«Dieser Stoff ist ein einziges Minenfeld»

Die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić hat mit «Quo vadis, Aida?» einen Film über den Genozid in Srebrenica gemacht, der 1995 unter den Augen der internationalen Gemeinschaft verübt wurde. War die Uno wirklich so feige, Frau Žbanić?

Ein Interview von Solmaz Khorsand, 05.08.2021

«Es hat mich viel Zeit gekostet, damit ich nicht meine persönliche Wut in die Geschichte packe.» Edvin Kalić

Der Uno können sie nichts anhaben. Die Uno beschützt uns. Hier sind wir sicher. Hin und wieder fallen diese Sätze in «Quo vadis, Aida?», Jasmila Žbanićs Film über den Völker­mord in Srebrenica. Ihre Protagonistin Aida, gespielt von Jasna Đuričić, will an die Uno glauben, für die sie als Über­setzerin arbeitet. Bis zum letzten Moment will sie darauf vertrauen, dass die internationale Community ihr Wort hält, dass sie die Musliminnen und Muslime in Srebrenica vor den serbischen Truppen beschützt.

Doch Aida wird enttäuscht. Die Uno schützt sie nicht. Nicht ihre Nachbarn, nicht ihren Mann, nicht ihre zwei Söhne. Sie lässt sie alle im Stich.

8372 Buben und Männer, um genau sein. Als im Juli 1995 bosnisch-serbische Milizen unter dem Kommando von General Ratko Mladić in die Uno-Schutz­zone Srebrenica im Osten Bosniens einmarschieren, treffen sie auf überforderte Blauhelme der nieder­ländischen Uno-Einheit «Dutchbat». Die Milizen haben leichtes Spiel mit den unerfahrenen Peace­keepern, denen die Nato trotz mehrfacher Anforderung die Luft­unterstützung verweigert hat. Sie lassen Mladić und seine Männer kampflos gewähren. Sie intervenieren nicht, als Mladićs Milizionäre auf dem Uno-Stützpunkt, dem Gelände einer ehemaligen Batterie­fabrik, Frauen und kleine Kinder von ihren Söhnen, Vätern und Männern trennen. Sie werden abgeführt, in Massen­exekutionen ermordet und in den umliegenden Wäldern verscharrt.

Bis heute suchen die Mütter von Srebrenica nach den Überresten ihrer Angehörigen. Und bis heute weigern sich Politiker, insbesondere in Serbien und der Republika Srpska, der serbischen Teilrepublik Bosniens und Herzegowinas, den Völker­mord als solchen anzuerkennen.

In «Quo vadis, Aida?» zeigt die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić bedrückend ruhig und unaufgeregt die Ohnmacht der Opfer und ihrer Angehörigen. Es ist ein Ausgeliefert­sein in zweifacher Hinsicht, einerseits gegenüber den serbischen Soldaten, ihren Henkern, andererseits gegenüber einer machtlosen Uno, deren nieder­ländische Vertreter nur Gleich­gültigkeit und Verachtung für die Schutz­befohlenen übrig hatten.

«Quo vadis, Aida?», ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen und nominiert für den Auslands­oscar, ist Žbanićs fünfter Spielfilm, und wie die meisten ihrer Filme beschäftigt auch er sich mit dem Krieg in ihrer Heimat. Das Thema lässt die 46-Jährige nicht los. Jahrelang hat sie über Srebrenica gegrübelt, gehofft, dass jemand anderer einen Spiel­film über das grosse Trauma drehen würde. Doch keiner wollte – und nun tat sie es. Am 5. August läuft der Film in der Deutsch­schweiz in den Kinos an.

