«Wir sind nicht im Mittelalter, wo nach Intuition oder Emotion entschieden wird»
Ein Basler Gericht reduziert die Strafe für einen Vergewaltiger. Das Opfer habe «mit dem Feuer gespielt». Die Öffentlichkeit reagiert empört – zu Recht? Gespräch mit einer shitstormerfahrenen Ex-Kantonsrichterin über menschelnde Richter, Täter-Opfer-Umkehr und Druck auf die Justiz.
Von Anja Conzett (Text) und Tom Haller (Bild), 18.08.2021
Zwei Männer vergewaltigen und nötigen am Morgen des 1. Februar 2020 eine Frau in Basel. Einer der Männer wird erstinstanzlich zu vier Jahren und drei Monaten unbedingt verurteilt. Vor ein paar Wochen entscheidet das Basler Appellationsgericht: Die Strafe ist auf drei Jahre teilbedingt zu reduzieren, der Mann soll nächste Woche entlassen werden. In der mündlichen Urteilsbegründung erwähnt die vorsitzende Richterin, wie das Opfer vor der Vergewaltigung einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann auf der Toilette eines Clubs hatte – das Opfer habe «mit dem Feuer gespielt», so die Gerichtspräsidentin. Und: Der Übergriff habe «nur» elf Minuten gedauert.
Die mündliche Urteilsbegründung der Strafreduktion sorgt für Schlagzeilen, auch im Ausland – wird dem Opfer da ernsthaft eine Mitschuld attestiert? Das Gericht verschickt eine Medienmitteilung, in der es versucht, sich zu erklären. Kurz darauf demonstrieren Hunderte Menschen in Basel vor dem Gericht – Rücktrittsforderungen werden laut.
Bevor sich die Öffentlichkeit empöre, müsse sie richtig hinhören, sagt Marianne Heer. Bis vor einem Jahr sprach sie Recht am Kantonsgericht in Luzern. Und man müsse sich bewusst sein, was in einem Gerichtssaal verhandelt werden kann – und was nicht.
Frau Heer, mindestens 500 Frauen und Männer haben gegen das Urteil und die Begründung des Appellationsgerichts Basel demonstriert. Sie haben diese Kundgebung im Vorfeld kritisiert. Warum?
Ich halte das Demonstrationsrecht sehr hoch. Und doch ist die Situation, die wir hier haben, für unseren Rechtsstaat ein grosses Problem. Wenn die Öffentlichkeit – ohne die Akten zu kennen – so extrem Einfluss auf ein Urteil nehmen will, setzt das Richterpersonen unter Druck. Richter und Richterinnen, die sich unter Druck fühlen, sind potenziell ängstlich oder opportunistisch. Wie problematisch das sein kann, sehe ich auch als Spezialistin für therapeutische Massnahmen und Verwahrung, wo der Druck und das Sicherheitsdenken extrem zugenommen haben. Dabei ist die Unabhängigkeit der Justiz eines unserer wichtigsten Rechtsgüter.
Dann hat sich die Öffentlichkeit gefälligst rauszuhalten, während die Justiz im dunklen Kämmerchen arbeitet?
Auf keinen Fall. Ich bin dezidiert der Meinung, dass sich Richter zu wenig zu Urteilen äussern – sich zu wenig der Öffentlichkeit stellen. Justizöffentlichkeit ist mir seit jeher ein grosses Anliegen, für das ich nach wie vor kämpfe. Nicht nur, weil ich die Medien als vierte Gewalt schätze, sondern auch, weil es wichtig ist, in der breiten Bevölkerung Verständnis für die Mechanismen in der Justiz zu schaffen. Insofern lässt sich auch sagen, dass Richter durchaus mitverantwortlich sein können, wenn sie auf so grosses Unverständnis stossen.
