Wattenwil hat reichlich Erfahrung mit Wasser.
77 Prozent aller Häuser in der Gemeinde westlich von Thun stehen in einer Hochwassergefahrenzone. Der Schweizer Durchschnitt beträgt 13 Prozent. Ob ein Gebiet als Gefahrenzone gilt, ergibt sich aus Prognosen zu Intensität und Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, die Menschen und Infrastruktur schädigen. In Wattenwil ist nur jede zehnte der 3000 Einwohnerinnen nicht gefährdet. Für alle anderen können die Gürbe, der Fluss im Talboden, oder die verschiedenen Bäche am Hang zur Gefahr werden.
Feuerwehrkommandant Remo Hadorn steht im Magazin im Industriegebiet des Dorfes. Hinter ihm reihen sich die Garderobenschränke des Pikettzugs, vor jedem hängt anzugsbereit eine Brandschutzhose – im Ernstfall darf für unnötige Handgriffe keine Zeit verloren gehen. Immer wieder unterbrechen verzerrte Stimmenschnipsel aus dem Funkgerät das Gespräch.
Hadorn deutet hinauf zum Gurnigel. Wenn sich dort oben am Pass etwas zusammenbraue, dauere es keine halbe Stunde, «und dann kommt es hier heftig», sagt er. Sofort rufe er dann seine Männer und Frauen an, damit sie die «Hotspots» kontrollieren. Dazu gehören vor allem die Seitenbäche der Gürbe: Oelebach, Mettlenbach, Spengelibach, Horngrabe. Hindern dort Blätter und Geröll das Wasser am Durchfluss, bahnt es sich seinen Weg über Strassen und Felder ins Dorf hinein.
Dann heult jeweils auch schon der erste Alarm. Wasser im Keller, in der Wohnung. Die Feuerwehr rückt aus und pumpt das Wasser aus den Häusern. Etwa 15 Keller waren es beim letzten Unwetter im Juni. Wo vorher Wiesen waren, rauschten plötzlich Bäche in Richtung Dorf.
Bei den Einsätzen hörte Hadorn, den man im Dorf entweder als Feuerwehrkommandant oder Velomechaniker in vierter Generation kennt, Geschichten von älteren Dorfbewohnern: «Einen solch starken und lange dauernden Platzregen habe ich noch nie erlebt.» – «Zum ersten Mal ist das Hochwasser über dieses Bord geflossen.» Und das in einer Gemeinde, die seit 1850 kaum ein Jahrzehnt ohne verheerendes Hochwasser erlebt hat.
Niederschläge werden in der Schweiz häufiger und intensiver. Das zeigen die Klimaszenarien des Bundes. Ohne Massnahmen im Klimaschutz tritt bis Mitte des Jahrhunderts ein Extremereignis nicht wie heute alle 100, sondern alle 20 Jahre ein. Denn mit jedem zusätzlichen Grad Celsius kann die Luft 7 Prozent mehr Wasser aufnehmen. Zudem bewegen sich Regenzellen langsamer und laden so noch mehr Wasser an der gleichen Stelle ab.
Die Feuerwehren seien die Ersten, welche die Auswirkungen des Klimawandels spüren würden, sagte der Direktor des Schweizerischen Feuerwehrverbands kürzlich der «NZZ am Sonntag». Kommandant Hadorn pflichtet bei und verweist auf die Statistik: In neun von zehn Fällen rückt die Feuerwehr Wattenwil aus wegen Wasser. Schon zehn Jahre sei es her, dass ein Haus zuletzt in Vollbrand stand. Das Wasser hat das Feuer als Gefahr abgelöst.
So passt sich die Feuerwehr Wattenwil an: Vier zusätzliche Wasserpumpen hat sie in diesem Jahr angeschafft. Und sie verkauft neu Sandsäcke an die Bevölkerung: 6 Franken das Stück à 15 Kilogramm, abgefüllt in Handarbeit von einigen der 76 Männer und 3 Frauen des Korps.
Andreas Zischg hört interessiert zu, wenn Remo Hadorn aus der Praxis erzählt. Er ist Professor für Modellierung von Mensch-und-Umwelt-Systemen und Co-Direktor des Mobiliar Lab für Naturrisiken des Oeschger Zentrums für Klimaforschung an der Universität Bern, forscht zu Hochwasser und begleitet die Republik auf dieser Expedition. Zischg schätzt den Austausch mit den Menschen vor Ort sehr.
