Das Bundes-Problemgericht
Wie am Bundesstrafgericht Autorität missbraucht, Sexismus und Mobbing kleingeredet und die Aufklärung der Missstände verschleppt wird.
Eine Recherche von Sascha Buchbinder (Text) und Chrigel Farner (Illustration), 27.08.2021
Man sieht dem Gebäude nicht an, was hinter seinen Mauern vorgeht. Ganz anders als die Nationalbank, die schon von aussen wirkt, als hätte jemand das Wort «Prestige» in Stein gehauen.
Nein, das Bundesstrafgericht in Bellinzona – ein neoklassischer Bau mit aufgeräumter weisser Fassade – ist optisch in etwa so dramatisch wie die angrenzende Raiffeisenfiliale. Maximal unaufgeregter Kontrast zur Stimmung im Gebäude.
59 von 80 Mitarbeitern am Bundesstrafgericht schildern in einer internen Umfrage Mobbingerlebnisse; 53 berichten von Gesundheitsproblemen. Von Migräne, Panikattacken, Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen, Depressionen und mehr. Nachzulesen auf den 27 Seiten eines vertraulichen Berichts, welcher der Republik und Radio SRF vorliegt.
Die Mitarbeiterinnen sagen, sie schämten sich, wenn sie irgendwo ihren Arbeitsort nennen müssten. Dabei wäre der gute Ruf des Bundesstrafgerichts wichtig. Die Strafjustiz wahrt die Norm. Das ist ihr Kerngeschäft: Sie sanktioniert Verstösse und bestätigt die gute Ordnung, indem sie die Regeln des Strafrechts durchsetzt. Strafgerichte sind Theater der Rechtschaffenheit. Sie verhandeln öffentlich. Und teilweise bis heute in Kostümen: Roben für Anwälte und Richterinnen, Uniform für Weibel.
Doch am Bundesstrafgericht läuft die Aufführung seit einiger Zeit aus dem Ruder. Hier wird es allzu oft allzu menschlich.
Sittenzerfall in Bellinzona
Dezember 2019, eigentlich die Zeit für besinnliche Weihnachtsbeleuchtung. Stattdessen flutet mediales Scheinwerferlicht die Hauptstadt des Tessins. «Spesenritter und Sexismus: Der Sittenzerfall am Bundesstrafgericht», titelt die «Aargauer Zeitung». Im Artikel erheben mehrere Personen anonyme Vorwürfe, die so präzise und schockierend sind, dass sich kurz darauf das Bundesgericht als Aufsichtsorgan einschaltet.
Bereits kurze Zeit später – im April 2020 – veröffentlicht das Bundesgericht seinen Bericht. Das Fazit: Im Wesentlichen sei am Bundesstrafgericht alles in Ordnung. Die Deutschschweizer sollten einfach «die kulturellen Eigenheiten der Tessinerinnen und Tessiner» besser berücksichtigen und freundlicher zu Angestellten sein, rät die Aufsicht den Kolleginnen in Bellinzona.
Mobbing? «Keine Anhaltspunkte.»
Sexismus? «Keine Hinweise.»
Diese Beurteilungen sind falsch, wie vergangenes Jahr Recherchen der SRF-Sendung «Rundschau» zeigten. Das Bundesgericht erwähnt im Bericht zwar zwei Entgleisungen eines Bundesstrafrichters, verschweigt aber bewusst sexistische Plakate, die ein anderer Richter während der laufenden Untersuchung in den Gängen des Gerichts aufhängt. Im Februar 2020 tapeziert er die Wände mit Steckbriefen, die Mitarbeitende verunglimpfen. Frauen taxiert er darauf als «schwatzhaft», «Geliebte des Präsidenten», «fruchtbar». Eine Tessiner Richterin und einen Richter affichiert er als «not wanted».
Die Wirkung: wie bei einem Autounfall. Die Gerichtsschreiberinnen, die Richter – das gesamte Personal läuft zusammen. Schweigend begaffen sie die Grobheiten, machen Fotos, Videos. Mehrere Personen alarmieren die abwesende Gerichtsleitung. Schliesslich werden die Bilder vom Hauswart von der Wand genommen und ins Büro der Gerichtspräsidentin gebracht.
