Oberhalb von Stans: Hier lässt man sich nicht vogten, nicht bevormunden vom Staat.

Gesslers Schatten

Uri, Schwyz und Unterwalden wollten vom Covid-Gesetz nichts wissen, und auch aufs Impfen haben auffallend viele keine Lust. Was treibt die Bevölkerung in den Urkantonen um?

Eine Reportage von Anja Conzett (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 31.07.2021

Synthetische Stimme
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Zehn Meter. Weiter reicht die Sicht nicht an diesem Sonntag auf der Alp Chrummel­bach ob Lungern im Kanton Obwalden, gut drei Kilometer vom geografischen Mittel­punkt der Schweiz entfernt. Es ist der Gesang des Jodel­chörli, der den Weg durch die graue Wand zur Kapelle weist, gefolgt von der ruhigen Stimme des Priesters, der den Sermon hält.

Die Kapelle ist zu klein für die 150 Kirch­gänger, die sich statt auf Bänken am sattgrünen Hang verteilt haben. Die Kinder spielen, die Erwachsenen halten Andacht, die Kühe grasen davon unbeeindruckt zwischen den Rängen – darüber und darum herum der Nebel, dicht wie eine Glocke, ein Raum im Freien, abgeschottet vom Rest der Welt. So mythisch, so heimelig, dass selbst den eingefleischtesten Atheisten kurz die Ehrfurcht packt und er das Vater­unser mitmurmelt. Wenigstens bei der ersten der fünf Wunden Christi, die hier oben noch alle einzeln durchgebetet werden.

In der Festwirtschaft ist die Stimmung ausgelassen; man kennt sich, man plaudert, bei geschmolzenem Käse, Risotto, Wurst und saurem Most; die Ländler­kapelle spielt und die Biobä, die Buben, bereiten den Kreis aus Sägemehl vor, auf dem sie gleich schwingen werden – und einen Moment lang könnte man glauben, dass der verhangene Himmel die einzige Sorge ist, die die Welt gerade kennt. Wären da nicht die Gespräche der Tisch­nachbarn.

«Wir sind der Beweis: Man kann auch feiern, ohne geimpft, genesen oder getestet zu sein», heisst es auf der einen Seite. Auf der andern Seite geht es darum, ob am Standort der ehemaligen Papeterie ein Café kommt. Vor allem aber: um Masken, und dass man doch kein Zeugnis vom Arzt braucht, um zu wissen, dass einem nicht wohl ist dabei, eine zu tragen. Und überhaupt – die ganzen Massnahmen hätten wenn überhaupt für etwas, dann vor allem für psychische Probleme und Vereinsamung gesorgt.

Das Gesprächs­thema war zu erwarten. Gemäss einer Umfrage des Forschungs­instituts Sotomo ist im Kanton Obwalden die Impf­bereitschaft mit 60 Prozent am tiefsten, wie der «Tages-Anzeiger» schreibt. Geht man nach Berufs­gruppen, sind es die Bauern, von denen aktuell nur 49 Prozent für eine Impfung zu begeistern sind, wie SRF ebenfalls in Bezug auf Sotomo vermeldet.

Rein statistisch gesehen, dürfte am Alp- und Biobä-Schwing­fest Lenä die Dichte von Impf­gegnern relativ hoch sein.

Aber nicht nur Obwalden ist kritisch – auch die Bewohner von Schwyz, Uri und Nidwalden zieren sich über­durchschnittlich, wenn es ums Impfen geht. Dazu haben alle vier Kantone das Covid-Gesetz klar abgelehnt. Und jetzt, wo das zweite Referendum eingereicht wurde, hat das «Aktions­bündnis Urkantone» rund 25’000 von 187’000 Unter­schriften beigesteuert – das sind mehr als ein Achtel aller Unter­schriften, obwohl die Urkantone gerade einmal 3,25 Prozent der gesamten Bevölkerung ausmachen.

Was passiert da gerade in der ältesten Schweiz? Und wer ist diese Schweiz heute, 730 Jahre nach dem Bundes­brief, überhaupt?

Libertär und vom eigenen Boden geprägt

Der Dorfplatz von Stans, Nidwalden, ist ein prächtiger Anblick – mit herrschaftlichen Häusern, grossen Brunnen, Lokalen und Läden mit geschmiedeten Haus­nasen, Sternen, Rössli, Schere und Fingerhut. Wie an vielen Orten der Urkantone ist das Dorfbild geprägt von einem Reichtum, der unter anderem durch das Söldnertum entstanden ist. Obwohl nur wenige Reis­läufer tatsächlich ihr Glück fanden, wie eine Ausstellung im Nidwaldner Museum in Stans gerade zeigt; rund ein Drittel der insgesamt 1,5 Millionen Männer, die während 400 Jahren für fremde Mächte in den Krieg zogen, liessen ihr Leben auf den Schlachtfeldern.