Marianne Heer war 37 Jahre in der Luzerner Justiz tätig – unter anderem als Staatsanwältin und zuletzt als Oberrichterin. Seit diesem Jahr ist sie pensioniert, doziert aber weiterhin an der Uni Freiburg über Sanktionenrecht und an der Uni Bern über Strafprozessrecht. Während ihrer Zeit am Gericht engagierte sie sich auf politischer Ebene dafür, dass bei Sexualdelikten obligatorisch eine Frau im Spruchkörper einsitzt, und dafür, dass Opfer von sexuellen Übergriffen in Abwesenheit der Täter einvernommen werden können, um das Risiko einer sekundären Traumatisierung zu verringern. Ebenfalls setzte sie sich stark für die Schulung von Richterinnen hinsichtlich der Befragung und Einvernahme von Opfern ein sowie hinsichtlich des Umgangs von Gerichten mit Medien und generell für die Öffentlichkeit der Justiz.
Wenn nicht demonstrieren – wie soll die Öffentlichkeit denn reagieren, wenn ein Urteil aus ihrer Sicht falsch ist?
Wir haben in der Schweiz glücklicherweise den Instanzenzug. Es gibt verschiedene Rechtsmittel, die zur Verfügung stehen. Ein falsches Urteil kann gerügt werden, dafür haben wir eine zweite kantonale Instanz und das Bundesgericht.
Analog dazu kann man ja trotzdem den Rücktritt einer Richterin fordern, oder?
Rücktrittsforderungen und Abwahlen von Richtern sollten nur für Extremfälle sein, wo eine Persönlichkeit nicht akzeptabel ist – nicht tragbar ist, aus ganz gewichtigen Gründen.
Zum Beispiel, wenn ein Richter ein übler Sexist ist?
Zum Beispiel. Aber das lässt sich nicht an einem Gerichtsfall festmachen. Auch dass man sich jetzt so auf eine einzelne Richterperson fokussiert, finde ich schwierig. Die Gerichtspräsidentin, die die Begründung verlesen hat, war Teil eines Dreiergremiums – vielleicht war sie in diesem Gremium sogar unterlegen, war gegen eine Strafreduktion, das wissen wir nicht. Nein, die Rücktrittsforderung ist nicht gerechtfertigt, selbst wenn das Urteil falsch wäre.
«Wäre», sagen Sie. War das Urteil also nicht falsch?
Es liegt noch keine schriftliche Urteilsbegründung vor. Wir wissen folglich noch nicht, welche Faktoren, die uns vom Strafgesetzbuch vorgegeben sind, zur Strafreduktion beigetragen haben, und das dürften mehrere gewesen sein. Sehen Sie, Justiz ist die Wissenschaft des Rechts – wir Richterinnen haben klare Vorgaben, an die wir uns bei der Beurteilung von Fällen zu halten haben, damit wir einerseits jedem einzelnen individuellen Fall gerecht werden können und andererseits Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit gewährleistet bleiben. Wir sind nicht einfach im Mittelalter, wo nach Intuition oder Emotion entschieden wird.
Sie haben als Kantonsrichterin in Luzern selbst einmal einen Shitstorm in einem Fall von sexueller Belästigung ausgelöst, weil Sie das Opfer bei der Einvernahme fragten, welche Kleider es getragen habe und wie tief der Ausschnitt gewesen sei.
Ja, das gab eine Riesensache, inklusive Medientreffen am Gericht … (lacht) Aber eben, ich schätze Journalistinnen, die kritisch hinschauen. Schiessen Sie los.
Okay: Was tut es bitte schön zur Sache, wie tief der Ausschnitt des Opfers war?
Es war eine technische Frage. Lassen Sie mich ausholen. Als Richterinnen sind wir in der Situation, in der wir prüfen müssen, ob sich eine Straftat beweisen lässt. Das ist eine extrem schwierige Ausgangslage bei 4-Augen-Delikten, zu denen Vergewaltigungen in den meisten Fällen gehören. Besonders schwierig wird es, wenn der Fall Jahre nach der Tat in zweiter Instanz zu uns kommt. Noch viel mehr, wenn die Tat erst später angezeigt wird. Oft hat man dann keine Spuren, keine gynäkologischen Untersuchungen, keine zerrissenen Kleider – es steht Aussage gegen Aussage, und wir müssen prüfen, welche Aussage glaubwürdiger ist. Dazu müssen wir eine Aussagenanalyse vornehmen, die einem komplexen Aufbau folgt. Das bedeutet Dutzende Fragen nach vielen Details – und das ist verständlicherweise auch extrem schwierig nachzuvollziehen für die Opfer.