Doch das Bundesgericht interessiert sich nicht für diesen Vorfall während seiner laufenden Ermittlungen. Von der «Rundschau» darauf angesprochen, erklärt Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer den Vorfall für irrelevant, weil der Richter, der die Plakate aufgehängt hatte, inzwischen pensioniert sei.
Präsident Meyer ist ein Mann, der mit seinem Amt verschmolzen ist. Wenn er spricht, geht sein Blick über die Köpfe der Adressierten hinweg. Meyer redet nicht, er hält fest.
Doch ausgerechnet Meyer hat sich während der Untersuchung selbst sexistisch über eine Richterin ausgelassen. Vor ihrer Einvernahme warnt er die anderen Mitglieder der Verwaltungskommission, das Gespräch werde lange dauern: «Die quasselt». Die sei «so eine Magersüchtige». Und: Er könne diese Frau «nicht länger als zwei Sekunden anschauen.» Die abschätzigen Aussagen werden aufgezeichnet, die «Rundschau» gelangt an das Material und macht die Bemerkungen publik. Meyer will sich bei der Richterin entschuldigen, doch diese reicht Strafanzeige ein. Zuletzt tritt Meyer in den Ausstand und verzichtet auf seine weitere Amtszeit. Ein Abgang in Schande.
Die Unantastbaren
Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments ist die Oberaufsicht der Gerichte des Bundes. Die GPK verfasst eine ausführliche Mängelliste zu Ulrich Meyers Untersuchung der Vorfälle in Bellinzona und verlangt im Juli 2020, dass das Bundesstrafgericht zwei weitere Berichte bei Fachleuten für Mobbing und Sexismus in Auftrag gibt. Die Erwartung ist, dass die Fachleute nicht mehr nur mit den Beschuldigten, sondern auch mit den Opfern sprechen werden.
Der erste dieser Berichte ist inzwischen fertig. Verfasst hat ihn die Mobbingexpertin und Anwältin Gabriella Wennubst aus La Chaux-de-Fonds, Kanton Neuenburg. Wennubst ist dreisprachig und gilt als integer. Ihr Bericht liegt der Republik vor. Er bestätigt erstmals, dass die Mehrheit der Angestellten am Bundesstrafgericht unter toxischen Arbeitsbedingungen leidet.
Die Mitarbeitenden erzählen von Mobbing und körperlichen Beschwerden. Richter würden herumschreien, mit Kündigung drohen, sich respektlos und arrogant aufführen. Rechtsanwältin Wennubst hält fest, dass am Gericht Gerüchte verbreitet, Mails ignoriert und Tatsachen verdreht würden.
Die einfachen Mitarbeitenden sagen: Die Richterinnen seien unantastbar, wer sie kritisiere, müsse mit Vergeltung bis hin zur Kündigung rechnen. Die Betroffenen nehmen die Konflikte nicht als Mobbing gegen Tessiner wahr, aber grundsätzlich gilt: Die Deutschschweizerinnen stellen die Mehrheit der Richter, das Personal stammt mehrheitlich aus dem Tessin.
Ein Richter im Verfolgungswahn
Hinzu kommt ein bisher unbekannter Zwischenfall, auf den die Republik und SRF bei den Recherchen stiessen. Am 1. Januar 2021, kurz nach 20 Uhr, will ein Autofahrer beim Luzerner Bahnhof gerade die Parkuhr füttern, als er von einem älteren Zweimetermann mit dem Handy fotografiert wird. Der Unbekannte leuchtet ihm ins Gesicht. Als sich der Autofahrer abdreht, wird der Fremde noch aggressiver: «Blib stoh, blib stoh du Schofsecku!»