«Riissäckler» nennen die Obwaldner die Nidwaldner spöttisch, weil so viele von ihnen in Söldner­diensten standen. Manche dürften bei ihrem ersten Ausrücken nicht älter gewesen sein als Lino Infanger.

«Die Nidwaldner und die Urschweizer allgemein sind eher libertär, staats­kritisch, mit einem starken Kantönli­geist»: Lino Infanger.
In Stans, wo die Schauplätze der Schweizer Geschichte immer gleich um die Ecke sind.

Infanger ist 17, lang und schmal, mit wachen grünen Augen. Er gehört zu den 7,2 Prozent seiner Alters­gruppe im Kanton, die sich haben impfen lassen. Damit liegt Nidwalden, das bezüglich der vollständig Geimpften allgemein den drittletzten Platz belegt, auch in der Alters­klasse der 10- bis 19-Jährigen deutlich unter dem Schweizer Schnitt von 11,3 Prozent.

Die tiefen Zahlen relativieren sich damit, dass sich Jugendliche noch nicht lange impfen lassen können. Noch dazu sind Sommer­ferien. Infanger hat sich nicht aus individuellen Gründen impfen lassen, wie er sagt, sondern weil er keinen anderen Weg aus der Krise sieht als eine hohe Durchimpfungs­rate. «Wenn wir öffnen wollen, müssen wir impfen.»

Für Altersgenossen, die sich nicht impfen wollen, bringt er dennoch Verständnis auf. «Die Angst vor allfälligen Langzeit­folgen hat eine andere Dimension, wenn man 17 ist, als mit 70.» Auch habe die Pandemie die Jugendlichen anders getroffen als Erwachsene. Er selbst war 16, als es losging, zu jung, um den Ausgang zu vermissen, aber er weiss von Freunden, denen fast die Decke auf den Kopf gefallen ist. Viele hätten sich von der Politik unverstanden gefühlt, vieles sei nicht nach­vollziehbar für sie gewesen. Dadurch seien sie wohl auch gegenüber den Massnahmen grund­sätzlich kritischer eingestellt.

«Hinzu kommt, dass die Nidwaldner und die Urschweizer allgemein eher libertär sind, staats­kritisch, mit einem starken Kantönli­geist.» Anfang Jahr hat Infanger die Jungfreisinnigen Nidwalden gegründet, dazu ist der Bank­lehrling Säckel­meister der Jungfreisinnigen Luzern. In die Politik ist er aus Begeisterung für die Demokratie.

Während er durch die Strassen von Stans führt, erklärt er beiläufig die Geschichte des Klosters, wie das älteste Haus den Dorfbrand überlebte und warum die Schmied­gasse im Sommer 1945 ihre Unabhängigkeit erklärte – weil man Schmied­gässlern vorwarf, gegen Nazi­sympathisanten Stimmung zu machen.

Geschichte, sagt Infanger, sei jungen Menschen in den Urkantonen wahrscheinlich präsenter als anderswo. «Viele der Schlachten, die in den Geschichts­lektionen durch­genommen werden, sind gleich um die Ecke passiert, auf dem eigenen Boden. Das prägt schon.»

Am präsentesten ist die Geschichte der Schweiz in Stans beim Winkelried­denkmal, das der junge Schweizer Bundes­staat den Nidwaldnern 1865 als Zeichen der Versöhnung nach dem Sonderbunds­krieg schenkte und das bis heute am Kopf des Dorf­platzes thront. Vor dem Denkmal sitzt ein älterer Herr und blickt hoch zum sterbenden Helden, der sich in der Schlacht bei Sempach in die Lanzen der Habsburger stürzte, um den Eidgenossen eine Schneise zu bahnen. Der Herr arbeitet in der Aerodynamik auf dem Flugplatz Buochs: Er komme oft über Mittag hierher, sagt er. Es sei sein Kraftort. «Wir Nidwaldner sind die Erben Winkelrieds.» Besonders in Krisen­zeiten müsse man sich das immer wieder vor Augen führen. Und welchen Weg aus der Krise sieht er dabei? «Hoffnungs­voll bleiben, zusammen­stehen», sagt er. «Und ich habe mich impfen lassen. Der Rest ist Gottvertrauen.»

Kirche und Krieg

Nebst Gründer­mythos und topografischen Gemeinsamkeiten eint die vier Urkantone die Konfession. Kein Kanton hat mehr Katholikinnen als Uri, mit 74,8 Prozent. Ebenfalls ansehnlich: Obwalden mit 68,1 Prozent und Nidwalden mit 62,6 Prozent. In Schwyz sind es immerhin noch 56,5 Prozent – weit über dem Landes­­durch­schnitt von 34,4 Prozent.

