«Kein Ostergruss!» – das war gleichsam die Höchst­strafe für nicht genehme Gäste: Karteikarte aus dem Grandhotel Waldhaus in Vulpera. Lois Hechenblaikner

Juden eigentlich unerwünscht

Bis heute hat Antisemitismus in Schweizer Ferien­orten eine gewisse Tradition. Doch wer bloss Judenhasser anprangert, bleibt an der Oberfläche eines Problems, das letztlich die ganze Gesellschaft beschädigt.

Ein Essay von Alfred Bodenheimer, 02.08.2021

Im Sommer 2017 sorgte Ruth T. aus Arosa für einen Eklat, der es in die internationale Presse schaffte und auch die stellvertretende Aussen­ministerin Israels und den Schweizer Tourismus­direktor auf den Plan rief. Ruth T. hatte die «jüdischen Gäste» des von ihr betreuten Ferien­hauses mit einem Aushang aufgefordert, vor der Benützung des Schwimm­beckens zu duschen, andernfalls dieses für ebenjene Gäste (und nur für sie) geschlossen würde. Natürlich verschwand das Plakat in Windes­eile, es folgten die üblichen ungelenken Entschuldigungen und die Beteuerung der Aroser Tourismus­direktion, wie sehr man jüdische Gäste schätze.

Wie immer man die verstörende Aktion von Ruth T. bewerten mag, Anti­semitismus in Schweizer Ferien­orten hat eine gewisse Tradition.

Zum Autor

Alfred Bodenheimer ist Professor für jüdische Literatur- und Religions­geschichte an der Universität Basel. Er ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Studien und unter anderem Herausgeber einer Geschichte der Israelitischen Cultus­gemeinde Zürich. Bekannt geworden ist Bodenheimer als Autor von Kriminal­romanen, die auch Milieu­studien des Zürcher Judentums darstellen. Er lebt mit seiner Familie in Israel und pendelt zwischen Jerusalem und Basel.

Zwar darf man feststellen, dass die Schweiz nie die Auswüchse des sogenannten «Bäder-Antisemitismus» kannte, der in Deutschland oder Österreich im 19. und frühen 20. Jahr­hundert zu allen möglichen Massnahmen führte, mit denen jüdische Menschen von Ferien­destinationen ferngehalten werden sollten.

Die teils ausgesprochen unfreundliche bis feindliche Atmosphäre in den Ferien­orten ihrer Heimat­länder dürfte nicht wenige jüdische Urlaubs­gäste veranlasst haben, sich in der Schweiz zu erholen. Insbesondere in den nobleren Herbergen des aufstrebenden Tourismus­landes konnten sie darauf vertrauen, mit der professionellen, lösungs­orientierten Zuvorkommenheit behandelt zu werden, die der Dienst­leistungs­platz Schweiz geradezu zu seinem Marken­zeichen hat werden lassen.

Allerdings: Einblicke hinter die Fassade dieser routinierten Gastfreundschaft sind den Gästen in der Regel verwehrt. Der Pakt zwischen Gästen und Gastgebern in einem anständig geführten Hotel beinhaltet notgedrungen, dass Letztere sich für die Belange der Gäste weit mehr zu interessieren haben als umgekehrt. Was den Komfort des Gastes und den auf ihn zugeschnittenen Service angeht, zahlt sich diese Asymmetrie für ihn aus. Doch sie hindert ihn daran, zu erfahren, was etwa die guten Geister an der Réception privat beschäftigt – und vor allem, was sie über ihn denken.

Es ist Lois Hechenblaikner, einem der interessantesten Dokumentaristen des Alpen­raums, zu verdanken, dass sich nun die geheime Welt des Réceptions­personals eines Grand­hotels öffnet.

Beispiel für die spezielle Schweizer Gast­freundschaft: Das «Waldhaus» um 1910. Romedo Guler

Das «Waldhaus» in Vulpera im Unter­engadin war eines der elegantesten Schweizer Hotels im 20. Jahr­hundert. 1989 ist es abgebrannt. Gemeinsam mit Andrea Kühbacher hat es Lois Hechenblaikner geschafft, vom letzten Direktor des Grandhotels die Erlaubnis zu bekommen, den erhaltenen Gäste­karten ein Buch zu widmen. Die Karten reichen von 1921 bis in die 1960er-Jahre, umfassen also jene Zeit, in der Europa durch seine tiefsten Krisen ging und der grösste Teil seiner jüdischen Bevölkerung ermordet oder vertrieben wurde.