«Die Gesellschaft delegiert das Risiko an die Feuerwehr, weil sie selbst nicht richtig baut», sagt Zischg. Er sieht die Individuen in der Verantwortung. «Wer einmal seinen Keller voll Wasser gehabt hat, dem passiert das nicht ein zweites Mal.»
Ihm schwebt vor, dass Gebäude Wasserschutznormen einhalten müssen, ähnlich den Feuerschutznormen. Er denkt dabei an Sensoren, die Garagentore automatisch schliessen, oder eine Auflage, dass Gebäude bis zu einer gewissen Höhe wasserdicht sein müssten. «Eigentum verpflichtet. Da ist der Gesetzgeber gefordert», sagt Zischg. Insbesondere, weil die Gefahren nicht kleiner werden.
Aus seiner Forschung weiss er, dass es seit 150 Jahren nach jedem grossen Hochwasserereignis einen Innovationsschub gegeben hat. «Mehr als die Hälfte der Hochwasserschutzprojekte werden nach einem Ereignis initiiert.» Das heisst aber auch: Nur in der Hälfte der Fälle schützen wir uns präventiv.
Auch in Wattenwil wurden erst nach einem Grossereignis Massnahmen ergriffen: «Am 29. Juli 1990 trat die Gürbe über die Ufer, riss zwanzig Meter lange Tannen mit und spülte Fische über die Strassen», erinnert sich Remo Hadorn, der das Unwetter als 13-Jähriger mit eingegipstem Bein vom Elternhaus aus beobachtet hat. Die Kantonsregierung rief den Katastrophenfall aus, der Schaden betrug 40 Millionen Franken. Teile der Landkarte mussten neu gezeichnet werden. Personen wurden zum Glück keine verletzt.
Als Reaktion darauf wurden oberhalb des Dorfes in der Gürbe Rechen aufgestellt, sie sollen Geschiebe aufhalten, damit das Wasser genügend Platz hat im Bachbett. Die Installation erfüllt bisher ihren Zweck. Doch um auf die künftigen Starkregen vorbereitet zu sein, investieren Bund, Kanton und Gemeinde nun 13,75 Millionen Franken in ein neues Schutzprojekt in Wattenwil. Künftige Hochwasser sollen über die Felder von Bäuerinnen ausfliessen. Betroffene Landwirte würden dafür entschädigt.
Seit dem Hochwasser von 2005, das schweizweit Schäden von rund 3 Milliarden Franken verursacht hat, haben Bund und Kantone 4,5 Milliarden Franken in den Hochwasserschutz investiert, weiterhin sollen es 380 Millionen jährlich sein. Auch das Wasserbaugesetz wird derzeit revidiert, wodurch der Hochwasserschutz ausgebaut werden soll.
Andreas Zischg sagt, dass da noch mehr drinliegen würde, doch er sieht die Grenzen der Politik: «Viele Leute stehen gefühlt täglich im Stau. Da baut ein Politiker lieber eine neue Autobahn, als ein Problem zu lösen, das nur einmal pro Jahrhundert auftaucht.»
Diese Haltung könne sich rächen, befürchtet Zischg. Er beobachtet, dass viele Schutzbauten ihre Lebensdauer überschritten haben. «Man wähnt sich sicher. Aber ein Dammbruch kann weit grössere Schäden verursachen, als wenn gar kein Damm vorhanden gewesen wäre.» Das ist kein fiktives Szenario: Im Juli drohte in Hünenberg im Kanton Zug der Reussdamm zu brechen. Die vermeintliche Kontrolle über die Fliessgewässer führe ausserdem dazu, dass immer näher an sie herangebaut werde, sagt Zischg.
Wegen der Kombination von alter Infrastruktur, ausgedehnter Besiedelung und zunehmenden Starkniederschlägen schätzt Zischg, dass Katastrophen wie in Deutschland, wo über 180 Menschen in den Fluten gestorben sind, auch in der Schweiz eintreten könnten. Und zwar schon heute. «Knapp 60’000 Personen wohnen in der Schweiz in einer roten Gefahrenzone, der Zone mit der höchsten Gefahr. Dort sind Menschen bei starken Unwettern nicht einmal in Gebäuden sicher.»