Die Konfession war auch massgeblicher Treiber bei der letzten militärischen Auseinander­setzung auf Schweizer Boden: dem Sonderbunds­krieg. Nachdem sich die Urkantone sowie Luzern, Zug, Freiburg und Wallis zusammen­taten, um eine konservative Allianz zu bilden, beschloss die Tag­satzung mit knappem Mehrheits­entscheid die bewaffnete Auflösung des sogenannten Sonder­bundes. Mit Erfolg. Daraus erging die Bundes­verfassung von 1848.

Dass die Urkantone grundsätzlich eine ablehnendere Haltung haben, erklärt sich Albert Gasser unter anderem mit einem historischen Groll, der aus dieser Zeit rührt. Der Priester und emeritierte Professor für Kirchen­geschichte hat Albe und Stola, die er während der Messe am Alpfest Lenä oberhalb Lungern trug, unterdessen abgelegt. Geblieben sind das schwarze Béret und der geschnitzte Gehstock, auf dem er seine Hände abstützt. Auch in Uri, Schwyz und Unter­walden seien die Menschen längst urbanisiert und säkularisiert, sagt er, «aber die Nieder­lage im Sonderbunds­krieg hat die Urkantone natürlich tief und nachhaltig getroffen».

Gasser ist 1938 in Lungern geboren worden und wohnt unterdessen in Sarnen. Ein weltoffener Katholik mit Sympathien für die grossen Reformatoren, der sich zuweilen selbst mit den konservativen Kräften seiner Kirche anlegte, etwa mit den ehemaligen Bischöfen des Bistums Chur.

Als Folge des Sonderbunds­krieges hätten Katholiken bis tief ins 20. Jahr­hundert bei den siegreichen Protestanten als Bürger zweiter Klasse gegolten. Als Beispiele führt er das Verbot des Jesuiten­ordens an, das erst 1973 abgeschafft wurde, den Kanton Zürich, der erst 1963 die katholische Kirche als Staats­kirche anerkannte, reformierte Gymnasien, die keine Katholikinnen aufnahmen; «und als ich ein junger Mann war, hiess es noch klar, wenn du Korps­kommandant werden willst, dann sei besser nicht katholisch – sicher nicht praktizierend». Das alles habe die Haltung der vier Kantone gegenüber dem Staat geprägt.

Der Blick von der Kantonsschule aus über die Gemeinde Schwyz und weit ins Land hinaus.

Dass die Menschen hier so deutlich Nein zum Covid-Gesetz sagten, überrascht ihn dennoch. Er glaubt nicht, dass es mit Konservativismus zu tun hat.

Die Urkantone seien nicht einfach zu fassen, sagt Gasser. Auch gebe es grosse Unterschiede – die Schwyzer seien Lokal­patrioten, die Urnerinnen hätten ein bisschen Fernweh, die Obwaldner seien skeptisch und zurück­haltend, die Nidwaldnerinnen spontan und einen Schuss fröhlicher als andere.

Und was eint die Urschweizer?

Gasser denkt kurz nach. Einmal im Jahr gehe er aufs Rütli. Wallfahren nennt er es, eine Weihe­stunde. Und auch wenn er dabei eher an Gottfried Keller als an Wilhelm Tell denke – «das ist schon etwas Besonderes».

Das Wir und das Äs

Zwei Stunden Stau vor dem Gotthard, und würde man es nicht besser wissen, könnte man meinen, auf den Urner Strassen seien an diesem Dienstag mehr Autos als Menschen unterwegs. Der Bus Richtung Schattdorf ist umso voller. Zwei ältere Damen steigen ohne Mundschutz ein, ins Gespräch vertieft, bis die eine ruft: «Maschgärä!» – «Äh, die hüärä Maschgärä», erwidert die andere und kramt widerwillig eine Maske aus der Handtasche.

Felix Aschwanden hat leichtes Asthma, auch für ihn sei es nicht immer lustig gewesen, die Maschgärä zu tragen. Unterdessen ist er geimpft, er fühlt sich gut. Aschwanden hat 39 Jahre am Gymnasium unterrichtet, in dessen Gehdistanz sein Einfamilien­haus steht, 19 Jahre davon war er Prorektor. Daneben hat er mehrere Bücher über Uri geschrieben – das Urner Mundart­wörterbuch zum Beispiel. Unterdessen ist er pensioniert und trägt ein Buch nach dem anderen aus seiner riesigen Privat­bibliothek an den Tisch im Garten, er stapelt sie wie Mosaik­steine, aus denen er zwischen Apfel­bäumen und schnurrendem Kater versucht, ein Bild zusammenzusetzen.