Diese Gästekarten sind interessant, weil auf vielen von ihnen, oft nur stichwort­artig, Eigenheiten der Gäste verzeichnet wurden, positive (den Charakter oder das Trinkgeld betreffend) oder eben auch negative. Der Titel des Buches lautet «Keine Oster­grüsse mehr!». Er betrifft einen auf vielen Karten enthaltenen Vermerk, mit dem ausgedrückt wurde, dass die jährliche Werbeaktion, an eingeführte Kundschaft Oster­grüsse zu verschicken, bei diesen Gästen nicht zur Ausführung kommen würde. Der Vermerk war gleichsam die Höchst­strafe für nicht genehme Gäste, eine implizite Ausladung für die Zukunft.

Zum Buch

Lois Hechenblaikner, Andrea Kühbacher, Rolf Zollinger (Hg.): «Keine Ostergrüsse mehr! Die geheime Gästekartei des Grand Hotel Waldhaus in Vulpera». Edition Patrick Frey, Zürich 2021. 388 Seiten, ca. 52 Franken.

Unter den klassifizierenden Anmerkungen gibt es auffällig viele, die die Zugehörigkeit von Gästen zum Judentum offen, häufiger noch hinter Codes, zum Thema haben – und sie sind nie freundlich oder neutral gemeint. Man konnte «Tiroler» oder «P» (beides Umschreibungen für Juden), «aber nett» sein, doch das war schon eher ein innerer Widerspruch. Einträge wie «der gemeinste und dreckigste P.P.P.» (wobei die Multiplikation des Buch­stabens P Gradmesser für das Mass der Verachtung war) oder (sechs Jahre nach dem Holocaust) «Schiesst den Vogel aller Juden 1951 ab» zeigen die Richtung an.

Auch das dutzendfach vermerkte «1939 parti», wenn etwa die Oster­grüsse an jüdische Adressaten ausserhalb der Schweiz kommentarlos zurück­kamen, zeugt von Gefühls­kälte gegenüber oft jahrelang treuen jüdischen Gästen.

Die Einträge sind voller antisemitischer Vorurteile wie etwa Geiz oder unzivilisiertes Verhalten. Lois Hechenblaikner

Wären die jüdischen Gäste von Vulpera nicht mehr gekommen, wenn sie um diese teils verächtlichen, teils zynischen Kommentare gewusst hätten? Das ist schwer zu sagen. Man war nicht verwöhnt als jüdischer Mensch zu dieser Zeit. Die meisten hätte es wohl eher gewundert, wenn ihr Judentum nicht irgendwo bei irgendwem im Hotel zum Thema gemacht worden wäre. Da war es schon besser, dies fand in einer diskret aufbewahrten Kartei statt als auf Park­bänken oder gar auf Plakaten am Dorf­eingang.

Insofern zeigen die Geschichte mit Ruth T. aus Arosa und ihre Folgen auch einen grund­legenden Paradigmen­wechsel im Umgang mit Anti­semitismus an. Aus dem resignierten Hinnehmen von Judenhass, der zumindest bis zum Holocaust das europäische Judentum mitprägte und teilweise vielleicht auch entschiedeneren Wider­stand gegen die Vernichtung verhinderte, ist heute eine (zumindest theoretische) Nulltoleranz­politik geworden, die zuweilen auch übers Ziel hinaus­schiessen mag und aus dem hirnlosen Fehltritt einer Haus­wartin eine halbe Staats­affäre macht.

Die dabei frei werdende Dynamik ist teilweise auch den digitalen Medien geschuldet. Was früher in einem Ferienhaus­keller in Arosa ungestört herum­hängen konnte oder allenfalls zu hausinternen Querelen führte, ist heute in Sekunden­schnelle fotografiert und in alle Welt versandt.

Instruktiver für die komplexe Situation des Umgangs mit jüdischem Tourismus in der Schweiz und die heutige Reaktion des offiziellen Schweizer Judentums ist der Umgang mit einem Schreiben der Davoser Tourismus­organisation aus dem Jahr 2018, das ein in Davos lebender religiöser Jude ins Hebräische übersetzte und online schaltete. Hier war die Rede von ausländischen orthodoxen jüdischen Gästen, deren Verhalten zu Klagen anderer Gäste Anlass gegeben habe.

In der Folge entwickelte der Schweizerische Israelitische Gemeinde­­bund (SIG), gemeinsam mit Schweiz Tourismus, zwei Broschüren – für die Touristen und für die Einheimischen –, führte in Davos eine Informations­veranstaltung durch und sandte im Sommer 2019 ein eigenes Vermittler­team vor Ort, um Konflikte prophylaktisch zu vermeiden.