Und was bedeutet das konkret im Luzerner Dekolleté-Fall?
Die Tat wurde meines Erinnerns in der kalten Jahreszeit begangen. Der Täter war ein Taxifahrer, das Opfer seine Kundin. Das Opfer sagte aus, er habe ihr in den Ausschnitt gelangt und ihren Busen angefasst. Der Taxifahrer behauptete, das sei gar nicht möglich gewesen, weil das Opfer eine Jacke und einen Schal anhatte – was gemäss der Jahreszeit plausibel erschien. Also musste ich der Frage nachgehen, was das Opfer zur Tatzeit anhatte und ob der geschilderte Übergriff technisch überhaupt möglich war, welche Aussage glaubhafter war. Der Täter wurde übrigens schuldig gesprochen.
Dann ging es bei Ihrer Frage nicht darum, eine Mitschuld des Opfers zu suggerieren?
Natürlich nicht! Eine Frau kann anhaben, was sie will – das gibt dem Täter noch lange nicht die Berechtigung hinzulangen. Aber die Medien haben meine Frage damals anders interpretiert. Und es ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Öffentlichkeit erst empört, bevor sie richtig hinhört. Zugegebenermassen sind das aber für Laien schwierige Unterscheidungen.
Können Sie nachvollziehen, weshalb Ihre Frage nach der Tiefe des Ausschnitts so heftige Reaktionen ausgelöst hat?
Das Sexualstrafrecht ist ein hochemotionales, steiniges Gebiet. Und wir müssen klar festhalten: Die Anerkennung der Opfer und ihrer Rechte – was für eine grosse Belastung so ein Übergriff darstellt – haben wir sehr lange erkämpfen müssen, und es liegt auch heute noch viel im Argen. Wir haben auch heute noch immer Gerichtsurteile, in denen Vergewaltigungen als viel zu kleines Unrecht eingeschätzt und manchmal sogar mit Geldstrafen sanktioniert werden. Stellen Sie sich das vor!
Ist die Debatte, die wir nun aufgrund der Empörung über das Basler Urteil führen, also berechtigt?
Diese Debatte ist keineswegs überflüssig, weil dadurch die Plattform geschaffen wird für weitere Forderungen und Sensibilisierungen; auch von Richtern. Viel hat sich verbessert, aber es ist noch nicht gut, und es muss noch viel gekämpft werden – es gibt immer noch gelegentlich Grund für Empörung, und ich verstehe das und ich will es auch nicht nur verurteilen.
Was aktuell auch viele empört, ist das victim blaming – das nicht totzukriegende gesellschaftliche Phänomen, dass Opfern unterstellt wird, mitschuldig an der Tat zu sein. Eine schmerzliche Erfahrung, die viele Opfer von sexualisierter Gewalt durchmachen müssen.
Das ist auch der Grund, dass bei vielen der Aufschrei so stark ist – weil wir Frauen so viele schlechte Erfahrungen gemacht haben. Entsprechend hitzig wird dann aufgrund von Einzelfällen debattiert, ohne die Details dieser Fälle zu kennen. Aber gesellschaftspolitische Debatten können wir nicht in einem Gerichtssaal führen. Ich will also keineswegs sagen, es ist alles in Ordnung; es ist vieles nicht in Ordnung, und doch möchte ich für das Basler Gericht Stellung beziehen. Wir müssen genau hinhören, worum ging es in diesem Urteil, was waren die entscheidenden Faktoren?
Gegenüber «20 Minuten» haben Sie zu dem Basler Fall gesagt, dass Opfer eine Mitverantwortung hätten. Was meinen Sie damit?
Der Satz war ungenau, beziehungsweise meine Aussagen wurden verkürzt wiedergegeben. Gemeint ist nicht die Verantwortung im Sinne eines Verschuldens. Aber generell und überall – auch im Sexualstrafrecht – muss man sich verantwortlich fühlen, wie man verstanden wird. Ich als Richterin genauso wie Sie als Journalistin.