Dass die Urnerinnen mit 54,9 Prozent Nein zum Covid-Gesetz sagten – gewisse Gemeinden mit fast 80 Prozent –, überrascht Aschwanden nicht im Geringsten. «Die Urkantone sind allgemein Neinsager, vor allem, wenn etwas scheinbar von oben kommt.» Man lasse sich nicht vogten, höre man auch heute noch an Gemeinde­abstimmungen. Vogten, bevormunden.

Und wie sind sie so, die Menschen in den Urkantonen?

«Das Urtümliche, das Urwüchsige, das gerne innerhalb und ausserhalb der Urschweiz portiert wird, stimmt so eigentlich nicht ganz», sagt er. Auch Uri, Schwyz und Unter­walden seien längst im 21. Jahr­hundert angekommen. Und doch sei sie real, die gemeinsame Identität der Urschweizer. «Dieses Wir, dieses Zusammen­stehen als Schicksals­gemeinschaft, gegen­einander offen sein und umgekehrt Offenheit einfordern, das findet man hier schon.»

Gibt es ein Dialektwort, das die Urschweiz zu fassen vermag? «Äs», sagt Aschwanden, ohne zu zögern. Das Äs ist ein mythischer Begriff aus Urner Sagen. Es beschreibt eine magische, dämonische Kraft, die von aussen ins Innere, Eigene einzudringen versucht, es zu verwandeln versucht. Schutz davor soll der sogenannte Ring bieten, Zäune, Grenzen, die man absteckt.

Und was ist Äs im 21. Jahrhundert?

Aschwanden lächelt. «Gut möglich, dass das für einige der Bund ist.»

Stadt, Land, Graben

Die Skisprung­schanze glitzert in der Sonne; noch hält der Himmel über der Obwaldner Exklave Engelberg, aber hinter dem Hahnen braut sich schon das nächste Gewitter zusammen. Die Unwetter haben tiefe Schneisen an den steilen Hängen hinterlassen. Monika Rüegger sieht noch andere Kluften, die sich auftun. Seit bald zwei Jahren ist sie für Obwalden im National­rat – Partei: SVP. Seit ihrer ersten Session beschäftigt sie der Graben zwischen Stadt und Land, der auch bei Diskussionen ums Impfen und um Massnahmen eine Rolle zu spielen scheint.

Rüegger hat eine feine, helle Stimme, die hin und wieder in hartem Kontrast zu dem steht, was sie sagt: «Ich stelle einfach eine krasse Arroganz der Stadt­bevölkerung gegenüber der Land­bevölkerung fest.» Das habe sich auch bei den Massnahmen gezeigt: In den Berg­kantonen habe man anfänglich kaum Fälle gehabt, aber schliessen müssen, wegen der Zahlen aus der West­schweiz. Und dann die vom Bund angeordneten Terrassen­schliessungen, die in den Bergen niemand nachvollziehen konnte. «Winter­sport ist nicht einfach ein Vergnügen für uns, an ihm hängen hier viele Existenzen – gleichzeitig waren Weihnachts­einkäufe in vollen Läden in den grossen Städten kein Problem.»

Ist das Nein zum Covid-Gesetz eine Retour­kutsche für die Massnahmen, die in den Bergen niemand verstand?
«Ja», sagt Monika Rüegger, SVP-Politikerin, vor dem Kloster Engelberg.

Ist das Nein zum Covid-Gesetz eine Retour­kutsche? «Ja.» Auch, dass die Bewegung beim zweiten Referendum so viele Unter­schriften sammeln konnte – das sei wie ein Ventil, das abgehe.

Rüegger unterbricht das Gespräch, um einer Gruppe Kinder aus einem Ferien­lager, die Selbst­gebasteltes für einen guten Zweck verkaufen, zu erklären, wie Engelberg zu seinem Namen kam – weil ein Mönch am Hahnen Engel kreisen sah und daraufhin das Kloster gründete, das wie eine zivilisierte Miniatur des Gipfels am Kopf des Dorfs steht.

Rüegger kauft den Kindern einen Brief­öffner ab und fährt fort: Der Urschweizer habe eine natürliche Skepsis gegenüber der Obrigkeit. «Föderalismus ist absolut elementar. Wir wissen doch, was für unsere Leute gut ist. Das kann nicht der Bund diktieren.»

Rüegger setzte mit der Petition «Beizen für Büezer» im März durch, dass Restaurants für Arbeiter, die draussen arbeiten, öffnen konnten und dass für sie die gleichen Regeln galten wie für Büro- und Betriebs­kantinen. Mit einer anderen Herzens­angelegenheit ist sie gescheitert: «Die SVP war die einzige Partei, die sich dafür einsetzen wollte, dass Ungeimpfte nicht diskriminiert werden dürfen. Alle anderen Parteien wollen diskriminieren.»