Typisch Ausländer

Der Paradigmen­wechsel gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts ist in mehrfacher Hinsicht offensichtlich: Im «Waldhaus» verkehrten vorab säkulare oder weitgehend assimilierte jüdische Menschen, oft stammten sie aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Sie unterschieden sich äusserlich und von der Einhaltung kultureller Codes her nicht von anderen mittel­europäischen Gästen. Das «Jüdische», das dem Hotel­personal aufstiess, war durch die Anwendung vorurteils­behafteter Annahmen über angeblich «typisch jüdisches Verhalten» auf die jüdischen Gäste (Preis­drückerei, unzivilisiertes Benehmen etc.) begründet.

Demgegenüber trifft die Kritik aus dem Davos der Gegenwart Gäste, die in der Regel aus Israel oder Nord­amerika anreisen. Sie versucht, konkrete Sach­fragen zu thematisieren wie im Wald entsorgte Windeln oder den (etwas problematischeren) Verdacht, es würden systematisch unentgeltliche Bergbahn­karten erschummelt. Wobei speziell betont wird, es seien solche Fragen und keineswegs der orthodoxe Kleidungs­stil, die bemängelt würden.

Der SIG seinerseits versucht, die Kritik ebenfalls auf ein neutrales Terrain zu lenken, indem er den orthodoxen jüdischen Tourismus aus dem Ausland in die Kategorie der Kultur­sensibilität verweist. Damit werden orthodoxe Juden aus Israel analog zu chinesischen, indischen oder arabischen Touristinnen behandelt, die ebenfalls irrige Erwartungen und gewohnheits­bedürftige Eigenheiten in die Schweiz mitbringen, was zu Irritationen auf beiden Seiten führen kann.

Die Vermittlungs­tätigkeit des Schweizer Judentums geschieht natürlich auch im Eigen­interesse. Zum einen grenzt die dadurch entstehende Differenz die eigene Integration von den Verhaltens­weisen ausländischer Juden ab, welche Irritationen verursachen. Diesmal nicht in einem diskriminierenden Sinne, wie es Schweizer Jüdinnen und Juden im frühen 20. Jahr­hundert oftmals gegenüber jüdischen Migranten aus Osteuropa praktizierten (worauf etwa die Historikerin Stefanie Mahrer vor einigen Jahren in einem Beitrag im Sammelband «Eastern European Jews in Switzerland» hingewiesen hat). Indirekt schlossen sie sich damit dem berüchtigten Überfremdungs­diskurs in der schweizerischen Politik an.

Zum anderen lautet auch heute die implizite Botschaft, dass das Schweizer Judentum sich nicht blind mit jüdischen Menschen aus der ganzen Welt gegen Schweizer Klagen solidarisiere, sondern imstande sei, die legitimen Interessen beider Seiten gleich­berechtigt auszugleichen. Als Vermittler, die ihre guten Dienste anbieten, präsentieren sich die Schweizer Juden dabei als geradezu prototypische Schweizer. Entsprechend wird dann aber auch erwartet, dass die Klagen des SIG über den von ihm registrierten Antisemitismus in der Schweiz von Politik und Medien umso ernster genommen werden.

Wie aber steht es wirklich um dieses Problem in der Schweiz? Seit dem unaufgeklärten Mord am israelischen Rabbiner Abraham Grünbaum in Zürich 2001 kam es in der Schweiz nur selten zu körperlichen Übergriffen, die mit antisemitischen Motiven in Verbindung gebracht wurden. Dies ganz im Gegensatz zu den Nachbar­ländern Frankreich und Deutschland.

Das Bewusstsein von Behörden und Parlamenten für die Schutz­bedürftigkeit der jüdischen Gemeinschaft ist nicht zuletzt nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle 2019 auch in der Schweiz gestiegen, und so hat nicht nur der Bund (relativ bescheidene) Mittel zum Schutz der jüdischen Gemeinschaft gesprochen. Auch einzelne Kantone, etwa Basel-Stadt, sind dazu übergegangen, einen Grossteil der Sicherung jüdischer Institutionen auf ihrem Gebiet zu übernehmen. Diese Aufwendungen hatten zuvor die jüdischen Gemeinden an den Rand ihrer Existenz gebracht.

So wichtig der Schutz von Menschen ist, denen gewisse Leute allein aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Bekenntnisses nach dem Leben trachten, stellt sich doch die Frage, wie es über die Symptom­bekämpfung hinaus aussieht. Und hier wird es kompliziert.