«In Sachen Frühwarnung ist die Schweiz Deutschland aber überlegen», sagt er. Was dort gefehlt habe, sei hier vorhanden: Menschen in den Dörfern, welche durch ihre Kenntnisse der Umgebung die Warnungen interpretieren und die richtigen Massnahmen ergreifen können.
Menschen wie Feuerwehrkommandant Remo Hadorn. Doch bei aller Prävention und allen Prognosen sei die Macht der Feuerwehr beschränkt: «Das Feuer können wir bekämpfen. Beim Wasser musst du manchmal einfach zur Seite. Sonst räumt es dich weg mit seiner Kraft.»
Die Wandtafel mit den Sandsack-Bestellungen ist vollgeschrieben.
2. Othmarsingen, Kanton Aargau: «Die Geschwindigkeit der Veränderungen ist beispiellos»
Hellbraune Weiden. Vertrocknete Pflanzen auf den Feldern. Tiefstände bei Flüssen und Seen. Alpwirtschaften, die per Helikopter mit Wasser beliefert werden mussten. Ganze Wälder, die sich bereits im Juli braun verfärbten. So präsentierte sich die Schweiz, als 2018 die letzte Hitzewelle über sie rollte.
Drei Jahre später erholt sich die Landwirtschaft von historischen Niederschlägen. Felder standen unter Wasser, Hagel verwüstete ganze Landstriche. Nun befallen Pilze Tomaten und Kartoffeln und gefährden die Ernte.
Michael Suter ist trotz der Schwierigkeiten dankbar. Der 29-jährige Landwirt hat erst letztes Jahr den Familienbetrieb vom Vater übernommen. «Der Schaden hält sich in Grenzen», sagt er. «Andere hat es viel schlimmer erwischt.» Auf seinem konventionellen Hof im beschaulichen aargauischen Othmarsingen wachsen auf 30 Hektaren Getreide, Mais, Zuckerrüben, Raps, Sonnenblumen und Gemüse. Im Stall stehen 25 gefleckte Holstein-Milchkühe und fressen frisches Heu. Über ihnen verläuft eine Wasserleitung. Wird es zu heiss, rieselt Wasser auf die Tiere.
«Ich beobachte den Klimawandel Tag für Tag», erzählt Suter. Dieses Jahr war mit den heftigen und häufigen Niederschlägen besonders herausfordernd. «Wenn es zu wenig regnet, kann man bewässern. Doch bei zu viel Regen kann man nichts machen.» Auf trockene Jahre, wie es sie 2018 und 2020 gab, ist er mittlerweile stets gefasst. Damit könne er umgehen. Zu seinem Glück ist der ganze Betrieb mit Bewässerungsanlagen ausgerüstet. Im Notfall kann Suter die ein paar hundert Meter entfernte Bünz anzapfen und seine Kulturen bewässern – «sofern das die Durchflussmenge zulässt».
Was nicht immer der Fall ist. «In den letzten Jahren war die Wassermenge oft zu gering», erinnert er sich. Dann müsse er auf die Trinkwasserversorgung ausweichen. «Es ist natürlich ein Privileg, dass wir in der Schweiz unsere Felder mit Trinkwasser bewässern können.» Im Jahr 2023 läuft Suters Bewilligung zur Wasserentnahme aus dem Bach aus. Ob der Kanton sie verlängert, ist ungewiss.
Trockenheit und Hitzewellen werden die Zukunft der Schweizer Landwirtschaft bestimmen. Vor allem im Sommer nimmt die Niederschlagssumme in den nächsten 50 Jahren ab. Mit einem Rückgang um 39 Prozent bis Ende des Jahrhunderts rechnet der Bund in seinen Klimaszenarien – sofern die Treibhausgasemissionen ungebremst steigen. Besonders für die landwirtschaftlich wichtige Region des Schweizer Mittellands sieht es düster aus.