Frau Žbanić, warum hat sich bisher noch niemand so an den Stoff Srebrenica gewagt?
Weil es ein einziges Minenfeld ist. Egal, welchen Zugang du wählst, du läufst Gefahr, einen Fehler zu machen. Entweder du verletzt die Überlebenden mit deiner Darstellung, oder du überforderst das Publikum mit Dingen, mit denen du selbst kaum umgehen kannst. Und dazu kommt noch die grosse Genozid-Leugnung in Serbien und der Republika Srpska. Sie müssen wissen, für uns ist der Genozid nicht vor 26 Jahren passiert und damit abgeschlossen. Er ist sehr präsent und wird permanent politisch missbraucht.

Sogar Srebrenicas aktueller Bürger­meister Mladen Grujičić, der erste serbische Bürger­meister seit Kriegs­ende, weigert sich, den Genozid als solchen anzuerkennen. Wie äussert sich diese Leugnung im Alltag?
Bei jedem Fussball­spiel im Land kann man zum Beispiel serbische Fans mit speziellen Bannern sehen. Auf denen steht geschrieben: «Messer, Draht, Srebrenica!» Es soll uns Angst machen und zeigen, dass uns Bosniern Srebrenica jederzeit wieder passieren kann.

Sie haben über die verletzten Gefühle der Überlebenden gesprochen. Ihr Film basiert zu grossen Teilen auf Hasan Nuhanovićs Biografie. Er war damals Übersetzer für die Uno, seine Eltern und sein jüngerer Bruder wurden während des Genozids ermordet. Anfangs haben Sie zusammen­gearbeitet, doch er hat sich zurück­gezogen und später kritisiert, dass Sie seine Geschichte zu stark fiktionalisiert hätten. Was ist genau passiert?
Zu Beginn der Arbeit fiel mir auf, dass es Überlebenden sehr schwerfällt, zu verstehen, dass ein Film nicht alles zeigen wird, was sie sich zu sehen wünschen. Hasan Nuhanović hat Furchtbares erlebt und sehr viel Mut aufgebracht, um sein Buch «Under the UN Flag» zu schreiben. Darin dokumentiert er Minute für Minute, was genau passiert ist. Doch ich habe sehr früh entschieden, die Namen und Motive der handelnden Protagonistinnen für den Film zu ändern. Das war ich als Regisseurin dem Film und dem Publikum schuldig. Ich wollte das Geschehene so gut kommunizieren, wie ich kann. Ich habe viel recherchiert und mit vielen Überlebenden gesprochen. Wenn sie mir erzählt haben, was passiert ist, habe ich das mit anderen Quellen gegen­gecheckt, etwa, wie sich die dort stationierten nieder­ländischen Uno-Soldaten verhalten haben.

In Ihrem Film kommen diese als arrogant, feige und hilflos rüber. Einige wirken fast wie Kinder­soldaten, die in kurzen Shorts und vollkommen eingeschüchtert versuchen, den serbischen Truppen vor dem Camp-Eingang die Stirn zu bieten.
Die Überlebenden haben die Nieder­länder als eine Macht wahrgenommen, die sich ihnen gegenüber unmenschlich und gnadenlos verhalten hat. Natürlich kann ich dieses Gefühl nachvollziehen. Schliesslich haben sie nur Ablehnung und Vorurteile von ihnen erfahren. Doch ich habe auch mit ehemaligen holländischen Soldaten gesprochen und festgestellt, dass viele von ihnen zu dieser Zeit 18 oder 19 Jahre alt waren. Sie waren total verloren in diesem Krieg. Grundsätzlich muss man sagen, dass diese Uno-Einheit auf verlorenem Posten stand: vollkommen auf sich gestellt, ohne Unter­stützung durch die internationale Community. Und das ist ein Problem der Uno. Sie lässt sich zu sehr von den politischen Interessen einzelner Mitglieds­staaten lenken, anstatt sich auf ihren humanitären Auftrag zu konzentrieren.