Die Konjunkturen des Hasses

Es stellt sich die Frage, wie in einem Land mitten in Europa im 21. Jahr­hundert gegen Antisemitismus sensibilisiert wird. In der Regel wird er dem Rassismus, der hier als Oberbegriff für jeden Hass gegen Minderheiten jedweder Art gewählt sei, subsumiert. Das vereinfacht scheinbar die Erziehungs­arbeit in den Schulen, und die jüdischen Institutionen scheuen sich, dem etwas entgegen­zuhalten. Dahinter steht die Furcht, anderen Zielgruppen von Diskriminierung einen weniger wichtigen Stellen­wert zuzumessen als sich selbst.

Aus der Opfer­perspektive scheint das Sinn zu ergeben. Ob Menschen Unrecht erfahren, weil sie jüdisch, muslimisch, dunkler Hautfarbe oder sexuell nicht-binär sind, spielt insofern keine Rolle, als das in jedem Fall gleich energisch bekämpft werden muss. Genauso muss allen Betroffenen mit gleicher Konsequenz geholfen und ihre Menschen­würde verteidigt werden.

Andererseits gibt es doch profunde kultur­historische Unter­schiede. In den Sechziger­jahren des 20. Jahr­hunderts wurden in der Schweiz Menschen italienischer Herkunft als «Tschingge» beschimpft, in den Achtziger­jahren gab es massive Hetze gegen Geflüchtete aus Sri Lanka, meistens tamilischer Herkunft. Im Gegensatz dazu wäre es damals niemandem eingefallen, gegen Musliminnen und Muslime zu agitieren.

Es gibt also «Konjunkturen» des Hasses, und sie betreffen immer jene Gruppen, die gerade – aus welchen Gründen auch immer – als besonders bedrohlich, präsent und fremd angesehen werden. Und natürlicher­weise sind es in unter­schiedlichen Regionen auch immer ganz unter­schiedliche Gruppen.

Dass Jüdinnen und Juden hier eine Ausnahme bilden, ist augen­fällig. Sie wurden schon vor der Entstehung des Christen­tums beargwöhnt, danach hatten sie ohnehin eine miserable Presse. Ein vielleicht nicht einmal besonders grosser inner­jüdischer Konflikt, der mit römischen Straf­massnahmen gegen einen von ihnen endete, blähte in der christlichen Tradition «die Juden», egal welcher Generation, zu ewig verfluchten Monstern auf, zumindest bis zu ihrer Bekehrung. Der Islam akzeptierte sie einiger­massen als konsequent Unterworfene.

Das besondere am Judenhass

Jüdinnen und Juden waren in jedem Fall – ob sie sich an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten gerade besser zurecht­fanden oder nicht, ob sie überhaupt vor Ort waren oder nicht – das institutionelle Gegenbild der Mehrheits­gesellschaft.

Hier war es nicht die Frage der Konjunktur, wer gerade störte. Was sich änderte, war nur der Titel, unter dem die Juden als Gegen­gesellschaft gebrandmarkt wurden. Prinzipiell wurde ihnen zugetraut, die Mehrheit profund zu schädigen und genau dies auch irgendwie anzustreben, wenn nötig mithilfe irgend­welcher dunkler Mächte. Je nach Konjunktur hiessen diese Satan, Bolschewismus oder Wall Street. Und heute lassen sie sich bequemer denn je greifen: im Staat Israel, dem alle Sünden einstiger europäischer Kolonial- und Völkermord­politik gewisser­massen in einem Revanche-Spiel für die unangenehme Holocaust-Erinnerung in die Schuhe geschoben werden.

Dem gängigen Rassismus fehlt somit das Obsessive des Antisemitismus. Diese Differenz lässt sich selbst gegenüber der daneben vielleicht konstantesten Form des europäischen Rassismus feststellen. Der abend­ländische, «weisse» Überlegenheits­wahn fügte und fügt zum Teil bis heute Menschen mit afrikanischem Hintergrund sowohl in deren Heimat wie in Europa oder Amerika grosses Leid zu. Doch die Verachtung und Abwertung, die sich darin äussert, entbehrt eines entscheidenden Elements gegenüber dem Antisemitismus: Es wird in der Regel dunkel­häutigen Menschen nicht unterstellt, planvoll und konsequent dem eigenen Vorteil und einer Zerstörungs­wut gegenüber allem Fremden zu folgen, wie es der Antisemitismus gegenüber den Jüdinnen und Juden annimmt.