Kaum jemand hat sich in der Schweiz intensiver mit Hitzewellen und Trockenheit beschäftigt als Sonia Seneviratne. Die 47-jährige ETH-Professorin am Institut für Atmosphäre und Klima blickt entsprechend skeptisch in die Zukunft: «Wir wissen, dass Extremereignisse wie Hitze und Trockenheit zunehmen», sagt sie, während sie mit Suter am Küchentisch sitzt. «Sie werden häufiger und intensiver.» Seneviratne zeigt – wie so oft während des Gesprächs – auf eine Statistik auf ihrem Laptop: Bereits heute kommen Trockenperioden in anfälligen Regionen, wozu auch Westzentraleuropa gehört, 70 Prozent häufiger vor. Bei einer weiteren Klimaerhitzung um 1 Grad gegenüber heute würden diese gar doppelt so oft und doppelt so intensiv auftreten wie heute.
Hinzu kommt: Je regelmässiger und heftiger Trockenperioden werden, desto weniger Zeit haben die Grundwasserpegel, um sich zu erholen. Flüsse und Bäche werden weniger Wasser haben. Bereits heute funktioniert die Landwirtschaft in manchen Regionen nur noch dank intensiver Bewässerung.
Das macht Suter Sorgen. «Wir haben hier leichten und kiesigen Boden», erklärt er. «Dieser kann nicht besonders viel Wasser speichern.» Bei starken und lang anhaltenden Regenfällen ist das ein Vorteil. Bleibt der Regen aus, wird der Boden zur Hypothek. «Ein trockener Boden wird wärmer, was wiederum zu mehr Trockenheit führt», sagt Sonia Seneviratne.
Suter nickt. Er erinnert sich an die Trockenheit von 2018: «Mancherorts waren die Felder so trocken, dass es zum Totalausfall kam.»
Der Steinhof von Michael Suter ist ein Paradebeispiel für die ambivalenten Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Landwirtschaft in der Schweiz. Die höheren Temperaturen, gepaart mit relativ verlässlichen Bewässerungsquellen, können sich gemäss Schweizer Bauernverband bei manchen Sorten positiv auf die Erträge auswirken. «Nichtsdestotrotz dominieren langfristig die negativen Effekte», schreibt der Bauernverband in seinem Fokusmagazin «Schweizer Landwirtschaft im (Klima)wandel». Mehr Kulturen müssen bewässert werden, das Getreide leidet unter den warmen und feuchten Wintern, Schädlinge breiten sich aus und Futterengpässe sind zu erwarten.
Auch für die Menschen könnte die Nahrung knapp werden. «Mit zunehmender Erwärmung steigt das Risiko, dass landwirtschaftliche Gebiete in unterschiedlichen Regionen gleichzeitig von Klimaextremen betroffen sind. Das könnte zu globalen Ausfällen führen», sagt Seneviratne. In einer solchen Situation könnten selbst reiche Länder nicht darauf vertrauen, Nahrung zu erhalten, wenn sie nur genügend Geld bezahlen. «Sobald es zu wenig Essen gibt, schaut jedes Land für sich.»
Wie kann sich die Landwirtschaft dagegen wappnen? Neue Sorten sollen mit Trockenheit besser umgehen und den zunehmenden Hitzestress besser verkraften können. Michael Suter versucht vor allem auch, den eigenen ökologischen Abdruck zu verringern. Eine Holzschnitzelheizung versorgt den Hof und die drei Wohnhäuser mit Wärme, der neue Mähdrescher verbraucht weniger Diesel, obwohl er grösser ist. «Ich würde auch gerne mal eine CO2-Bilanz des Hofes machen lassen, damit ich weiss, wo das grösste Einsparpotenzial ist», sagt er. Bei einem Neubauprojekt ist die Fotovoltaik auf dem Dach bereits eingeplant.
«Aber vieles kann ich nicht beeinflussen», sagt er. «In der Landwirtschaft sind wir darauf angewiesen, dass die Natur funktioniert. Ohne Insekten gibt es keine Bestäubung. Und ohne Wasser wachsen die Pflanzen nicht.»
3. Kandersteg, Kanton Bern: «20 Millionen Kubikmeter Gestein sind in Bewegung»
An einem sonnigen Mittwoch im August strömen die Menschen in Scharen nach Kandersteg im Berner Oberland. Schulklassen, Familien, Bikerinnen und Wanderer machen sich per Gondel auf den Weg zum Oeschinensee unterhalb der mächtigen Wände der Blüemlisalp. Doch der beliebte Wanderweg zum See ist gesperrt. Ebenso die normalen Zugänge zu Doldenhorn- und Fründenhütte. Denn im touristischen Kandersteg droht wegen der steigenden Temperaturen der Berg vom Fotosujet zur Gefahr zu werden.
