Wer sagt uns, ob wir krank sind?
Nach einer Corona-Infektion leiden viele an Long Covid. Doch eine offizielle Diagnose gibt es bisher nicht. Ist es also überhaupt eine Krankheit? Und wer bestimmt das letztlich?
Von Cornelia Eisenach (Text) und Lisa Rock (Illustration), 03.09.2021
Im Kinderbuch «Alice hinter den Spiegeln» von Lewis Carroll philosophiert die Protagonistin mit einem hochmütigen Ei namens Humpty Dumpty über die Bedeutung von Worten:
«Wenn ich ein Wort verwende», erwiderte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig, «dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.»
«Die Frage ist doch», sagte Alice, «ob du den Worten einfach so viele verschiedene Bedeutungen geben kannst.»
«Die Frage ist», sagte Humpty Dumpty, «wer die Macht hat – und das ist alles.»
Diese Szene wählte der mittlerweile verstorbene Medizinhistoriker Robert Hudson als Ausgangspunkt für einen Essay über «Krankheitsbegriffe im Westen». In diesem münzt er Humpty Dumptys Aussage um und schreibt: «Krankheit bedeutete schon immer das, was die Gesellschaft diesen Begriff bedeuten liess, und nichts anderes.»
Welche Bedeutung ein Krankheitsbegriff hat und wer die Macht hat, darüber zu bestimmen – um nichts Geringeres geht es bei einem Phänomen, das uns derzeit fast täglich begegnet: Long Covid.
Häufige Anzeichen sind Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Konzentrationsstörungen. Mittlerweile sind über 200 Symptome dokumentiert. Doch die Studien zu Long Covid sind uneinheitlich. Sie haben verschiedene Definitionen, beziehen Betroffene mit unterschiedlich schweren Krankheitsverläufen ein und verlassen sich teilweise auf Selbstauskünfte der Patienten. Angaben zur Häufigkeit schwanken.
Was also genau unter dem Begriff «Long Covid» zu verstehen ist, ist nicht klar. Eine offizielle Diagnose gibt es nicht.
Auch wenn in Kommentarspalten und den sozialen Netzwerken manchmal von Simulantinnen und eingebildeten Kranken die Rede ist: Es besteht kein Zweifel, dass Covid-19 zu Langzeitfolgen führen kann. Alexander Turk, ärztlicher Vertreter des Schweizer Long-Covid-Netzwerks Altea und Chefarzt für Innere Medizin am Seespital Horgen, sagt: «Die Spätfolgen sind echt, da bin ich mir zu einhundert Prozent sicher.» Auch liesse sich der Zustand sehr gut von ähnlichen Krankheitsbildern wie dem Chronic-Fatigue-Syndrom abgrenzen. «Aber es ist ein Problem, dass es keine einheitliche Definition von Long Covid gibt, keine objektiven Parameter zur Diagnose.»
Eine Krankheit definieren
Viele Ärzte hierzulande orientieren sich an den Richtlinien des britischen National Institute of Health Care and Excellence. Demnach müssen Symptome, die sich während oder nach einer Infektion entwickeln, mehr als zwölf Wochen anhalten, und alternative Diagnosen müssen ausgeschlossen werden. Vor kurzem hat eine Gruppe deutscher Fachgesellschaften ebenfalls eine Leitlinie mit Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie veröffentlicht.
Allgemeingültig oder gar verbindlich sind solche Richtlinien nicht.
«Eine offizielle Definition der Diagnose wäre wichtig», sagt Mediziner Turk, «denn es gab in der Vergangenheit schon diffuse Krankheitsbilder, die sich dann später als nichts Handfestes herausstellten.» Als Beispiel nennt er das Schleudertrauma, das früher häufig und heute kaum mehr diagnostiziert werde. Turk warnt: «Wir müssen aufpassen, dass wir keiner Modediagnose aufspringen, dass wir kein Krankheitsbild erfinden.»
Ein Krankheitsbild erfinden? Stellt sich wieder die Frage, wer denn die Macht hätte, so etwas zu tun.
Die Macht lässt sich tatsächlich verorten. Und zwar in einem Buch. Die «Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme», kurz ICD, enthält alle bekannten organspezifischen und psychiatrischen Krankheiten mit zugehöriger Diagnose. Unter Diagnose versteht man dabei eine Zusammenfassung von Symptomen oder von Befunden wie Röntgenbildern und Laborwerten, welche für die Zuordnung einer Erkrankung zu einer Krankheitsentität nötig sind. Derzeit liegt die ICD in ihrer zehnten Revision vor, der ICD-10. Im Januar nächsten Jahres wird die Überarbeitung ICD-11 in Kraft treten. Herausgeberin ist die Weltgesundheitsorganisation WHO.