Flüchtlinge in Basel: Jüdische Jugendliche, die 1939 im Rahmen der «300-Kinder-Aktion» von Deutschland in die Schweiz einreisen durften. Archiv für Zeitgeschichte, ETH Zürich/BA BASJ-Archiv 52_003

Diese Grundannahme ist letztlich auch in den Einträgen des Réceptions­personals vom Waldhaus in Vulpera erkennbar. Für keine Gruppe ausser der jüdischen gab es spezielle Kürzel, die aus der Herkunft auf den Charakter schlossen. Keine andere Zugehörigkeit wurde, jenseits des persönlichen Betragens, als grund­legender Makel verstanden.

Über jüdische Menschen gab es seit jeher ein vermeintliches «Vorwissen» der anderen, das ihnen vorauslief, auch in der Schweiz. Man kannte sie immer schon, auch wenn man nie einen von ihnen getroffen hatte. Die Variabilität der Gründe für die Ablehnung verblasst vor der Wucht ihrer Konsistenz. Jüdinnen und Juden nicht als irgendwie störend zu empfinden, galt generationen­lang in Europa und weit darüber hinaus als exzentrisch. Und Bevölkerungen wie jene Japans lernten die angst­besetzten Verschwörungs­theorien der «Protokolle der Weisen von Zion» kennen, lange bevor viele von ihnen die ersten Begegnungen mit Jüdinnen und Juden hatten.

Diese Obsession muss erkannt werden, auch in der pädagogischen Vorbeugung. Und sie muss als eine Obsession erkannt werden, die mit jüdischem Verhalten nie etwas zu tun hatte. Denn so gut oder so schlecht sich jüdische Personen (oder Staaten) durch die Geschichte hindurch betragen haben, das «Wissen» über das Judentum war ihnen immer schon vorausgeeilt.

Jüdische Menschen wurden im Mittelalter nicht primär als Wucherer angesehen und verteufelt, weil sie durch Berufs­einschränkungen zum Geldverleih gezwungen waren, sondern weil sie dem Judentum angehörten. Denn wenn sie vertrieben waren und (wie etwa im 13. Jahr­hundert in Bern) die Lombarden das Kredit­geschäft übernahmen, dann waren diese dabei auch nicht selbstloser als Erstere. Aber an den Lombardinnen und Lombarden hat sich dieser Ruf, geldgierig zu sein, die Bevölkerung auszusaugen und immer auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, nicht festgeheftet.

Das Verhängnis der kultivierten Fremdheit

Fremdes akzeptieren und anerkennen, Menschen auf ihre Persönlichkeit hin ohne Vorurteile ansehen, das ist eine Grund­regel der Erziehung. Sie muss im Kampf gegen den Rassismus angewandt werden. Doch der Antisemitismus verlangt noch tiefgehendere Fragen: Wie kommt es, dass Gesellschaften den Drang haben, die Fremdheit bestimmter Gruppen zu kultivieren und konjunktur­gemäss zu manipulieren? Dass die Anwesenheit der Fremdheit wichtiger ist als die Anwesenheit der Gruppen selbst?

Denn das Verhängnis einer solchen kultivierten Fremdheit, in die sich die Mängel des Eigenen projizieren lassen, ist offensichtlich: Man wird die Mängel nicht los, wenn man nicht ihre Ursachen bekämpft, sondern Schein­gefechte gegen Phantasmagorien führt, die man mit Wissen verwechselt. Die Opfer des Antisemitismus sind, weit mehr noch als in anderen Fällen des Rassismus, die juden­feindlichen Gesellschaften selbst. Denn sie sind unfähig, ihre Probleme zu lösen, indem sie sie unsinniger­weise in ihrer Gänze auf die Schuld anderer abwälzen.

Hinter diesen Fragen zurückbleiben heisst an der Oberfläche bleiben. Das kann kurz- und mittelfristig durchaus reichen: Man gewährt Schutz, man gebärdet sich anständig, man versucht von den hässlichen Erscheinungen, wenn sie denn doch vorkommen, nicht zu viel Aufhebens zu machen. Man lebt lösungs­orientiert wie jeder gute Dienstleistungs­betrieb. Doch man mag die Haut noch so weich und geschmeidig cremen, ein subkutan eingesetzter Stachel arbeitet sich weiter. Diesen heraus­zubekommen, bedarf es einer profunden Operation.

Der Weg aus dem Antisemitismus führt nicht primär über die Schock­therapie, sich Bilder vom Holocaust anzuschauen. Er führt vielleicht teilweise über den vertieften Kontakt mit jüdischen Personen, jüdischer Geschichte und Religion. Er führt aber vor allem über die unbequeme, ja vermaledeite Frage: Warum nur, warum können wir uns diesem Fremden in uns selbst nicht dort stellen, wo es ist – in uns selbst?