Verfassung for Future
Die Klimakrise bekämpfen wollen, konkrete Massnahmen aber aufschieben? Das geht nicht, urteilt das deutsche Verfassungsgericht. Warum dieser Entscheid bahnbrechend ist.
Von Yvonne Kunz, 18.08.2021
Am besten lesen Sie ihn selbst, den einstimmig gefällten Beschluss des Ersten Senats am deutschen Bundesverfassungsgericht vom 24. März 2021. Anders als viele juristische Schriften ist dieser Text auch Laien zur Abendlektüre auf dem Sofa wärmstens empfohlen.
Wer glasklare Gedankengänge in langen, aber wohlproportionierten Sätzen schätzt, kommt voll auf die Rechnung. Es ist von sonderbar brutaler Schönheit, wenn sich acht höchste Richterinnen hinsetzen und sich mit dem Klimawandel beschäftigen: als Sachverhalt, der diesem Fall zugrunde liegt. Und wem die Schrille, die Dumpf- und Dummheit des derzeitigen öffentlichen Diskurses zu den grossen Herausforderungen unserer Zeit manchmal zu viel wird, findet in diesen 72 Seiten Ruhe.
Es ist mentale Wellness, wenn sich ausgewiesene Verfassungsrechtsexpertinnen mit grösster Sorgfalt zu fundamentalen Gesellschaftskonzepten äussern – statt Journalisten und Politikerinnen oder, gerade besonders ermüdend, die Freiheitsevangelisten und Hobby-Verfassungshüterinnen der Corona-Ära.
Ort: Bundesverfassungsgericht Karlsruhe
Zeit: Beschluss vom 24. März 2021, verkündet am 29. April 2021
Fall-Nrn.: 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20
Thema: Klimaschutz
Paukenschlag, Meilenstein, Sensation: Der Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gilt als das Klimaurteil schlechthin. Als historisch wird es eingestuft, rundum; in Fachkreisen, in den Medien und in der Politik. Als epochal, revolutionär, gar postkolonial. Die Karlsruher Richter hätten die Freiheit befreit, schrieb «Die Zeit». Und dabei laut «Verfassungsblog.de» en passant eine Staatsphilosophie des international solidarisch handelnden Staates entworfen.
Selbst jene, die in solche Jubelarien nicht einstimmen wollten, nannten das Urteil aus Karlsruhe immerhin innovativ und ambitioniert.
Es beginnt so:
Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Grundgesetz) schliesst den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen.
Es ist der erste von fünf Leitsätzen, die dem Urteil vorangestellt sind. Das Gericht sagt also klipp und klar: Klimaschutz ist Grundrechtsschutz.
Was im Alltag schnell dahingeredet ist, arbeitet das Bundesverfassungsgericht akribisch heraus. Abgeleitet aus Art. 20a des Grundgesetzes, wo der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen seit 1994 als Staatszielbestimmung festgeschrieben ist, erkennt das Gericht einen verfassungsrechtlich verbindlichen und gerichtlich überprüfbaren Auftrag zum Klimaschutz.
Derselben Logik folgten schon viele Klimaklagen, mit denen sich Privatpersonen und Organisationen weltweit gegen die mangelnde Bereitschaft ihrer Regierungen zu entschlossenen Massnahmen gegen die Klimaerwärmung juristisch zur Wehr setzten.
Doch so weit gedacht wie die Richterinnen in Karlsruhe hat sie noch niemand.
Künftige Generationen schützen
Der erste Leitsatz, und das ist der Clou des Urteils, endet nämlich so: Die Schutzpflicht des Staats kann eine Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. Mit diesem generationenübergreifenden Blick auf die Grundrechte hat das Gericht unter dem Vorsitz von Stephan Harbarth einen neuen gedanklichen Weg eingeschlagen.
Bisher scheiterten ähnliche Klagen nämlich oft am Fehlen einer «unmittelbaren Betroffenheit». Diese ist im engen rechtlichen Sinn in Bezug auf den Umweltschutz derzeit in kaum einem Fall gegeben. Noch ist, zumindest in unseren Breitengraden, schwierig zu benennen, inwiefern jemand aufgrund eines bestimmten Umstands durch den Klimawandel in seinen Grundrechten beeinträchtigt ist. Jüngere Kläger können nur die Befürchtung anbringen, dass sie in Zukunft einschneidenden Veränderungen ausgesetzt sind, die ihre Freiheiten stark einschränken werden.
Diesen Ansatz hat das Bundesverfassungsgericht aufgegriffen – und verschärft. Denn es sagt auch das klipp und klar: Klimaschutz ist Klimaneutralität. Einen anderen Schluss lasse der wissenschaftliche Kenntnisstand nicht zu. Netto null bis 2050 gemäss Pariser Abkommen wird in Deutschland damit faktisch in den Verfassungsrang gehoben.