Ein Paar begrüsst die National­rätin schon von weitem. Beide wollen sich nicht impfen lassen, ist schnell klar: «Kommt gar nicht infrage.» Sie gipse ja auch nicht das Bein ein, wenn es nicht gebrochen sei, sagt die Frau. Impfen als Präventions­massnahme? Sie macht eine wegwerfende Hand­bewegung. «Alles für d Füchs.» Der Mann hat schlechte Erfahrungen gemacht mit der Grippe­impfung, ein Ausschlag, den er dann alternativ­medizinisch behandeln liess. Er esse jeden Tag rohen Knoblauch und Ingwer, das reiche. Nützen würde das Impfen vor allem der Pharma­lobby, ergänzt die Frau. Beide sagen, sie seien es müde, sich vor Freunden rechtfertigen zu müssen, dass sie nicht impfen wollen. Die politische Diskussion, wie mit Ungeimpften umgegangen werden soll, verfolgen sie aufmerksam. Und aufgewühlt. «Am liebsten wäre es denen, wenn wir 2000 Franken pro Test bezahlen müssten.»

Monika Rüegger hört zu und nickt. Sie selbst ist noch nicht geimpft – nicht weil sie dagegen ist, wie sie sagt, sondern einfach deshalb, weil ihr Arzt viel zu tun hatte und sie andern den Vortritt lassen wollte.

Allgemein gehe man eher selten zum Arzt hier oben. Die Zahlen geben ihr recht: Uri und Obwalden sind schweizweit am zurück­haltendsten bei Arzt­besuchen. Mit anderen Worten, man geht erst zum Arzt, wenn man eigentlich schon nicht mehr gehen kann. «Der Bergler», sagt Rüegger, «hat ein Urvertrauen – in das eigene Immun­system und in die Natur.»

Paracelsus’ Spuren

Es ist Mittag in Einsiedeln, gleich läuten die Glocken des Klosters, in dessen unmittelbarer Nähe ein vergleichs­weise unscheinbares Denkmal steht: «Einsiedler Frau mit zwei gesunden Kindern». Erbaut wurde es 1941 zu Ehren des Schwyzer Arztes, Philosophen und Theologen Paracelsus, der während der Renaissance wirkte – und unter anderem bekannt ist für den Aphorismus: «Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.»

Paracelsus ist eine Ikone der Komplementär­medizin, die sich in den Urkantonen grosser Beliebtheit erfreut, auch in Schwyz. In seinem letzten Fach­­bericht stellte der Kanton fest, dass alternativ­medizinische Angebote mit 3,1 Therapeutinnen pro 1000 Einwohner deutlich über dem Schweizer Schnitt von 2,5 liegen. Gleichzeitig gibt es in Schwyz 1,3 Ärzte pro 1000 Einwohnerinnen, was deutlich unter dem schweiz­weiten Schnitt von 2 Ärztinnen pro 1000 Einwohner im Vergleichs­jahr liegt.

Johannes G. Schmidt taucht in dieser Statistik aus dem Jahr 2014 auf beiden Seiten auf. Bis er vor sechs Jahren seine Praxis in Einsiedeln aufgab, bot er Schul­medizin sowie klassische chinesische Medizin an – und war dazu viele Jahre als Experte für klinische Epidemiologie tätig. Schwyz und auch die anderen Urkantone würden sich durch eine starke Natur­verbundenheit auszeichnen, sagt er. Traditionen und damit auch Haus­mittel sowie Kräuter­heilkunde seien hier wichtiger als andernorts. «Und mit gelehrtem Daher­reden macht man sich grundsätzlich verdächtig.»

Auf Schmidts Hosenträgern sind Edel­weisse abgebildet, um das Hand­gelenk trägt er bunte Stoff­bänder – thailändische Gebets­bänder. Schmidt, direkter Nachfahre Martin Luthers und eigentlich Thurgauer, ist vor dreissig Jahren als Praxis­vertretung nach Einsiedeln gekommen und unter anderem wegen Paracelsus’ Erbe geblieben. «Die Schul­medizin», sagt er, «macht den Fehler, die Krankheit statt den Menschen ins Zentrum zu stellen.» Das räche sich jetzt auch bei den Reaktionen auf die Covid-Impfung. Ebenso wie die teils wider­sprüchliche, nicht immer nachvollziehbare Kommunikation des Bundes­amts für Gesundheit (BAG) während der Pandemie – zum Beispiel in Bezug auf die Nützlichkeit von Masken.