Der Autofahrer ruft die Polizei. Als die Beamten eintreffen, werden sie vom Fremden geduzt, als «Bubis» und «Arschlöcher» beschimpft. Als er handgreiflich wird, überwältigen ihn die Polizisten mit einem Elektroschocker. Bei der Personenkontrolle stellt sich heraus: Der Fremde ist von Luzern, und bis letztes Jahr war er Bundesstrafrichter in Bellinzona. Ein Bär von Mann und normalerweise ein ausgesprochen umgänglicher, humorvoller Mensch. Aber er könne auch sehr laut werden und dank seiner Grösse und Statur wirke er dann so richtig einschüchternd, erzählen Kolleginnen.
Der frühere Richter glaubt, er werde vom Nachrichtendienst verfolgt und überwacht. Er dachte, der Autofahrer sei ein Agent, der ihn verfolgte. Den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft hat er angefochten. Darauf angesprochen sagt er, das Verfahren sei inzwischen eingestellt.
Wenige Wochen nach dem Zwischenfall lässt ihn ein befreundeter Arzt in eine psychiatrische Klinik einweisen, wegen Fremd- und Selbstgefährdung.
Seit 2018 ist der Richter in psychiatrischer Behandlung. Zuvor hat ihm der damalige Gerichtspräsident im Büro eine private Pistole abgenommen – weil sich die Mitarbeitenden fürchteten. Der Bundesstrafrichter ist ausserdem der Mann, der letztes Jahr die eingangs erwähnten sexistischen Plakate am Gericht aufhängt, dabei zwei Richter als «unerwünscht» kennzeichnet und das Bild einer Jägerin mit Bärentöter daneben hängt.
Eine Kanzleimitarbeiterin, die für ihn die Plakate gestalten muss, wird anschliessend krankgeschrieben.
Auf die Bilder angesprochen erklärt er, das sei ein Karnevalsscherz gewesen, er habe niemanden verletzten wollen.
Sylvia Frei, Präsidentin des Bundesstrafgerichts, lässt die Plakate damals abhängen und informiert das Bundesgericht über den Vorfall. Sie ergreift aber keine weiteren Massnahmen.
Dabei zeigen unsere Recherchen: Der Gerichtsleitung liegen zu jenem Zeitpunkt von mindestens zwei Personen konkrete Warnungen vor, dass sich der Richter absonderlich verhalte, sich von Geheimagenten verfolgt glaube und Hilfe benötige – so wie auch Anfang dieses Jahres in Luzern, als er deswegen einen Unbekannten bedrängt und es zum Handgemenge mit der Polizei kommt.
Bis zu seiner ordentlichen Pensionierung 2020 amtet er als Bundesstrafrichter – sogar als Einzelrichter, wie eine Suche in der Entscheiddatenbank zeigt. Einzige Vorsichtsmassnahme gemäss unseren Recherchen: Ihm wurde jeweils ein erfahrener Gerichtsschreiber zugeteilt.
Ist das zulässig? Müssen sich Beschuldigte nicht darauf verlassen können, dass ihre Richter im Vollbesitz ihrer Urteilskraft sind? Die Frage geht an die Gerichtspräsidentin Sylvia Frei und an den direkt verantwortlichen Präsidenten der Strafkammer, Martin Stupf. Beide behaupten, bis zur Pensionierung des Richters habe nie jemand «Zweifel bezüglich seiner persönlichen Geeignetheit als Richter gehabt». Auf die Frage, ob und wie dem Richter geholfen wurde, verweigert Frei die Antwort: «Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes.»
Im Bericht von Wennubst taucht der Richter zweimal schlaglichtartig auf. Die Gutachterin bezeichnet ihn als «Künstler». Seine sexistische, grobe Karnevalsausstellung werde von etlichen Mitarbeitenden kritisiert. Weil er inzwischen pensioniert ist, geht die Mobbingexpertin allerdings nicht weiter darauf ein.
Interessanterweise hört Wennubst den pensionierten Bundesstrafrichter trotzdem an: per Mail stellt sie ihm Fragen, die er beantwortet. Im Gegensatz dazu verzichtet die Expertin allerdings darauf, die ihr bekannten Opfer von Sexismus zu kontaktieren. Entsprechend fehlt deren Sichtweise in der Analyse gänzlich. Sexismus gerät zur Fussnote: Es habe «eine konkrete Situation in der Vergangenheit» mit einem anderen Richter gegeben, «die inzwischen jedoch gelöst ist.»