Die Basler Richterin sprach in der Urteilsbegründung davon, dass das Opfer «mit dem Feuer spielte». Das ist doch victim blaming par excellence?
Das ist für sich allein in dieser verkürzten Form sicher eine unglückliche Formulierung, und es war wahrscheinlich fahrlässig von der Richterin, diesen Punkt so herauszuheben. Aber das bedeutet nicht, dass das Urteil an sich falsch ist, weil es wie gesagt diverse Faktoren gibt, die sich strafmildernd auswirken können, und ich davon ausgehe, dass zusätzlich noch ganz andere Gründe zur Strafmilderung geführt haben.
Was für Gründe könnten das sein?
Der Täter hat sich selbst gestellt, soweit ich weiss, und das Wichtigste, was vom Appellationsgericht kommuniziert wurde – es handelt sich um einen Ersttäter. Bei Ersttätern muss man ganz besonders die Frage stellen: Ist ein langer Gefängnisaufenthalt verschuldensadäquat; entspricht das dem individuellen Verschulden des Täters?
Was vom Basler Appellationsgericht ebenfalls angeführt wurde: Die Vergewaltigung sei mit elf Minuten kürzer gewesen als von der Vorinstanz angenommen. Lässt sich Trauma mit der Stoppuhr messen?
Nein. Aber es ist legitim und notwendig, die Intensität eines Übergriffs zu beurteilen. Das Ausmass, mit welcher Gewalt der Täter vorgeht – die konkrete Art und Weise der Tatbegehung –, macht in der Justiz einen enormen Unterschied. Wir haben bei Vergewaltigungen einen Strafrahmen von einem bis zehn Jahren – und es ist ein Unterschied zwischen einer einfachen kurzen Tatbegehung und dem Sachverhalt, bei welchem ein Opfer beispielsweise länger gefangen gehalten, sadistisch behandelt wird, es ist relevant, ob der Übergriff besonders quälend ist und lange dauert. Wir müssen bedenken, dass eine Nötigung oder Gewaltanwendung vorerst einmal schon gegeben sein muss, damit der Tatbestand der Vergewaltigung überhaupt als erfüllt zu betrachten ist und ein Schuldspruch erfolgen kann. Eine Traumatisierung ist damit ja wohl regelmässig verbunden. Beim Strafmass, also der Festlegung der Höhe der Strafe, werden dann allenfalls noch zusätzliche traumatisierende Elemente berücksichtigt.
Dann spielt es also eine Rolle, wie grausam das Opfer den Übergriff empfindet?
Ja, die Traumatisierung muss zwingend eine Rolle spielen – ob das dann wirklich richtig beachtet und gewürdigt wird, ist wieder eine andere Frage … Grundsätzlich müssen Gerichte aber versuchen, die Schwere der Traumatisierung des Opfers einzuschätzen, um das Verschulden des Täters zu bemessen.
Aber wie misst man Trauma? Ist da nicht die Gefahr gross, dass Richter aufgrund des Lebenswandels des Opfers die Schwere der Traumatisierung festlegen? Dass einer Frau mit aktivem Sexleben beispielsweise automatisch weniger Trauma zugestanden wird?
Das darf natürlich nicht passieren. Auch Sexworkerinnen können von sexuellen Übergriffen schwer traumatisiert werden. Es darf auch nicht sein, dass die Strafe – das Verschulden eines Täters – davon abhängt, ob er auf ein Opfer trifft, das den Übergriff eher leichtnimmt oder besonders schwer. Deshalb müssen wir als Richter die Traumatisierung verobjektivieren.
Was heisst das konkret, Verobjektivierung?
Es bedeutet, dass nicht primär die Frage ist, wie das Opfer den Übergriff subjektiv empfindet. Man versucht das nach objektiven Gesichtspunkten einzuordnen in dieser Palette des Strafmasses von einem bis zehn Jahren. Und bei dieser Einordnung gilt: Wir haben ein Täterstrafrecht, kein Opferstrafrecht, das Verschulden des Täters steht also immer im Vordergrund.
Ab wann wirkt sich das Verhalten des Opfers denn strafmildernd für den Täter aus?