Schmidt steht Impfungen tendenziell kritisch gegenüber – besonders der Grippe­impfung. Historisch sei die Bedeutung von Impfungen stets über­bewertet worden, im Zusammen­hang mit der viel zitierten Pocken­impfung zum Beispiel seien unspezifische Abwehr­kräfte wie bessere Ernährung und Unter­bringung durch wachsenden Wohlstand zu wenig als Faktoren für den Rückgang der Krankheit berücksichtigt worden. Auch der Covid-Impfung stand er anfangs skeptisch gegenüber, die Studien aus Israel hätten ihn aber schliesslich überzeugt, er ist doppelt geimpft. «Stimmen die Studien, wäre es begrüssens­wert, würde sich jeder gegen Covid impfen lassen», sagt er.

Wäre ein Impfzwang also angebracht? Schmidt schüttelt den Kopf. «Nein. Aber nicht wegen der medizinischen, sondern wegen der politischen Risiken und Nebenwirkungen.»

«Das ist nicht einfach Sache des Bundes»

Es regnet in Altdorf, aber das hält einige Tapfere nicht davon ab, vor dem Telldenkmal für ein Foto zu posieren. Heidi Z’graggen schreitet gerade und entschlossen über den Platz – so gerade und entschlossen wie die Sätze, die sie sagt: «Die ablehnende Reaktion der Urkantone war eine Kumulation mehrerer Faktoren.» Z’graggen, ehemalige Urner Regierungs­rätin und mittlerweile Stände­rätin der Mitte-Partei, zählt auf:

  1. Die beiden Agrar­initiativen erleichterten in ländlichen Gebieten, in denen die Menschen der Schul­medizin grundsätzlich kritischer gegen­überstehen, die Mobilisierung beim Covid-Gesetz.

  2. Der Wunsch nach Freiheit und Selbst­bestimmung sei Teil der Urschweizer Identität, die für viele nicht nach­vollziehbare Schliessung der Terrassen habe eine Art Trotz­reaktion ausgelöst.

  3. «Die Freunde der Verfassung» schienen hier sehr gut vernetzt zu sein, das habe sich auch in den Leser­briefen vor der Abstimmung gezeigt.

Sie könne die Anhängerinnen der Bewegung gegen die Massnahmen partei­politisch nicht verorten, sagt Z’graggen. Wie impfkritisch ihre Heimat ist, erfährt sie im Alltag. Zum Beispiel wenn eine ältere Dame ihr sagt, sie lasse sich jetzt trotzdem impfen, obwohl es ihr die Tochter verboten habe. Oder wenn ein Bekannter für sie hofft, dass sie dann keine Spätfolgen habe, als sie ihm erzählt, sie habe sich impfen lassen. «Wenn es ums Impfen geht, sehe ich in ihrem Gesicht die unausgesprochene Impf­skepsis, ihre Gesichts­züge verhärten sich.»

Heidi Z’graggen, Stände­rätin der Mitte-Partei, hier vor dem Telldenkmal in Altdorf, glaubt, dass die Schweiz wieder zusammenkommt.

Z’graggen hält den Regen­schirm fest in der Hand. Was sie beschäftigt, sind die Gräben, die sich auftun: Stadt/Land, jetzt noch der Corona-Graben … «Die Absolutheit der Leute, alles ist schwarz oder weiss. Man spricht es dem Gegen­über ab, Gutes tun zu wollen, das ist besorgnis­erregend.»

Sie wirft einen Blick auf Tell, die Armbrust über der Schulter, den andern Arm um den Sohn gelegt. Eine Miniatur der Statue sei ihr letzte Woche in den Ferien in der Westschweiz begegnet, erzählt sie. Das mache ihr Hoffnung. Historisch habe es die Schweiz immer wieder geschafft, zusammen­zukommen. «Aber das braucht den Willen, aufeinander zuzugehen. Das ist nicht einfach Sache des Bundes.»

Der Widerstand

Es ist nicht ganz einfach, in der Urschweiz Impf­gegner und Massnahmen­kritiker zu finden, die Journalistinnen mit Namen Auskunft geben wollen. Auch Josef Ender, Sprecher des «Aktions­bündnis Urkantone», stellt zu Beginn klar, dass er von den Medien enttäuscht ist, erklärt sich aber doch einverstanden, ein Interview zu geben – Gesicht zeigen sei wichtig, miteinander diskutieren auch.

Als Treffpunkt schlägt Ender die Badi Seewen vor. Der See ist weit übers Ufer getreten, auf dem Parkplatz vor der angrenzenden Wohnwagen­siedlung schwimmen Fische, es riecht nach Frosch­laich und verrottetem Grün. Baden ist wegen des Hochwassers nicht empfohlen, aber natürlich hält sich nicht jeder daran. Auch Ender nicht. Genauso wenig hält er sich an die Masken­pflicht – respektive, er hat ein Attest. Dass Masken nichts brächten, habe das BAG damals selbst gesagt. Damals, im Frühling 2020, als es dazu noch kaum spezifische Forschung gab.