Die Opfer übergangen
Das erstaunt. Denn Ausgangspunkt für die Untersuchung ist, dass im Bericht des Bundesgerichts nur die Täterperspektive steht, die Sicht der Opfer fehlt. Weil sich Ulrich Meyer ausserdem durch seine sexistischen Aussagen selbst unglaubwürdig gemacht hat, kommt letztes Jahr von der GPK die Forderung nach einem neuen Bericht auf.
Mit Gabriella Wennubst wird eine Anwältin gefunden, die zum Thema publiziert hat. Als Wennubst im Herbst 2020 den Mitarbeitenden Gespräche anbietet, wird sie regelrecht überrannt. Mit 21 der 80 Mitarbeitenden führt sie Gespräche, 92 Prozent füllen ihren Fragebogen aus. Von der Nachfrage überrascht, muss das Volumen des Mandats erheblich aufgestockt werden.
Aber: Es kommen ausschliesslich jene zu Wort, die noch immer am Gericht tätig sind. Und so steht also im Bericht, dass das Sexismusproblem gelöst sei. Die Lösung allerdings heisst: die Opfer beenden ihre Karriere.
Als die Fälle 2018 intern bekannt werden, gibt es zunächst durchaus den Versuch der früheren Gerichtsleitung, die Betroffenen zu schützen. Ende September 2018 teilt der damalige Gerichtspräsident Tito Ponti intern mit, dass alle drei Gerichtsschreiberinnen der Strafkammer unter die direkte Verantwortung der Verwaltungskommission gestellt werden. Das Vertrauensverhältnis sei wegen des ungebührlichen Verhaltens von Martin Stupf, dem Präsidenten der Strafkammer, gebrochen.
Das klingt deutlich gravierender als die inzwischen vom Bundesgericht veröffentlichte Version, wonach Bundesstrafrichter Martin Stupf sich als Vorgesetzter bei zwei Schreiberinnen dafür entschuldigt habe, dass er sie bat, in nächster Zeit nicht schwanger zu werden, weil gerade viel Arbeit anstehe.
Die Frauen werden versetzt, um weitere Vorfälle zu verhindern.
Wir haben die Frauen kontaktiert. Es sind schwierige Gespräche. Das Vertrauen der Betroffenen in Gerichtsleitung und Bundesgericht wurde enttäuscht, sie wollen sich nicht öffentlich äussern. Bei weiteren Recherchen wird klar: Die beiden angezeigten Entgleisungen von Stupf sind nicht die ersten und nicht die einzigen. Und in den Akten des Bundesgerichts finden sich Schriftstücke dazu, welche die Gerichtsleitung kennen muss.
Keine der Frauen wirft Martin Stupf strafrechtlich relevantes Verhalten vor. Es geht vielmehr um unanständiges, verletzendes Verhalten eines Vorgesetzten gegenüber Mitarbeiterinnen und die Angst vor Vergeltungsmassnahmen, wenn jemand sich wehrt.
2018 soll sich Martin Stupf wiederholt für das Liebesleben seiner Gerichtsschreiberinnen interessiert haben. Die Frauen hätten ihm klar gesagt, dass sie sich unwohl fühlen bei diesen Gesprächen mit ihm allein im Büro. Trotzdem soll er nach den Namen ihrer Liebhaber gefragt haben. Er soll einer Schreiberin erklärt haben, dass Affären zwischen Angestellten nicht gern gesehen seien – auch wenn er persönlich das anders sehe und auch schon mal eine intime Beziehung zu einer Kollegin gehabt habe. (Später geht Bundesrichter Stupf mit einer anderen Gerichtsschreiberin eine Beziehung ein.) Eine der Frauen soll er aufgefordert haben, ihrem Liebhaber auszurichten, dass er sie nicht schwängern dürfe.