Wir kennen im Gesetz die strafmildernden Umstände der Provokation und der Versuchung, und bei diesen haben Richter einen gewissen Ermessensspielraum. Ich will da auch keinesfalls blauäugig sein – nicht jede Richterperson legt diese Umstände gleich aus. Wir Richterinnen sind Menschen, wir haben Hintergründe und Wertvorstellungen, und diese bringen wir mit ein, wenn es um Ermessen, also um Auslegungsfragen geht, auf die wir insbesondere in der Strafjustiz immer wieder stossen. Und der Machorichter beurteilt das vielleicht anders als die feministische Richterin.
Mit anderen Worten – je nach Richter hat der Täter Glück, und es wird das Opfer beschuldigt?
Grundsätzlich müssen wir auch hier noch einmal festhalten: Es geht in der Strafjustiz nicht primär darum, das Verhalten des Opfers zu beurteilen, sondern das Verhalten des Täters. Victim blaming hat also per definitionem keinen Platz in der Justiz. Ermessensfragen müssten zudem zeitgemäss ausgelegt werden. Und wenn wir die Rechtsprechung analysieren – besonders im Sexualstrafrecht –, dann haben da viele Veränderungen und ein Umdenken stattgefunden. Es ist grundsätzlich klar, dass es nicht darum gehen kann, dass jemand flirtet oder wie das Opfer angezogen ist. Eine Provokation oder Versuchung muss meines Erachtens ein aktives Verhalten sein, das objektiv gesehen vom Täter klar in einem bestimmten Sinn ausgelegt werden darf.
Das sieht man in Basel offenbar anders: Dort wird in der mündlichen Begründung aufgeführt, dass die Frau vor der Vergewaltigung mit einem andern Mann Geschlechtsverkehr auf der Toilette hatte. Das klingt nicht nur nach victim blaming, sondern auch nach slut shaming.
Ein passives Verhalten wie dieses als Provokation anzusehen, fände ich problematisch. Eine Frau soll so viel Geschlechtsverkehr haben können, mit so vielen Männern, wie sie will – sie hat trotzdem jederzeit das Recht, Nein zu sagen.
Dann hätte so etwas in der Urteilsbegründung also nichts verloren?
Doch. Als Würdigung der gesamten Umstände kann man es berücksichtigen, aber parallel zu anderen Faktoren. Und wieder: Wir kennen die Akten nicht. Wir wissen nicht genau, was konkret passiert ist. Daher möchte ich auch nicht abschliessend dazu Stellung nehmen. Ein bestimmtes Verhalten des Opfers gegenüber einer Drittperson, mag es moralisch auch noch so zu beanstanden sein, ist noch keine Provokation, aber das schliesst nicht aus, dass das Opfer dem Täter Signale gesendet hat, die falsch interpretiert wurden.
Mich irritiert dieser Begriff: «Signale». Wenn ein Mann eine Rolex am Handgelenk trägt und damit prahlt, wie vermögend er ist, signalisiert er dann damit, dass man ihn ausrauben soll? Würde so etwas in die Würdigung der Gesamtumstände einfliessen?
In die Würdigung der Umstände, ja, durchaus. Als Signal funktioniert es nicht. Dazu muss man aber auch sagen, dass sich diese beiden Delikte nicht eins zu eins vergleichen lassen.
Warum nicht?
Sex ist eine Interaktion. Anders als zum Beispiel bei einem Einbruch oder einem Überfall gibt es beim Sex zwischen Freiwilligkeit und Zwang eine Abstufung. Das heisst, es besteht beispielsweise die Möglichkeit, dass das Opfer vorerst einwilligt und die Einwilligung dann aber zurückzieht – wozu es übrigens immer auch berechtigt ist. Das ist eine Besonderheit: der Schuldspruch hängt bei einer Vergewaltigung per definitionem vom Verhalten des Opfers ab. Ein Vergleich, der funktioniert: Wenn ein Mann sich auf Sadomaso einlässt, es ihm irgendwann zu weit geht und er den Partner auffordert, aufzuhören, dieser aber weitermacht, dann ist das klar eine Straftat – aber anders zu bewerten, als wenn ein Täter einen Mann auf offener Strasse überfällt und sadistische Handlungen an ihm ausführt. Ob man als Täter eine Gelegenheit ausnutzt oder eine Gelegenheit künstlich schafft, sind unterschiedlich schwere Delikte.