«Verstehen Sie mich nicht falsch, Covid ist nicht absolut harmlos, aber die Massnahmen, die der Bund getroffen hat, stehen in keinem Verhältnis – Lockdowns, Masken­pflicht: Das ist doch Panikmache.»

Herr Ender, vor was haben Sie Angst?

«Vor einer Gesundheits­diktatur. Was bestimmt der Bundesrat als Nächstes? Einen Klima-Lockdown? Und der Impfzwang kommt bestimmt.»

Aber Herr Ender, das ist doch Panikmache.

«Nein. Und es stört mich, dass das Gesetz und die möglichen Auswirkungen immer wieder verharmlost werden.»

Der Ironie ist er sich bewusst.

Wurde durch Corona politisiert: Josef Ender vom «Aktions­bündnis Urkantone» in Schwyz mit dem Grossen Mythen im Hintergrund.

Ender lebt in Schwyz und besitzt eine IT-Bude in Zug. Er ist Mitglied bei den «Freunden der Verfassung», das Aktions­bündnis hat er Ende Oktober unter anderem mitgegründet, weil er sich der Strahlkraft, die von den Urkantonen ausgeht, durchaus bewusst ist. Der Verein lebt von 1200 Unter­stützerinnen, wie er sagt. «20 bis 100 Franken betragen die Spenden in der Regel.»

Das «Aktions­bündnis» hat das zweite Referendum zum Covid-Gesetz bereits gestartet, bevor über das erste überhaupt abgestimmt wurde – was sogar den «Freunden der Verfassung» zu früh war. Als Grund gibt Ender die Punkte an, die das Parlament während der Frühlings­session ergänzt hatte. Am Anfang haperte es mit den Unter­schriften, dann waren es plötzlich doch mehr als genug – sauft, wie es im Dialekt des Muotatals heisst, in dem Ender als Sohn einer Bauern­familie aufgewachsen ist.

Ender ist nicht geimpft und will es auch nicht sein. Ein Impf­gegner sei er deswegen nicht, das müsse jeder selber wissen. Er hält es für Diskriminierung, wenn Ungeimpfte bei Kontakt mit Angesteckten in Quarantäne müssen, aber nicht Personen, die mit einem Stoff geimpft sind, «der (...) erwiesener­massen gegen die Über­tragung schützt», wie es im Gesetz heisst. Und er sieht im Contact-Tracing-System, das Bund und Kantone laut Gesetz sicher­stellen müssen, einen Versuch der Überwachung durch den Staat – aber das Bundes­gesetz betreffend die Über­wachung des Post- und Fernmelde­verkehrs (Büpf), das in Kombination mit dem Nachrichten­dienst­gesetz längst eine elektronische Durch­leuchtung der Bürgerinnen möglich macht, ist ihm nicht präsent. Erst Covid hat ihn aus der Reserve gelockt.

«Irgendwann muss man ja anfangen», sagt Ender halb entschuldigend, halb sich verteidigend.

Vor fünfzehn Jahren habe er aufgehört, Zeitungen zu lesen, zu viele negative News, die ihn nicht betreffen würden. Bis zur Pandemie sei er auch kein sonderlich politischer Mensch gewesen, zwar sei er schon damals regelmässig abstimmen gegangen, aber nur, wenn er die Zeit gehabt habe, sich einzulesen.

Dann wird der erste Lockdown verlängert, und er nimmt das erste Mal in seinem Leben an einer Demonstration teil – mit 51 Jahren.

Herr Ender, was ist es für ein Gefühl, an der Seite von Neonazis mitzumarschieren?

«Das ist eine diffamierende Unterstellung. Ich habe noch nie Nazis gesehen, auch nicht antisemitische Parolen gehört – und was die Massen­medien diesbezüglich zeigen und schreiben, das stimmt nicht.»

Distanzieren Sie sich von diesem Gedankengut?

«Ja. Auch QAnon-Flyer und -Broschüren sammle ich ein, wenn ich sie sehe. Das ist nicht unser Thema.»

Haben Sie viele Verschwörungs­theoretiker in Ihren Reihen?

«Das halte ich für einen problematischen Begriff. Ich wurde selbst auch schon als Covid-Leugner betitelt, was nicht stimmt. Aber ja, die Sache mit den Chemtrails – für mich sind das einfach Wölkchen am Himmel, aber die, die daran glauben, die haben sich auch ganz anders damit befasst, die stecken da tief drin.»

An einer der Kundgebungen, an denen er so oft wie möglich teilnimmt, kommt Ender zur ersten Strafanzeige seines Lebens. «Das Aufgebot, das wir da vonseiten der Polizei jeweils erleben, Gummi­geschosse, Pfeffer­spray – wie in einem Polizeistaat.»