Trotzdem kriegt man den Eindruck, dass «Quo vadis, Aida?» in erster Linie eine Anklage ist gegen die internationale Community, insbesondere gegen die nieder­ländischen Uno-Soldaten. Ist der Eindruck korrekt?
Es ist wichtig zu wissen, dass die Entscheidung, die Stadt Srebrenica ihrem Schicksal zu überlassen, sehr früh von den big players der internationalen Gemeinschaft gefällt wurde. Diese Entscheidung schwebte über allem: Das nieder­ländische Bataillon wurde allein­gelassen. Dennoch denke ich, dass selbst in dem Moment, wo keiner dir den Rücken freihält, du dich immer noch wie ein Mensch verhalten kannst. Die Niederländer hätten etwa die Möglichkeit gehabt, der Uno-Resolution 819 zu folgen, die vorsieht, dass zum Schutz von Zivilisten Waffen eingesetzt werden können. Aber sie haben keinen einzigen Schuss abgefeuert! Sie haben nicht einmal versucht, die Zivilisten zu verteidigen. Die Nieder­länder hatten grosse Vorurteile gegen­über Muslimen – zwar nicht alle, aber die Kommandanten auf jeden Fall.

Der niederländische Journalist Raymond van den Boogaard war in den Neunziger­­jahren Kriegs­­reporter auf dem Balkan und beschreibt in seinem Buch «Zilverstad» («Silberstadt»), dass die nieder­ländischen Soldaten die «elenden, verlausten Muslime und ihre bettelnden, stehlenden Kinder» verachtet hätten, während sie die gut organisierten Serben bewunderten.
Ja, sie waren beeindruckt von den serbischen Soldaten. Als das nieder­ländische Bataillon nach Srebrenica kam, hatten wir schon drei Jahre Krieg. Darauf waren diese Männer nicht vorbereitet. Sie müssen sich vorstellen, dass in Srebrenica vor dem Krieg rund 15’000 Menschen lebten. Plötzlich kommen all die Flüchtlinge aus der Umgebung in die Stadt, und auf einen Schlag leben 30’000 Menschen an einem kleinen Ort. Da wird es schnell sehr eng. Noch dazu waren die Menschen abgeschnitten von der Welt. Sie hatten kein Essen, keine Kleidung, keine Seife und kein Shampoo. Die Holländer waren schockiert, als sie den Zustand dieser Menschen gesehen haben. Darauf hatte sie niemand vorbereitet. Vielleicht hätten sie anders reagiert, wenn es jemand getan hätte. So waren sie vollkommen unfähig zur Empathie.

«Ich weiss, dass ich der Wahrheit verpflichtet bin»: Jasmila Žbanić bei den Dreharbeiten zu «Quo vadis, Aida?». Imrana Kapetanović

In einer der eindringlichsten Szenen im Film zeigen Sie, wie ein junger Uno-Soldat einen bosnischen Jungen verrät, der sich als Mädchen verkleidet hat und sich so in die Schlange der Frauen schummelt, um sich zu retten. Die Serben schaffen den Jungen weg. Der Holländer wird von seinen Kameraden als «Kollaborateur» beschimpft. Er versteht die Welt nicht mehr, weil er sich ja nur an die «Regeln» gehalten hat. Was hat es mit diesem blinden Gehorsam auf sich?
Einige Überlebende haben mir diese Geschichte erzählt. Und derjenige, der ihn als Kollaborateur beschimpft hat und sich selbst nie an diese Regeln gehalten hat, war ein Jude.

Ist das denn relevant?
Es hat mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, als die Holländer ihre Juden an die Nazis ausgeliefert haben. Das Wort «Kollaborateur» ist in den Nieder­landen sehr aufgeladen. Die Szene erinnert daran, wie sie schon einmal blind gehorcht haben, und zwar im Zweiten Weltkrieg. Dieses Muster wurde in Srebrenica wiederholt, weil die Soldaten entweder nicht mutig genug waren oder nicht gebildet genug, um das Leben von Menschen zu respektieren. Ihnen waren Regeln nun einmal wichtiger.