Es gibt noch zwei weitere Vorfälle. Gegenüber der Republik und Radio SRF schildern erstmals mehrere Personen übereinstimmend, dass Bundesstrafrichter Stupf bei einem Gerichtsausflug auf den Monte Generoso über das Liebesleben einer Mitarbeiterin spekuliert, als diese mit einem Kollegen den Tisch verlässt. Die Frau sei frisch geschieden, sie sei «verfügbar». Im Frühjahr 2018 macht er bei einem Mittagessen in einem Restaurant gegenüber einer Mitarbeiterin vulgäre Bemerkungen, begleitet von Onanierbewegungen in der Öffentlichkeit. Als er zur Rede gestellt wird, erklärt er die Entgleisung zur Privatsache. Bei den Vorfällen interessiert ihn scheinbar nur eines: Wer hat ihn angeschwärzt?
Im Bericht von Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer steht über Martin Stupf, dass er «öfters durch eine zu direkte, hemdsärmlig anmutende, das (weibliche) Gegenüber natürlicherweise einschüchternde Art aufgefallen ist».
«Ein Problem weniger :)»
Alle diese Schilderungen geben die Aussagen von Betroffenen oder die Wahrnehmung von Zeugen wieder. Bundesstrafrichter Martin Stupf erzählt eine andere Version.
Er bezeichnet die Vorwürfe als «bösartige und orchestrierte Angriffe auf meine Würde und Integrität». Sowohl der Bericht des Bundesgerichts wie auch der neue Bericht von Wennubst hätten die Vorwürfe abgeklärt und festgestellt, dass es keine Hinweise für sexuelle Übergriffe gebe. Gegenüber den Schreiberinnen habe er sich entschuldigt, die beiden hätten das vorbehaltlos akzeptiert. «Ich verachte zutiefst jede Form von Frauenfeindlichkeit und Sexismus.» Aus den Vorfällen habe er seine Lehren gezogen.
Zu den beiden neuen Vorfällen lehnt er eine Stellungnahme ab. «Ich kann mich nicht zu Vorwürfen äussern, die mir nicht arbeitsrechtskonform bekannt gemacht wurden, von denen ich weder die genauen Fakten noch den Hintergrund noch die Urheber der Meldung kenne.» Er distanziere sich aber «in aller Form von der Darstellung, in einem Restaurant eine obszöne Geste vorgenommen zu haben». Und noch einmal weist Martin Stupf darauf hin, dass die Betroffenen sich nicht bei der Sexismusexpertin gemeldet hätten.
Zentral ist: Die Recherchen zeigen, dass die offizielle Antwort auf die Frage nach Sexismusproblemen in Bellinzona noch immer lückenhaft ist. Dabei gibt es am Gericht selbst Akten dazu, und viele reden darüber. Doch inzwischen fehlt das Vertrauen, dass die Missstände wirklich angegangen werden. Im Bericht von Wennubst steht stattdessen, die Richter gälten am Gericht als unantastbar. Mit Grund.
Auf die angekündigte Versetzung der drei Frauen zu ihrem Schutz vor Stupf reagiert dieser mit Drohungen gegen die Mitglieder der dafür zuständigen Verwaltungskommission. Ausserdem verhört er seine Schreiberinnen, um herauszufinden, wer von den dreien ihn belastet hat. Bemerkenswert, weil Stupf es offenbar für möglich hielt, dass ihn auch die dritte Frau belastet haben könnte.
Die Richterinnen und Richter der Strafkammer verfassen im Oktober 2018 eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie sich hinter Abteilungspräsident Stupf stellen. Die Vorfälle, für die er sich entschuldigt hat, werden darin als Gerüchte bezeichnet. Es sei irreführend, von sexueller Belästigung zu reden, und ihr Präsident geniesse weiterhin das uneingeschränkte Vertrauen.
Bei den Parteinahmen für Stupf ist eine besonders problematisch: jene der heutigen Gerichtspräsidentin Sylvia Frei. 2018 ist sie die Ombudsfrau des Bundesstrafgerichts. Als solche ist sie eigentlich Anlaufstelle für Opfer und sollte eine Parteinahme vermeiden. Doch für Frei stellt nicht das Verhalten von Kollege Stupf ein Problem dar, sondern die Aussagen der Opfer.