Nils Hählen blickt zum Spitzen Stein, einem Felsvorsprung unterhalb des Doldenhorns, der jederzeit ins Tal runterdonnern könnte. «20 Millionen Kubikmeter Gestein sind dort in Bewegung.» Hählen, mit Sportsonnenbrille und Trailrunningschuhen, leitet die Abteilung für Naturgefahren des Kantons Bern und berät die Gemeinde Kandersteg im Umgang mit der drohenden Gefahr.
Wie gross diese ist, zeigt ein Vergleich mit dem verheerenden Bergsturz am Piz Cengalo vor vier Jahren: 3 Millionen Kubikmeter Fels lösten sich dort, verschütteten 8 Wanderer, und die folgenden Murgänge verwüsteten das Dorf Bondo mehrmals. 99 Häuser wurden beschädigt, ein Drittel davon musste abgerissen werden.
Ein Gleitschirmflieger entdeckte vor drei Jahren neue Risse am Spitzen Stein und alarmierte die Gemeinde. «Es hat sich dann schnell gezeigt, dass die Veränderungen aussergewöhnlich sind», sagt Hählen. Zwar wäre das Dorf wohl auch bei einem grossen Absturz nicht direkt betroffen. Wegen der Topografie käme das Gestein rechtzeitig zum Stehen. «Aber nach jedem Sturz folgen früher oder später Murgänge, die bis ins Dorf reichen könnten.» Je grösser der Sturz, desto mehr Material gelangt ins Tal.
In Kandersteg befinden sich deshalb zwei Drittel des Dorfs in einer Gefahrenzone. Der Entwurf der aktualisierten Gefahrenkarte zeigt, dass fast nirgendwo mehr gebaut werden dürfte. Das passt der Bevölkerung nicht. Es sei übertrieben und treffe das vom Tourismus abhängige Kandersteg hart, finden viele.
«Es gibt Indizien, dass auftauender Permafrost am Spitzen Stein eine wesentliche Rolle spielt», sagt Robert Kenner. Der 35-jährige Permafrostforscher der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft kommt gerade von Messungen am Oeschinensee. «Etwa 2 bis 3 Meter bewegt sich der Fels pro Jahr», sagt er. Im Schutt weiter unten sei es das Dreifache. «Für einen Geologen ist das Lichtgeschwindigkeit.»
Kenner ist vorsichtig mit Prognosen und Erklärungen. «Die Zusammenhänge sind sehr komplex. Es gibt keine einfachen Antworten und klare Auslöser.» Das zeigt nur schon der Permafrost, der eine «sehr ambivalente Rolle hat». Mit der Klimaerwärmung gelangt er ins Visier. Obwohl der Permafrost vielerorts das Gestein versiegelt, sorgt er doch zuerst dafür, dass der Fels sich auflockert. Das Eis frisst sich über Jahrtausende regelrecht in die feinen Spalten des Gesteins. «Taut das Eis auf, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit für Instabilitäten.»
Und es wird weiter tauen. Bis 2060 rechnet der Bund mit bis zu 17 weiteren «sehr heissen Tagen» pro Jahr. Am heissesten Tag des Jahres könnte es bis zu 5,5 Grad wärmer werden. Ein Trend, der sich in den vergangenen Jahrzehnten beobachten liess und sich auch in Zukunft fortsetzen wird.
«Während einer Erwärmungsphase erwarten wir eine Häufung von Bergstürzen», sagt Kenner. «Aber wir wissen nicht, wie lange das anhält.» Grosse Ereignisse, wie sie in Kandersteg drohen, sind so selten, dass keine statistischen Aussagen möglich sind.
Klar ist jedoch: Die Nullgradgrenze hat sich in den letzten 60 Jahren um 300 bis 400 Meter in die Höhe geschraubt, das Gletschervolumen hat seit 1850 um 60 Prozent abgenommen. Und Hitzewellen sind dreimal so häufig und intensiv wie vor 120 Jahren. Das macht auch den Alpen zu schaffen. Die Instabilität nimmt zu und führt zu gefährlichen Situationen wie hier in Kandersteg.