Der durch das Gericht zu behandelnde Klagegegenstand war das deutsche Klimaschutzgesetz, das nach langen Streitereien 2019 verabschiedet wurde. Diesbezüglich stellt das Gericht nun fest: Mit den darin gesteckten Reduktionszielen erfüllt die Bundesregierung ihren verfassungsmässigen Schutzauftrag nicht zur Genüge, insbesondere gegenüber künftigen Generationen.
Denn das heutige Gesetz führe dazu, dass das CO2-Budget ab 2030 weitestgehend erschöpft sei, wenn man das in Paris festgelegte Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf möglichst 1,5, aber zwingend auf 2 Grad über dem vorindustriellen Niveau einhalten wolle. Daraus folge, dass ab 2030 immer gravierendere Eingriffe in die Grundrechte nötig würden.
Im Kern der gerichtlichen Argumente steckt also weniger die Gefahr für künftige Generationen durch den Klimawandel an sich (Extremwetterereignisse etwa), sondern es geht um die Massnahmen, die nötig sind, um die Erderwärmung zu bremsen und deren Folgen zu mildern.
Nichts tun heute, sagt das Bundesverfassungsgericht, bedeute für die Menschen der Zukunft eine vor der Verfassung nicht zulässige Beschneidung der Grundrechte: «Potenziell betroffen ist praktisch jegliche Freiheit, weil heute nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden sind und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sein können.»
Für das Gericht geht schlicht nicht an, dass man sich kurzfristig unter vergleichsweise milder Reduktionslast grosse Teile des CO2-Budgets genehmigt, wenn dadurch nachfolgende Generationen ihre natürlichen Lebensgrundlagen nur mit radikaler Enthaltsamkeit bewahren können.
Salopper ausgedrückt: Es ist nicht in Ordnung, wenn wir in den Zwanzigerjahren auf unser Recht pochen, für jede Party ein neues Kleid zu kaufen, dreimal im Jahr im Billigflieger in den Süden zu jetten, immer grössere SUV zu fahren und im Winter mit günstigem Öl und Gas das traute Heim zu heizen – wenn das ab den Dreissigerjahren zu Einschränkungen der Reisefreiheit, der Berufsfreiheit, der Wirtschaftsfreiheit, im schlimmsten Fall gar zu Versorgungskrisen und Verteilungskämpfen führt.
Das Karlsruher Urteil erwähnt explizit die Möglichkeit massiver Fluchtbewegungen oder gewaltsamer Konflikte, wenn sich der Wettstreit um Wasser, Nahrungsmittel und Weideland verstärkt.
Die Klägerinnen
«WIR HABEN GEWONNEN!!!» twitterte Luisa Neubauer, Frontfrau der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung, am Tag der Urteilspublikation. Für die Klimaschutzaktivistin, Autorin und Podcasterin war das Urteil eine «riesige Überraschung», wie sie im TV-Interview mit der ARD sagte.
Auf verschiedenen Kanälen war der ebenso verblüffte 17-jährige Schüler und Fridays-for-Future-Aktivist Linus Steinmetz aus Göttingen zu hören. Auch er hatte nicht mit dem Erfolg der Klage gerechnet. Entsprechend sei die Stimmung im Lager der Klimajugend nach dem Karlsruher Urteil «irgendwo zwischen totaler Euphorie und einem tiefen Gefühl von Bestätigung».
Neubauer war die bekannteste, Steinmetz der jüngste der neun Fridays-for-Future-Aktivistinnen, in deren Namen die insgesamt vier Verfassungsbeschwerden eingereicht wurden. Konkret haben sie vor allem zwei Rechte eingefordert: das ökologische Existenzminimum und eine menschenwürdige Zukunft. Und sie wollen Taten sehen: Die Bundesregierung habe es mit den bisherigen Klimaschutzmassnahmen unterlassen, die Interessen der Kläger ausreichend zu gewichten – das Klimaschutzgesetz müsse deshalb überarbeitet werden.
Sprich: verschärft.
Unter den Klägerinnen waren auch mehrere schon heute vom Klimawandel Direktbetroffene wie die Agronomie-Studentin Sophie Backsen und ihre Brüder von der nordfriesischen Insel Pellworm. Dort wollen sie dereinst den elterlichen Biohof übernehmen – doch stellen sie die zunehmende Trockenheit im Sommer und wachsende Entwässerungsprobleme aufgrund des steigenden Meeresspiegels vor grosse Herausforderungen, bei denen sie sich vom Staat nur unzulänglich unterstützt fühlten: «Man kann doch nicht einfach immer noch höhere Deiche bauen!»
Weiter gehörten auch 15 junge Menschen aus Nepal und Bangladesh zur Klägerschaft. Dass sie vom Bundesverfassungsgericht überhaupt als beschwerdebefugt anerkannt wurden, ist wegweisend in Bezug auf die Frage, wer warum gegen die deutsche Klimapolitik klagen kann: alle natürlichen Personen, die durch spätere Massnahmen in ihren Freiheitsrechten beschränkt sein könnten.