Pardon, aber im Vergleich mit unbewilligten Demonstrationen von Linken werden Sie mit Samt­handschuhen angefasst.

«Unsere Demonstrationen waren also immer friedlich – wenn ich die Bilder der Demos von anderen sehe …»

Aber, aber, Herr Ender – doch nicht etwa die Bilder aus den Massenmedien?

Er hebt die Hände, als wäre eine Waffe auf ihn gerichtet: «Okay, okay. Sie haben einen Punkt.»

Josef Ender ist ein höflicher, interessierter Gesprächs­partner, mit dem es sich vorzüglich streiten lässt. Bis zu einem gewissen Punkt. Irgendwann zitiert er das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), das mehrere Studien über die Nützlichkeit von Masken analysiert hat – der Effekt sei tief bis moderat, heisst es da. Ender nimmt das als Beleg dafür, dass sich der Aufwand nicht lohnt, da die breite Bevölkerung Masken ohnehin nicht fachgerecht benutze – und widerspricht damit dem ECDC, das zusammen­fassend empfiehlt, dass Masken zur Eindämmung der Pandemie sehr wohl genutzt werden sollen: von vulnerablen Personen, in geschlossenen Räumen und auch draussen in dicht bevölkerten Settings etwa.

Wie bei einem religiösen Disput kann man nur darauf hoffen, dass man sich wenigstens in einem Punkt einig wird – dass man sich nicht einig wird. Mit Ender geht das.

Im Gegensatz zu anderen Exponenten aus seinen Reihen, denen es eine diebische Freude zu bereiten scheint, Menschen gegen­einander aufzubringen, glaubt man Ender, wenn er sagt, dass es ihn beschäftigt, wie gespalten die Gesellschaft ist.

Herr Ender, was ist das Ziel?

«Mehr Eigenverantwortung. Dass wir mehr zueinander schauen. In Gemeinschaften leben, die sich gegenseitig unterstützen.»

Was bleibt

Hört man Menschen wie Ender zu, blättert man durch Leser­briefe, die Massnahmen und Impfen ablehnen, und liest man Kommentare im Netz, fällt etwas auf. Die meisten scheinen der Mehrheits­gesellschaft, der Mittel­schicht anzugehören. Es sind Menschen, die sich vielleicht bislang wenig mit Politik befasst haben und durch die Covid-Krise auf einen Schlag realisieren, dass die Demokratie auch in der Schweiz nicht perfekt ist, Wissenschaftler sich nicht immer einig sind, auch Beamtinnen Fehler passieren können, Politiker nicht immer so engagiert alle Botschaften und Gesetze vorbereiten, wie es wünschens­wert wäre, dass Lobby­firmen in Bern eine grosse Macht haben, dass Polizistinnen auch gegen sie vorgehen, wenn sie sich nicht an die Regeln halten – dass sie selbst vielleicht nicht ganz so unabhängig und eigenständig sind, wie sie das ein Leben lang geglaubt haben. A shock to the system.

In den Urkantonen lässt man sich nicht gern vom Bund diktieren, was gut für die Leute ist: Rathaus in Schwyz.

Das macht es so diffizil. Sie sehen sich nicht einfach in ihrer Existenz bedroht, sondern in ihrer Identität. Und Identität haben sie, die Urkantone, vermutlich mehr als andere.

Es entsteht der Eindruck, dass die Bewohner der ältesten Schweiz heute weniger an die Tells und Winkelrieds dieser Welt glauben als an die Gesslers und einfallenden Franzosen. Das ist das Fiese an Bösewichten – ob erdichtet oder real –, sie sind so verdammt viel überzeugender als die Helden, die sich ihnen entgegenstellen.

Und doch: Auch in den Urkantonen will sich die absolute Mehrheit impfen lassen, halten sich die allermeisten an die Massnahmen. Wie die junge Mutter am Alpfest Lenä, die ihren Buben zusieht, wie sie schwingen – zum ersten Mal, obwohl der grössere schon seit einem Jahr im Schwing­verein ist: Bislang mussten die Kämpfe ohne Zuschauerinnen stattfinden. Die Mutter hat Verständnis dafür, «das musste halt sein». Ihr Mann und sie hätten sich auch impfen lassen, vor allem wegen der beiden Söhne. Sie merke schon, dass die Leute müde würden, immer mehr würden im Dorfladen, in dem sie arbeitet, ohne Maske auftauchen. «Oh, ich sehe, Sie haben Ihre Maske vergessen», sage sie dann freundlich und biete eine an. Und wenn alle Freundlichkeit und jedes Angebot nichts nützt? Sie lächelt sanft. «Dann bleibt mir nichts anderes, als das zu akzeptieren.»