Bereits 2017 prognostizierte das Bundesamt für Umwelt: «Instabiler Permafrost führt zu häufigeren Bergstürzen.» Auch Rutschungen wie am Aletschgletscher oder bei Guttannen am Grimselpass sind auf den Klimawandel zurückzuführen. 6 bis 8 Prozent der Gebiete in der Schweiz schätzt das Bundesamt als «instabil» ein und rät, «den Gefahren möglichst auszuweichen». Wo dies nicht möglich sei, müsse die Situation überwacht werden.
So wie in Kandersteg. «Wir überwachen die Bewegung rund um die Uhr», sagt Hählen. Zweimal am Tag, bei Regen noch häufiger, schaut er sich die Daten an und überprüft die Gefahrensituation. Im Juli herrschte zwischenzeitig die zweithöchste Gefahrenstufe. Felsabbrüche von mehreren hunderttausend Kubikmetern sind dann möglich. «Bei grösseren Ereignissen haben wir zum Glück eine Vorlaufzeit von wenigen Tagen», sagt Hählen. Im letzten Jahr neu gebaute Schutzdämme entlang des Öschibachs können zwar einen Teil des Materials zurückhalten, aber längst nicht alles. Eine Evakuierung der 1322 Einwohnerinnen sei eine reale Möglichkeit. «Ein Abbruch von wenigen tausend Kubikmetern kündigt sich aber kaum an. Darum ist ein Teil des Gebiets oben dauerhaft gesperrt.»
Auch anderswo in der Schweiz rutscht der Berg. Aber es ist schwierig vorherzusehen, wo Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung nötig sind. «Im Wallis haben wir zum Beispiel Felswände identifiziert, die im kritischen Temperaturbereich sind und die bei einem Sturz Infrastrukturen treffen könnten», sagt Kenner. Auf der Liste stehen etwa 100 Standorte. «Aber eine so aufwendige und teure Überwachung wie in Kandersteg ist nicht grossflächig möglich.»
Kenner und Hählen wissen, dass die Klimaerhitzung in den Alpen zu diversen Gefahren führt. Betroffen sind nicht nur Dörfer und Wanderwege. Sondern auch Lawinenverbauungen, Hochspannungsleitungen, Strassenverbindungen. In Guttannen am Grimselpass war 2010 die internationale Gasleitung der Transitgas AG wegen Felsabstürzen während eines halben Jahrs blockiert.
«Das Einzelereignis ist aber nicht unbedingt das Problem», sagt Nils Hählen von der Abteilung für Naturgefahren. Wenn solche Ereignisse während des ganzen Sommers geschehen und sich über Jahre wiederholen, füllen sich Bachbette mit Geschiebe, es kommt zu Überschwemmungen, Infrastrukturen und Häuser werden zerstört. «Das ist ein Prozess, der nicht so schnell aufhört.»
Starkniederschläge, Trockenheit und Hitze: Die Besuche in Wattenwil, Othmarsingen und Kandersteg zeigen, dass die Schweizer Klimagefahren bereits heute aufflackern. Zwar lässt sich das Schlimmste vorläufig mit lokalen Massnahmen verhindern. Doch die Szenarien mit einer ungehemmten Klimaerhitzung belegen: Eine drastische Reduktion des Ausstosses von Treibhausgasen ist zwingend. Und diese ist nur möglich, wenn die weltweiten CO2-Emissionen drastisch gesenkt werden.
Nur: Bei der Abstimmung vom Juni lehnten alle besuchten Gemeinden das CO2-Gesetz ab. Wie viele Liter Wasser wohl die Ufer der Gürbe übersteigen müssen, wie viele Ernten ausfallen und Steine den Berg runterdonnern müssen, bis ein neuer Plan steht?
Wohl nicht allzu viel, mutmassen Politikwissenschaftler der Universität Zürich. Unmittelbar nach Unwettern nehme die Unterstützung für Klimaschutzvorlagen zu. Hätte die Abstimmung zwei Wochen nach der Hochwasserkatastrophe in Deutschland stattgefunden – das CO2-Gesetz wäre mit grosser Wahrscheinlichkeit angenommen worden.