Ob Long Covid als Krankheit in die ICD aufgenommen wird, also als «eigenständige medizinische Entität angesehen wird», sei noch nicht entschieden, heisst es auf Anfrage vom deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Hier ist eines der WHO-Kooperationszentren für Klassifikationen angesiedelt. Diese Zentren erarbeiten, revidieren und erweitern gemeinsam die ICD. «Eine teilweise noch unklare Pathophysiologie, die grosse Varianz der möglichen Befunde und ihre individuelle Ausprägung machen eine eindeutige Zuordnung aktuell schwierig», schreibt die Pressestelle. Derzeit beschäftigten sich auf Ebene der WHO mehrere Arbeitsgruppen mit Long Covid. Die Dauer des wissenschaftlichen Diskurses und einer möglichen klassifikatorischen Anpassung sei momentan noch nicht absehbar.
Die Macht der Betroffenen
Falls die WHO einen Vorschlag zur Aufnahme einer neuen Krankheit erhält, wird dieser normalerweise in einem speziell dafür zuständigen Gremium innerhalb der Organisation geprüft, beispielsweise dem Medical Scientific Advisory Committee. Meistens kommt der Anstoss aus der Fachwelt. Das war bei Long Covid anders: Dass der Zustand überhaupt zu einem Thema in der Forschung und den Arbeitsgruppen der WHO geworden ist, ist zum grossen Teil Betroffenen zu verdanken. Dies zeigt ein Fachartikel mit dem Titel «How and why patients made Long Covid».
Demnach etablierte sich der Begriff Long Covid, ausgehend von ersten Einträgen Betroffener in den sozialen Netzwerken, über Erfahrungsberichte in Fachzeitschriften und klassischen Medien, bis hin zur Veröffentlichung eines Reports zu Symptomen, dessen Autorenteam sich ausschliesslich aus Patientinnen zusammensetzte. Im August 2020 trafen sich sogar Vertreter der WHO mit Betroffenen der Gruppe Long Covid SOS, einer Patientenorganisation aus Grossbritannien. Die Macht, die bisher hauptsächlich bei der WHO und ihren Expertinnen lag – nach ihr greifen nun auch die Betroffenen.
Dass die Patienten den Anstoss für die Erforschung einer Krankheit geben, sei sicher etwas Neues, sagt Long-Covid-Experte Turk. «Ich beurteile das positiv. Früher hat man zu wenig auf Betroffene gehört.» Aber man müsse trotzdem kritisch bleiben, und die Patientinnen müssten sich auch kritische Fragen gefallen lassen. «Die Gefahr besteht sonst, dass die, die am lautesten brüllen, gehört werden», so Turk.
Diagnosen sind im Fluss
Damit aber eine neue Diagnose in der ICD auftaucht, muss nicht nur entschieden werden, ob es sich um eine «medizinische Entität» handelt. Es braucht auch allgemeingültige Kriterien zur Diagnose. Wie wichtig diese sind, wird besonders deutlich am Beispiel psychiatrischer Leiden, wie Depression oder Schizophrenie, die sich nicht durch Befunde wie Röntgenbilder oder Laborwerte erfassen lassen.
In Bezug auf diese Krankheiten stellt die Entwicklung der ICD-10 in den vergangenen Jahrzehnten einen wahren Fortschritt dar, wie der Psychiater und Philosoph Paul Hoff darlegt. Hoff war lange Zeit stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) und sagt: «Vor der ICD-10 waren psychiatrische Diagnosen, überspitzt gesagt, häufig davon abhängig, in welchem Ort eine Klinik stand und welche Schule dort vorherrschte. Je nachdem, was der Chef dachte, wurde dann Schizophrenie mal häufiger, mal seltener diagnostiziert.» Das habe sich mit der ICD-10 geändert. Sie mache Diagnosen zuverlässiger.
Und sie erschafft eine universelle Sprache: Sie versieht jede Krankheit mit einer Schlüsselnummer, einem Code. Ein einheitlicher Code wiederum schafft einheitliche Patientengruppen, egal, wo auf der Welt. Und das ist wichtig, damit Forschende Ursachen studieren und allgemeingültige Therapien entwickeln können. Auch für die Erfassung von Krankheiten und Todesursachen in offiziellen Statistiken sind diese Schlüsselnummern notwendig. Für Long Covid, oder Post-Covid-19, wie es offiziell heisst, hat die WHO auf Anfrage einiger Mitgliedsstaaten im September 2020 eine sogenannte Notfallschlüsselnummer aktiviert.