Den Karlsruher Entscheid zu erwirken, sei ein Teameffort gewesen, sagt Anwalt Remo Klingler, der zwei der vier Klagen vertreten hat. Im Hintergrund mitgeklagt hatten, vertreten durch Franziska Hess und Felix Ekardt, verschiedene Verbände und NGOs, welche laut Klingler die Facharbeit geleistet hätten: unter anderem Greenpeace, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland oder der Solarenergie-Förderverein. Als juristischen Personen hat ihnen das Verfassungsgericht jedoch die Klageberechtigung abgesprochen.
Die Gegenspieler
Widersprüchlich, wenn nicht absurd muteten manche Reaktionen von Politikern an, die sich nach dem Urteil kaum einkriegten vor Begeisterung – obschon sie gerade eine schon fast demütigende Schlappe kassiert hatten. So twitterte CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier, es sei ein «grosses Urteil» für den Klimaschutz und die «Rechte der jungen Menschen».
Die Antwort des Twitter-Accounts von Fridays for Future folgte umgehend: «Es ist dein Gesetz, Peter.»
Die Bundesregierung hatte über ihre Rechtsvertreter sämtliche Klagen pauschal als unzulässig und unbegründet bestreiten lassen. Es fehle der taugliche Beschwerdegegenstand. Man sei auf Kurs. Die konkret von den Klägerinnen geforderten Reduktionsziele basierten auf den Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Climate Change, zu Deutsch: Weltklimarat. Und die Sachbestandsberichte bezögen sich nur auf ein globales CO2-Restbudget – ohne dieses auf einzelne Staaten herunterzubrechen. Daraus eine Verpflichtung für Deutschland abzuleiten, sei deshalb verfehlt.
Und selbst das vom Weltklimarat festgelegte globale Restbudget wurde von der Bundesregierung infrage gestellt: Es sei zwar wissenschaftlich fundiert, aber mit erheblichen Unsicherheiten behaftet.
Die Verpflichtung, mit dem Worst Case zu rechnen
Auf diesen Einwand antwortet das Bundesverfassungsgericht in Leitsatz 2b:
Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schliesst die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen.
Das Gericht sagt damit klipp und klar: Sorgfaltspflicht heisst hier, mit dem Worst Case zu rechnen, nach Massgabe des jeweils aktuellen Sachstandsberichts des Klimarats. Und der ist bekanntlich gemäss dem erst kürzlich (und nach dem Urteil) erschienenen sechsten Bericht: way worse.
Zu den Klägern aus dem Fernen Osten sagt das Gericht: Sie seien wegen allfälliger Grundrechtsverletzungen durch in Deutschland beschlossene Massnahmen nicht direkt betroffen – womit ihre Klage scheiterte. Allerdings macht das Gericht gleichzeitig klar: Klimaschutz muss durch internationale Kooperation auf völkerrechtlicher Ebene erreicht werden. Und dabei darf die Untätigkeit anderer Staaten keine Entschuldigung für eigene Säumnis sein.
Das Gericht greift auch dem vorwiegend rechts der Mitte aufkommenden Argument vor, wonach sich die Klimafrage bald durch technologische Massnahmen werde lösen lassen. Dass, anders gesagt, das Herunterfahren des CO2-Ausstosses durch Verbrennung fossiler Energieträger künftig gar nicht mehr dieselbe Dringlichkeit haben werde. Und dass dank all dieser noch zu entwickelnden Technologien der Klimaschutz möglicherweise viel billiger und einfacher werde. Kurzum: dass sich die kommenden Generationen gar nicht einschränken werden müssen. Alles halb so wild!
Diesbezüglich schliesst sich das Gericht, seiner eigenen Worst-Case-Vorgabe folgend, den Bedenken des Weltklimarats an: Der Einsatz von solchen Technologien gelte derzeit (zumindest in einem grösseren Umfang) als schwer realisierbar – in puncto wirtschaftlicher Rentabilität, technischer Machbarkeit, internationaler Koordinierbarkeit.
Die Hausaufgabe erledigt – und zwar zackig
Ansonsten aber übt sich der Beschluss trotz allem Begleit-Bombast in Zurückhaltung. Auch wenn weniger euphorische Kommentare unken, die «Apokalyptiker aus Karlsruhe» hätten mit ihrem Entscheid das Fundament einer Ökodiktatur gelegt.
So spricht das Gericht die Bundesregierung der eingeklagten Unterlassung der Schutzpflichten eben gerade nicht für schuldig. Es hält bloss fest, dass die bisherigen Bestrebungen in Bezug auf kommende Generationen nicht ausreichten. Die Richterinnen formulieren auch keine konkreten Reduktionsziele, vielmehr verpflichten sie die Regierung formell nur, die Emissionsreduktionsziele für die Zeit nach 2030 schon bis Ende 2022 statt erst bis Ende 2025 genau festzulegen.
Und siehe da, diese Hausaufgabe erledigte die deutsche Regierung innert Wochen nach Bekanntgabe des Karlsruher Beschlusses. Und sie ist dabei sogar weiter gegangen als erwartet: Deutschland will 2045 CO2-neutral sein. Nicht erst 2050.
Illustration: Till Lauer