2006 ehrte die nieder­ländische Regierung rund 500 Soldaten, die damals in Srebrenica für ihren Einsatz stationiert waren. Die Überlebenden waren schockiert von dieser Geste und sprachen von einem «Genozid-Orden». Findet auch in den Nieder­landen eine Form der Leugnung der Ereignisse statt?
2002 gab es einen performativen Akt der Schuld­anerkennung. Damals trat die nieder­ländische Regierung, einen Monat vor der regulären Wahl, zurück, als eine unabhängige Kommission ein Gutachten zur Rolle der Niederlande in Srebrenica herausgebracht hatte und eine gewisse Mitschuld attestierte. Das war allerdings nur eine kleine Performance. Als ich selbst für Recherche­zwecke in den Nieder­landen war, habe ich festgestellt, dass vom Taxifahrer über die Hotel­rezeptionistin bis hin zu den Schau­spielern alle gesagt haben, dass Srebrenica auch für sie ein sehr grosses Trauma ist. Seit der Film auch in den Nieder­landen läuft, kriege ich von dort täglich persönliche Nachrichten, in denen steht, wie dankbar die Menschen für diesen Film sind, wie sehr sie sich schämen für das, was passiert ist, und dass sie diesen Film niemals vergessen werden. Auf offizieller Seite sieht das anders aus. Natürlich sollten Personen wie Thom Karremans, der damalige Uno-Bataillons­kommandeur, und sein Kollege Robert Franken vor Gericht gestellt und nicht von der Regierung geschützt werden, so wie bisher.

Ich komme zurück zu Ihrem Film­schaffen. Sie behandeln als Regisseurin, die als 17-jährige Bosnierin den Krieg in Sarajevo selbst erlebt hat, in fast all Ihren Spiel­filmen den Krieg in Ihrer Heimat. Wer darf Ihrer Ansicht nach dieses Trauma erzählen? Sind Sie befugter, das zu tun, als etwa eine amerikanische Regisseurin, die nichts damit zu tun hat?
Das ist keine leichte Frage. Ich weiss, dass ich der Wahrheit verpflichtet bin und dem, was damals passiert ist. Es gibt viele Narrative, aber ich habe mein eigenes, und ich muss die Verantwortung dafür tragen. Mein Narrativ passt nicht in die patriotische und patriarchale Vorstellung, was Krieg sein soll, wer die Täter sind und wer die Opfer. Mein gesamtes Leben hatte ich eine andere Perspektive auf dieses Thema, und zwar eine weibliche, die in meiner Industrie eine Minderheiten­perspektive ist. Wenn du einer Minderheit angehörst, folgst du einem anderen Narrativ, das oftmals blockiert wird. Aber als Künstlerin, als Frau und als Mensch glaube ich, dass ich diese Geschichte so erzählen muss, wie ich sie sehe und wie ich sie fühle.

Aber Sie haben als bosnische Regisseurin, als Atheistin, die in einer säkular muslimischen Familie aufgewachsen ist, einen Film über Srebrenica gemacht und nicht über den Genozid in Ruanda oder das Massaker in den Flüchtlings­lagern Sabra und Shatila. Ich hätte ehrlich gesagt Bauchweh, wenn Angelina Jolie, die mit «In the Land of Blood and Honey» einen regelrechten Kriegs­porno über den Bosnien­krieg gedreht hat, sich Srebrenicas annehmen würde. Plump gefragt: Kann das eine «Betroffene» einfach besser?
Es gibt ein gewisses Wissen und eine gewisse Energie, wenn man aus dieser Region stammt. Man kennt das Land, die Kultur, die Sprache und die Menschen. Aber es birgt auch ein Risiko, weil man zu nahe dran ist. Es hat mich viel Zeit gekostet, um genug Distanz zu schaffen, damit ich nicht meine persönliche Wut in die Geschichte packe. Als Bosnierin bin ich natürlich wütend, dass der Genozid passiert ist, aber wenn ich diese Wut im Film verarbeitet hätte, wäre das zu schwer zu verdauen gewesen für das Publikum. Es wäre viel zu privat.