Als sie per Mail erfährt, dass eine der Frauen kündigt, reagiert Sylvia Frei mit einem einzigen Satz: «Ein Problem weniger :)»
Sylvia Frei bestreitet das: «Die mir unterstellte Äusserung weise ich in aller Form zurück.» Das Problembewusstsein aller involvierten Personen sei sehr hoch.
Ihre Parteinahme für Stupf hält sie für unproblematisch: Nur wenn sich jemand direkt an sie als Ombudsfrau gewandt hätte, wäre sie zur Unparteilichkeit verpflichtet gewesen: «Ausserhalb dieser Funktion und der Tätigkeit ist es legitim, die persönliche Meinung kundzutun.»
Dabei ist am Gericht offensichtlich bekannt, dass es Sexismus gibt und wer dafür verantwortlich ist. Das zeigen unsere Gespräche mit aktuellen und früheren Mitarbeitenden. Und als die Generalsekretärin des Bundesstrafgerichts im August 2018 eine Broschüre zum Verhalten bei sexueller Belästigung per Mail verschickt, reagiert Martin Stupf umgehend. Er droht gegenüber der Gerichtsleitung, dass er die Generalsekretärin verklagen werde. Zehn Personen hätten ihn gewarnt, dass sich diese Mail gegen ihn richte, dass man ihm schaden wolle, wird er in den Akten zitiert.
Martin Stupf wird in der Mail nirgends erwähnt. Trotzdem fällt laut Stupf 10 von 80 Mitarbeitenden beim Thema sexuelle Belästigung sofort ein Name ein: Martin Stupf.
Im Bericht von Gabriella Wennubst steht, dass sich im Herbst 2020 niemand wegen Sexismus bei ihr gemeldet habe. Die Expertin schreibt auch, möglicherweise gebe es Hindernisse, die Meldungen erschwerten, und listet diese auf: «Angst, mangelndes Vertrauen, Glaube an die Unantastbarkeit der Richterinnen und Richter, Angst vor Vergeltungsmassnahmen».
Die Akten zurechtbüscheln
Gerichte sind komplizierte Organismen. Im Gegensatz zu Mitarbeitenden unterstehen Richterinnen nicht dem Personalrecht, sie sind von der Bundesversammlung gewählt. Niemand kann einem Richter einfach kündigen, niemand kann einer Richterin Befehle erteilen. Sie verwalten sich im Alltag weitgehend selbst via Verwaltungskommission und Plenarversammlung. Bei Konflikten mit Bundesstrafrichtern kann das Bundespersonalamt den Angestellten nicht helfen. Sie sind auf sich alleine gestellt.
Die Gerichtsschreiberinnen, die sich über das mutmasslich sexistische Verhalten ihres Vorgesetzten beklagt haben, sind inzwischen weg. Die Generalsekretärin, die sich für sie wehrte, ist ebenfalls weg. Das Plenum der Richter hat beschlossen, ihr zu kündigen. Ihr wird vorgeworfen, dass ihre E-Mail zum Thema sexuelle Belästigung alle Richter unter Generalverdacht gestellt und dem Gericht geschadet habe. Bundesstrafrichter Martin Stupf dagegen präsidiert weiterhin die Strafkammer des Bundesstrafgerichts.
Das Problembewusstsein am Bundesstrafgericht passt in eine Nussschale. Sogar als bekannt wird, dass sich Ulrich Meyer als Ermittler in Sachen Sexismus selbst sexistisch geäussert hat, halten die Richter in Bellinzona an Meyers Bericht fest. Via Pressestelle beklagen sie die neuerliche negative Berichterstattung, die offensichtlich von einigen wenigen Leuten am Gericht gesteuert werde. Dabei habe das Bundesgericht im Bericht von April 2020 doch festgestellt, dass die Vorwürfe «unbegründet und gegenstandslos sind.»
Inzwischen ist klar: Die Blindheit des Bundesgerichts ist kein Zufall. Ulrich Meyer als Chefermittler verzichtet 2019 nämlich darauf, selber Beweise zu erheben. Stattdessen bittet er die dreiköpfige Gerichtsleitung in Bellinzona um «Factsheets».