Bleiben wir beim Stichwort Gelegenheit: Opfer von Vergewaltigungen kennen meistens, wie im Fall Basel, den Täter; haben eine Art Vertrauensverhältnis zu ihm. Wenn ich einen Bekannten in meinem Haus übernachten lasse, habe ich dann mehr Verantwortung, als wenn ich auf offener Strasse überfallen werde?
Nein. Das würde uns 15 Jahre zurückwerfen – in die Zeit, als Vergewaltigung in der Ehe noch kein Offizialdelikt war. Unfassbar, die Diskussionen damals.
Aber wenn es im Nachgang heisst «man habe mit dem Feuer gespielt», sind Frauen dann nicht gut beraten, bei jedem Mann, den sie kennen, davon auszugehen, dass es sich um einen potenziellen Vergewaltiger handelt?
Das wird im Basler Fall dem Gericht jetzt ja auch vorgeworfen, dass es suggeriert, dass der Mann per se ein Triebtäter ist – und wenn das «Spiel mit dem Feuer» tatsächlich der Hauptgrund für die Strafreduktion gewesen ist, dann wäre dieser Vorwurf auch gerechtfertigt. Aber wie gesagt, davon gehe ich nicht aus. Ansonsten lässt sich sagen: Natürlich ist der Mann nicht einfach ein triebgesteuertes Tier. Sehr häufig ist das Motiv bei Vergewaltigungen auch nicht Sex – zumindest nicht primär.
Ein guter Ansatz – gehen wir einmal nur vom Verhalten des Täters aus: Warum vergewaltigen Männer Frauen?
Oft geht es um Dominanz, um Macht, um Demütigung.
Es gibt mehrere Studien, die klar festhalten, dass Misogynie – die generelle Geringschätzung der Frau – eine zentrale Rolle spielt bei Gewalt an Frauen …
Korrekt.
Wenn die Misogynie ein so klarer Treiber für Gewalt an Frauen ist, wird sie als verschärfender Faktor bei Sexualdelikten berücksichtigt?
Wie gesagt kennt man beim Tatbestand der Vergewaltigung verschiedene Qualifizierungen. Die Art der Tatbegehung spielt heute schon eine Rolle, worauf ich bereits hingewiesen habe. Auch das Motiv zu einem gewissen Mass. Bislang ist nach der Praxis Misogynie aber nicht Teil einer solchen Beurteilung, anhand der wir ein Urteil verschärfen können. Strafnormen haben immer den Schutz von Rechtsgütern zum Ziel, die von einer Mehrheit der Rechtsgemeinschaft als schützenswert erklärt werden. Bei der Vergewaltigung geht es um den Schutz der sexuellen Freiheit und Integrität und nicht oder höchstens indirekt um die Menschenwürde oder die grundsätzliche Achtung eines Opfers als Person. Wollte man dies einbringen, bräuchte das eine Gesetzesänderung, die ich dem Grundsatz nach durchaus unterstützen würde.
Wie könnte so eine Gesetzesänderung aussehen – wie schliessen wir diese Lücke?
Ich habe lange mit einer Änderung des Sexualstrafrechts geliebäugelt. Da wäre der Fokus auf der sexuellen Selbstbestimmung der Frau. Aber die sexuelle Selbstbestimmung ist nur ein Aspekt, der von Misogynie betroffen ist. Deshalb glaube ich inzwischen, wir müssen nicht spezifisch das Sexualstrafrecht ändern, sondern vielleicht mehr in die Richtung einer Ausweitung der Rassismusstrafnorm nachdenken oder noch besser eine besondere Strafnorm schaffen, um dem mangelnden Respekt vor der Frau als Geschlecht handfest begegnen zu können. Ein derartiges Verletzen einer solchen Strafnorm im Rahmen eines Sexualdelikts ist meines Erachtens vor Gericht zwar nicht leicht zu beweisen – und doch wäre es ein klares Signal, an die Täter genauso wie an die Opfer.