Wie schafft man die Balance, dem Trauma von anderen künstlerisch gerecht zu werden, ohne davon zu profitieren? In Deutschland etwa arbeitet der deutsche Videospiel­regisseur Uwe Boll an einem Actionfilm zum rechts­extremen Amoklauf in Hanau, ohne die Angehörigen der Opfer konsultiert zu haben, die erfolglos das Projekt zu verhindern versuchen.
Es ist ein sehr schmaler Grat. Als Künstlerin kann man sich jeder Thematik annehmen, wenn man sich eingehend und ernsthaft damit beschäftigt. Das Problem mit gewissen Zugängen ist nur, dass sie immer die Perspektive des Fremden behalten und gleichzeitig vorgeben, Insider zu sein. Da kriegt man ganz schnell mit, dass da etwas nicht zusammenpasst.

In den aktuellen Identitäts­politik­debatten ist oft die Frage, wer wen repräsentieren darf. Und im Fall von Filmen, wer wen spielen darf. Sie behandeln in fast all Ihren Spielfilmen das Leben von Musliminnen im Krieg und danach. Gleichzeitig ist keine Ihrer Haupt­darstellerinnen Muslimin. Hat das einen Grund?
Nein, gar nicht. Es hat mit der Generation von Schau­spielerinnen zu tun, die ich in diesem Alter in Bosnien nicht gefunden habe. Für mich ist Ex-Jugoslawien ein kultureller Raum, wo man eine Sprache mit gewissen Abweichungen spricht. Für den Film «Grbavica» hatten wir das Glück, Mirjana Karanović zu finden, eine serbische Schau­spielerin. Für «Quo vadis, Aida?» haben wir jetzt Jasna Đuričić, und die Leute fragen mich häufig, warum. Als Regisseurin ist jedoch mein einziger Gedanke, die beste Schau­spielerin für meinen Film zu finden. Ich bin froh, dass wir mit diesen Frauen arbeiten können, weil wir so auch zeigen, dass nicht alle Serbinnen so denken, wie es sich einige ihrer politischen Vertreter wünschen würden. Nicht alle leugnen den Genozid, im Gegenteil. Sie sagen, wir müssen darüber reden und die Opfer respektieren.

Mirjana Karanović und Jasna Đuričić werden in ihrer Heimat dafür angefeindet, dass sie die Rollen in Ihren Filmen angenommen haben.
Ja, für Mirjana gab es damals einen grossen Backlash, ähnlich wie bei Jasna jetzt. Man nennt sie «Verräterinnen der serbischen Nation», weil die Filme dem nationalen Narrativ Serbiens widersprechen. Aber man kann diese Schau­spielerinnen nicht sanktionieren, weil sie einfach zu gut sind. Und es gibt auch in Serbien genug Regisseure, die sehr gerne mit diesen wunder­baren Frauen arbeiten würden.

Wer sich Ihre Filme ansieht, wird feststellen, dass alle Protagonistinnen ein dringliches Bedürfnis haben, um jeden Preis eine Art Normalität herzustellen, in der absoluten Ausnahme­situation wie auch danach. Ist dies ein Teil unserer condition humaine, dass wir so tun müssen, als wären Dinge normal, auch wenn die Welt aus dem Ruder läuft?
Das mag sein. Als ich im Krieg in Sarajevo war – und ich war dort, als die Stadt vier Jahre belagert wurde –, habe ich Dinge erlebt, die nicht reinpassen in das, was wir uns allgemein unter Krieg vorstellen. Es gab sehr viele menschliche Momente, kein Schwarz oder Weiss. Und genau das versuche ich in meinen Filmen zu zeigen. Ich selbst hatte auch schöne Zeiten im Krieg. Ich habe mich etwa unsterblich verliebt. Später habe ich diesen Mann, den ich als Teenager in einem Luftschutz­bunker kennen­gelernt hatte, geheiratet. Heute ist er nicht nur mein Mann, sondern auch mein Produzent. Wenn man über schöne Dinge spricht und das Alltägliche, das normale Leben, die menschlichen Bedürfnisse, dann passt das einfach nicht zum Medien­bild von Krieg und Horror. Ich glaube aber, dass Filme ein geeignetes Mittel sind, diese Details und Nuancen des Lebens in ihrer Ganzheit zu zeigen.