Praktischerweise bekommt er eine fertige Dokumentation, die sechs Bundesordner umfasst. Das heisst: Die Gerichtsleitung, die beschuldigt wird, Teil des Problems zu sein, büschelt selbst die Belege, die das Bundesgericht dann untersucht, um anschliessend festzustellen, dass die Vorwürfe haltlos sind.
Die Verwaltungskommission bereitet die Untersuchung aber nicht nur vor, sondern die Präsidentin des Bundesstrafgerichts in Bellinzona, Sylvia Frei, erhält den Bericht sogar zur Schlussredaktion und tauscht sich mit dem untersuchenden Ulrich Meyer telefonisch darüber aus – nachzulesen in einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von April 2021.
Die beiden Gerichte schliessen sich also kurz und halten das Parlament so gut es geht aussen vor. Eigentlich hat die GPK bei Meyer den Bericht in Auftrag gegeben, aber Meyer lässt zunächst die vom Parlament gesetzte Frist verstreichen. Dann verlangt er eine schriftliche Zusicherung, dass das Papier vertraulich behandelt werde – und veröffentlicht schliesslich den Bericht selbst, bevor ihn die parlamentarische Oberaufsicht zur Kenntnis nehmen kann. Ein Affront.
Damit konfrontiert, bestreiten beide Gerichte diese Darstellung. Die Präsidentin des Bundesstrafgerichts sagt, dass das Bundesgericht in die Ordner auch noch die Eingaben der betroffenen Personen aufgenommen habe, das seien nicht nur die von der Gerichtsleitung gelieferten Akten gewesen. Vor allem aber bestreiten beide, dass es eine Schlussredaktion durch Frei gab. Meyer habe ihr «einzig die Gelegenheit geboten, sich zu redaktionellen Fehlern/Formalien zu äussern».
Zur Frage, wie vollständig die Akten waren, die das Gericht der Expertin zur Verfügung stellte, verweigert Frei die Antwort. Das müsse Gabriella Wennubst beantworten. Die Expertin sei völlig frei in ihrer Arbeit gewesen. Wennubst wiederum hält sich eisern ans Anwaltsgeheimnis. Unsere Fragen bleiben unbeantwortet.
Wie unabhängig, wie korrekt die beiden bisherigen Untersuchungen sind? Wir können das nicht beurteilen. Auch weil niemand Unabhängiger die Akten kennt, die die Leitung des Bundesstrafgerichts in eigener Sache zusammengestellt hat. Die Recherchen der Republik zeigen aber, dass niemand die Hintergründe der sexistischen Ausstellung anschauen will, dass sich bis heute niemand bei den Sexismusopfern gemeldet hat. Dabei wären bei sexueller Belästigung die Wahrnehmung des Opfers, die Vorgeschichte und der Kontext entscheidend für die rechtliche Würdigung.
Die Recherchen zeigen erstmals, dass es mindestens vier sexistische Zwischenfälle gibt, zu denen Aktenstücke und Zeugenaussagen vorhanden wären. In beiden offiziellen Berichten werden aber nur jene erwähnt, die Martin Stupf zugibt. In den Akten steht auch, dass sich die Opfer vor Rache fürchten. Dass die Gerichtsschreiberinnen sowie die Generalsekretärin gehen mussten, wird dabei von mehreren Personen als Bestätigung verstanden.
Klar wird durch die Recherchen, dass der Bericht des Bundesgerichts die Situation am Gericht schönredet. Die vorgebrachten Probleme werden isoliert dargestellt und scheinen so nicht sehr gravierend. Dass eine Gerichtsschreiberin erzählt, sie profitiere von Privilegien? Klingt harmlos. Dass einer anderen Gerichtsschreiberin eine Weiterbildung verunmöglicht wird? Kann vorkommen. Doch was, wenn die sexistischen Vorkommnisse zum Bindeglied werden? Dann stehen hinter Zudringlichkeiten Drohungen, dann wird Stillhalten mit dem Gewähren kleiner Vorteile belohnt.