So wissenschaftlich dieser Prozess auch sein mag und so ordentlich sich diese Klassifikation anhört – die ICD ist mitnichten die «reine Lehre». Diagnosen sind im Fluss. Einerseits, weil sich die wissenschaftliche Evidenz ändert, andererseits ändern sich aber auch gesellschaftliche Ansichten und Werte oder schlicht – das Leben. So galt Homosexualität bis zur Einführung der ICD-10 im Jahr 1992 als Krankheit. Und Transmenschen werden erst mit dem Inkrafttreten der neuen ICD-11 nicht mehr im Kapitel Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen geführt. Auch eine Unterart der Schizophrenie, die paranoide Schizophrenie, wird es in der Überarbeitung nicht mehr geben. Dafür kommen ab Januar neue Krankheiten dazu, etwa die Online-Spielsucht oder die krankhafte Trauerstörung.
Das Burn-out-Syndrom
Handkehrum taucht nicht alles, was in der kollektiven Wahrnehmung als Krankheit gilt, auch in der ICD auf. Ein Beispiel ist das Burn-out. Bei Überarbeitung der ICD entschied sich die WHO dagegen, Burn-out als Krankheit zu klassifizieren. Es wird in der neuen Version lediglich als «Faktor, der den Gesundheitszustand beeinflusst» aufgeführt.
Psychiater Hoff findet die Entscheidung richtig. Burn-out müsse zwar weiter erforscht werden, und es sei richtig, dass man es als Phänomen anerkenne. «Aber nur weil alle darüber reden, sollte man es nicht gleich als Krankheit aufnehmen. Das grundsätzliche Risiko, alles, was abweicht, für krank zu erklären, halte ich für grösser als das Risiko, Burn-out erst einige Jahre später, wenn weitere belastbare Forschungsergebnisse vorliegen, als Krankheit anzuerkennen.» Ärztlich versorgt würden die Betroffenen ja trotzdem.
Was krank ist und was gesund, ist also in gewisser Weise tatsächlich Verhandlungssache – ähnlich, wie es der Medizinhistoriker Hudson formulierte. Es widerspiegelt zum einen den Zeitgeist. Zum anderen aber auch schlicht unser Wissen oder Unwissen um eine mögliche Krankheit.
Ob Long Covid in die ICD aufgenommen wird oder nicht – die Konsequenzen machen sich hauptsächlich in der Zuverlässigkeit der Diagnose, der Forschung und in Statistiken bemerkbar. In der Schweiz ist eine offizielle ICD-Diagnose nicht nötig, damit Krankenkassen die Behandlungskosten übernehmen.
Es gilt das Vertrauensprinzip: Wenn Ärztinnen eine Behandlung durchführen oder verschreiben, so wird diese in der Regel auch bezahlt. Der medizinische Krankheitsbegriff unterscheidet sich vom rechtlichen. Laut Gesetz ist eine Krankheit «jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat».
Auch die Invalidenversicherung, die zuletzt eine Zunahme der Anmeldungen wegen Long Covid verzeichnete, entscheidet über einen Anspruch unabhängig davon, ob eine Krankheit in der ICD aufgeführt ist.
Eine Aufnahme von Long Covid in die ICD brächte dennoch etwas: Wenn wir klar sagen können, ob ein Zustand krankhaft ist oder gesund, so schafft dies Orientierung – und Orientierung bringt gedankliche Ruhe. Das ist wichtig, nicht nur für Betroffene. Auch für den gesellschaftlichen Diskurs, der unter anderem davon abhängt, wie schwer und wie häufig diese Spätfolgen von Covid-19 sind, und der derzeit von der Unruhe des Nichtwissens gekennzeichnet ist.
Im Moment bleibt uns aber nichts anderes übrig, als das Nichtwissen auszuhalten. Und auch wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass das Krankheitsbild überschätzt wurde oder dass weniger Menschen als bisher gedacht betroffen sind – jetzt Umsicht und Verständnis zu zeigen, kann erst mal nicht falsch sein.
Cornelia Eisenach ist freie Wissenschaftsjournalistin. Zuvor war sie beim Magazin für Wissen higgs.ch und bei der «NZZ am Sonntag» tätig. Sie ist ausserdem promovierte Biologin.