Am schwierigsten zu verdauen in Ihrem Film ist die Tatsache, dass viele Personen nach dem Krieg neben den Mördern ihrer Familien ihren Alltag bestreiten, fast so, als wäre nie etwas gewesen. Hasan Nuhanović erzählte einmal, dass er jeden Tag im selben Gebäude zur Arbeit geht wie der mutmassliche Mörder seiner Mutter. Wie schafft man das, ohne durchzudrehen?
Es ist nicht von dieser Welt, wenn ich ehrlich bin. Wer in Sarajevo oder einer grösseren Stadt lebt, kann sich aus dem Weg gehen, aber in kleineren Orten kennt jeder jeden. Ich bewundere die Frauen von Srebrenica, die diesen Leuten immer wieder vor Gericht begegnen. Es ist unfassbar, wie viel Kraft und Mut sie haben müssen. Für mich war genau diese Stärke die Haupt­motivation für den Film. Diese Frauen verlangen nie nach Rache, und sie benutzen auch nie eine Sprache des Hasses, weil sie verstehen, dass Rache nur die Gewalt perpetuieren würde. Aber ja, es ist unvorstellbar. Ich denke immer, wie ich reagieren würde, wenn jemand meine Tochter töten würde; ich würde ihm das Schlimmste antun wollen …

Sie würden zu den Waffen greifen, haben Sie in einem Interview einmal gesagt.
Da muss ich etwas ausholen. Zu Beginn des Krieges sind die serbischen Truppen in unsere Nachbarschaft in Sarajevo gekommen. Ihr Ziel ist es gewesen, die Stadt in zwei Teile zu teilen, unsere Nachbarschaft wäre dann in den serbischen Teil gefallen. Damals haben wir Geschichten gehört, was die serbischen Soldaten den Menschen antun. Wir haben von den Ermordungen und Vergewaltigungen gehört. Ich dachte mir nur: Was soll ich tun? Ich muss etwas tun! Ich kann nicht einfach nur in meinem Zimmer sitzen, aus dem Fenster starren und darauf warten, dass sie kommen. Damals wollte ich mich tatsächlich als Freiwillige melden, eine Waffe nehmen und gegen die Soldaten kämpfen.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Die dachten, dass ich verrückt bin. Und zum Glück habe ich davon abgelassen, weil zur selben Zeit ein bekannter Regisseur nach Sarajevo kam, um Film- und Theater­festivals zu organisieren, an denen ich teilgenommen habe. So habe ich mir eingeredet, dass wir mit unseren Vorstellungen einen Beitrag leisten. Ich dachte mir: Ich verteidige meine Stadt, indem ich mit dem Mittel der Kultur die menschliche Würde bewahre. Es war das Gefühl, dass wir ein gewisses Level an Zivilisation aufrecht­erhalten und dass diese Barbaren nicht alles zerstören können, auch wenn wir keinen Strom und kein Essen haben.

In Ihrem Film «Grbavica» («Esmas Geheimnis») greifen Sie das Thema der vergewaltigten Frauen im Krieg auf. Darin verheimlicht Esma ihrer Tochter, dass sie das Resultat einer Vergewaltigung ist und in einem Konzentrations­lager zur Welt gekommen ist. Wie oft ging Ihnen durch den Kopf, dass Sie Esma sein könnten?
Oft. Ich habe zu Beginn des Krieges in Sarajevo Mädchen getroffen, die um die 15 Jahre alt waren. Sie kamen aus dem Osten Bosniens und erzählten uns, wie sie vergewaltigt wurden, und was sie mir erzählt haben, war extrem verstörend und nieder­schmetternd. Ich dachte mir, dass das auch mir passieren kann. Wenn die serbischen Truppen nur diesen kleinen Fluss überqueren, sind sie hier, in meiner Nachbarschaft. Vielleicht keimte bereits damals die Idee, diesen Film zu machen.