Wenn die in Akten und von Dritten geschilderten Zusammenhänge zutreffen, dann wird am Bundesstrafgericht Autorität missbraucht.
Bern, wir haben ein Problem
Wir haben die Spezialistin für Mobbing und Sexismus, Rechtsanwältin Monika Hirzel-Karolak, um ihre Einschätzung gebeten. Die Anwältin kann kein Gutachten zu den konkreten Fällen abgeben, aber sie stellt fest: «Für eine erfolgreiche Untersuchung muss man mit den Betroffenen direkt sprechen können.» Und eine Gutachterin bräuchte Akteneinsicht.
In beiden bisherigen Berichten wurde nicht mit den Betroffenen gesprochen, und die Akten sind offenkundig lückenhaft.
Auch am Bundesstrafgericht geht es nicht immer nur um Strafrecht. Sexuelle Belästigung und Sexismus können auch das Arbeitsrecht oder das Gleichstellungsgesetz verletzen. Zum Beispiel dann, wenn eine Frau klarmacht, dass ihr ein Verhalten unangenehm ist. «Wenn man dann diese Grenze, die gesetzt worden ist, nicht respektiert, dann ist der Tatbestand der sexuellen Belästigung grundsätzlich erfüllt», so Hirzel-Karolak. Wenn also aus den Akten klar wird, dass sich mehrere Personen schon vorgängig gegen Anzüglichkeiten verwahrt hatten, dass nicht alle Vorfälle mit einer Entschuldigung erledigt wurden, müsste eine Gutachterin diese Akten bekommen.
Vor gut einem Jahr schreiben die Richterinnen und Richter des Bundesstrafgerichts einen Brief ans Bundesgericht und bezeichnen die Vorwürfe von Mobbing und schlechtem Arbeitsklima als «Unterstellung einiger weniger Personen». Sie behaupten, die Vorwürfe würden bewusst erhoben, um dem Gericht zu schaden. Inzwischen hat der Bericht von Wennubst gezeigt, dass Mobbing in Bellinzona keine Fata Morgana ist, dass eine Mehrheit der Angestellten unter dem Arbeitsklima leidet, erkrankt. Kündigungen häufen sich.
Ein Jahr ist es nun her, dass die Gerichtsleitung in Bellinzona angekündigt hat, eine vom Bundesgericht geforderte Mediation zu veranlassen. Inzwischen wurde der Auftrag vergeben. Begonnen hat diese Mediation allerdings noch immer nicht. Den Leidensdruck? Nimmt die Gerichtsleitung gedämpft war.
Den Bericht Wennubst, der aufzeigt, dass eine Mehrheit der Mitarbeitenden Krankheitssymptome zeigt, liest Sylvia Frei als Entwarnung. Da stehe: «Dass der Vorwurf des Mobbings allgemein oder des kulturellen Mobbings gegen Italienisch sprechende Mitarbeitende im Besonderen klar zurückgewiesen werden kann. Ebenso, dass es keine aktuellen Hinweise auf Sexismus oder sexuelle Belästigung irgendwelcher Art, weder physische noch psychische, gibt. Diese Ergebnisse sind für uns relevant, und darauf stützen wir unsere weiteren Massnahmen.»
Ende September steht die Wiederwahl der Richterinnen und Richter durch das Parlament an. Wiederwahl! Das klingt nach Bilanz, nach Kassensturz und vielleicht sogar nach einem Wechsel. Nicht so fürs Bundesstrafgericht. Die Gerichtskommission des Parlaments hat gestern beschlossen: «Dass keine Feststellungen vorliegen, welche die fachliche oder persönliche Eignung der sich für eine Wiederwahl zur Verfügung stellenden Personen ernsthaft infrage stellen.»
Bern, wir haben ein Problem.
Sascha Buchbinder ist Recherchejournalist bei der SRF-Sendung «Rundschau». Zuvor war er Lokaljournalist, Auslandkorrespondent und Inlandredaktor für NZZ, «Tages-Anzeiger» und Radio SRF.