Für «Grbavica» haben Sie 2006 bei der Berlinale den Goldenen Bären gewonnen. Der ehemalige Berlinale-Chef Dieter Kosslick bezeichnete «Grbavica» als einen jener Filme, die die Welt verändern können. Dank des Filmes wurden vergewaltigte Frauen in Bosnien als Kriegs­opfer anerkannt.
Ja, nach dem ersten Film haben wir es geschafft, das Gesetz in Bosnien zu ändern. Davor hatten die Frauen keinen Anspruch auf Kompensation, und es war ein grosses Tabu. Ich dachte mir damals, wenn ich schon dauernd in den Medien bin, kann ich den Film für politischen Aktivismus nutzen, statt ihn nur zu promoten, und auch etwas für diese Frauen tun, damit sie eine Kompensation und eine Rente bekommen. Ich habe das in jedem Interview gepusht.

Was soll nach «Quo vadis, Aida?» passieren?
Bei «Quo vadis, Aida?» habe ich bis jetzt grossartige Reaktionen aus Serbien bekommen, vor allem von jungen Leuten, die mit dem Leugnungs­narrativ aufgewachsen sind und das Gefühl hatten, dass da etwas nicht stimmt. Jetzt sehen sie den Film und realisieren, was es war. Es sind nicht viele, die mir schreiben, aber einige, und das sind die kleinen Risse in der Wand eines gewalt­tätigen Patriarchats, das unsere Region so stark im Griff hat.

Im August tritt der ehemalige deutsche Land­wirtschafts­minister Christian Schmidt (CSU) sein Amt als neuer Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina an, als jener internationale Vertreter, der die Abwicklung des Dayton-Friedens­abkommens überwacht. Was sind Ihre Erwartungen an ihn?
Deutschland wollte vor einigen Jahren ökonomische Reformen in Bosnien durchsetzen. Ich habe gemeinsam mit einigen Aktivistinnen in einem Brief davor gewarnt, dass diese Initiative scheitern wird, weil die Initiatoren keine Ahnung von der Realität in Bosnien haben. Und sie ist gescheitert. Es ist, als ob man einer Person, die gerade eine Chemo­therapie macht und nicht gehen kann, die besten Sport­schuhe schenkt und ihr sagt: «Warum rennst du nicht? Es ist doch in deinem Interesse!» Es hängt alles von Christian Schmidts Zugang ab. Wenn er den deutschen Weg am Balkan geht, wird das in der Katastrophe enden. Aber wenn er sich auf neue Narrative einlässt und uns als Partner sieht, wer weiss …

Sie klingen nicht optimistisch.
Immer wenn ich ausländische Politikerinnen sagen höre, dass sie «Die Brücke über die Drina» von Ivo Andrić gelesen haben und das Buch als Vorlage dafür heran­ziehen, wie die Menschen in Bosnien ticken, läuten bei mir die Alarm­glocken. Ich denke mir: Desaster! Nicht nur, dass Ivo Andrić darin die Fiktion eines Osmanischen Reiches beschwört, das so nichts mehr mit den Leuten und der Realität in Bosnien zu tun hat. Er beschreibt auch ein Bosnien, das voller Hass ist. Damit bin ich nicht einverstanden, auch wenn er dafür den Literatur­nobelpreis gewonnen hat. Ich bin ebenso wenig einverstanden mit den politischen Ansichten eines Peter Handke, der auch einen Nobelpreis gewonnen hat. Aber gut, der Nobelpreis ist nur eine weitere Autorität, und ich akzeptiere Autoritäten nicht.