Viele Orte in Afghanistan werden immer wieder von der einen Seite erobert und von der anderen zurückerobert. Und die Bevölkerung? Bringt sich irgendwo in Sicherheit. Andrew Quilty/VU/laif

Wieso die Schweiz das gefährlichste Land der Welt für sicher erklärt

Die US-Truppen ziehen ab, die Taliban rücken vor: Afghanistan ist in weiten Teilen ein Kriegsgebiet. Trotzdem will die Schweiz Asylsuchende dorthin abschieben. Wie kann das sein?

Von Carlos Hanimann, 22.07.2021

Die Meldung des Schweizer Fernsehens verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Die Schweiz schaffe wieder Asyl­suchende nach Afghanistan aus, berichtete die «Tagesschau» vor ein paar Wochen. Insgesamt sollten «konkret» 144 Afghaninnen in das kriegs­versehrte Land ausgeflogen werden.

Unter Geflüchteten, Freunden und Freiwilligen von Hilfs­organisationen aus dem Asylbereich machte sich Panik breit: Was bedeutete die Meldung? Änderte das Staats­sekretariat für Migration (SEM) etwa gerade seine Asyl­praxis? Waren wirklich über 140 Menschen akut von einer Abschiebung in ein Land bedroht, in dem seit über 40 Jahren Krieg herrscht, aus dem die US-Truppen nach 20 Jahren Präsenz gerade abziehen und in dem die islamistische Miliz Taliban Tag für Tag stärker wird und mehrere Distrikte erobert hat?

Die Menschenrechts­organisation Amnesty International Schweiz schlug Alarm: Jede Abschiebung nach Afghanistan sei «eine klare Menschen­­rechts­­verletzung». Bei Asylex, einer Rechts­beratungs­stelle für Asylfragen, klingelte nach dem «Tagesschau»-Bericht pausenlos das Telefon. «Ich bekam zahlreiche Anrufe, Text­nachrichten und E-Mails», sagt Asylex-Präsidentin Lea Hungerbühler.

Der Verein vertritt etwa 10 Klienten, die potenziell von einer Ausschaffung nach Afghanistan betroffen wären. Zudem ist Hunger­bühler in regel­mässigem Austausch mit anderen Anwältinnen, Hilfs­organisationen und Aktivisten. Sie und andere Rechts­beraterinnen waren mit ähnlichen Fragen von Betroffenen konfrontiert: Wie soll es jetzt weitergehen? Werden wir bald ausgeschafft? Sollen wir unter­tauchen? Wo? In der Schweiz oder doch besser im benachbarten Ausland?

Vereinzelt gerieten Geflüchtete offenbar derart in Panik, dass sie sich umgehend absetzen und in Wäldern verstecken wollten. Vor allem die Ankündigung von SRF, es «sollten konkret 144 Afghaninnen und Afghanen in ihre Heimat zurück­geführt werden», verstanden viele Betroffene so, dass das Flugzeug nach Kabul schon bereitstehe und nur noch gefüllt werden müsse.

Lea Hungerbühler versuchte ihre Klienten zu beruhigen. «Mir war nicht bekannt, dass das SEM Ausschaffungen nach Afghanistan formell je gestoppt hätte», sagt sie. Eine latente Gefahr, ausgeschafft zu werden, bestand für abgewiesene Asylsuchende immer – sie war während der Pandemie lediglich etwas geringer, weil Grenzen geschlossen waren und der Flug­verkehr teilweise eingestellt wurde. Warum nun also diese Nachricht?

Unter Hilfs­organisationen und Anwältinnen im Asylbereich vermutet man Folgendes: Die Geschichte wurde aufgebauscht, der Schaden war damit angerichtet. Asylex versuchte die entstandene Panik zu mildern und veröffentlichte eine Stellung­nahme auf Social Media, die vor allem an die afghanische Community gerichtet war: «Update Afghanistan – Stay Calm!»

Was also ist Sache?

Hat das SEM wirklich von gestern auf heute seine Asyl­praxis geändert, um über 140 Personen in ein Land zu schicken, in dem gerade an allen Ecken und Enden bewaffnete Konflikte ausbrechen?

Die kurze Antwort lautet: nein.

Die etwas längere: Nein, das SEM hat seine Praxis nicht geändert – denn die Schweiz hat gar nie aufgehört, Geflüchtete in das kriegs­versehrte Afghanistan abzuschieben. Und sie hat momentan auch nicht vor, damit aufzuhören.

Die Lage ist so schlecht wie nie

Am 28. Juli feiert die internationale Gemeinschaft ein wichtiges Jubiläum: 70 Jahre Genfer Flüchtlings­konvention. Die Flüchtlings­konvention entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Krieg und National­sozialismus Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben und dazu gezwungen hatten, in andere Länder zu fliehen.

Längst nicht allen Menschen wurde Zuflucht gewährt. Auch die Schweiz wies über 20’000 Geflüchtete an der Grenze ab, mehrere tausend davon waren Juden, die danach teilweise deportiert wurden.

Eine Folge dieser Unmenschlichkeit war, dass künftig Geflüchteten das Asyl nicht mehr verweigert werden sollte, wenn sie an Leib und Leben bedroht waren. Anders gesagt: Niemand sollte mehr in den Tod geschickt werden.

Der oberste Schweizer Asyl­verwalter, Staats­sekretär Mario Gattiker, schrieb denn auch kürzlich über die Flüchtlings­konvention: «Der Kern des Flüchtlings­schutzes ist das Non-Refoulement-Prinzip. Kein Flüchtling darf in einen Staat zurück­geschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit gefährdet wären.»

In den vergangenen Tagen flohen Tausende Menschen aus Afghanistan aus genau diesem Grund: weil ihr Leben und ihre Freiheit gefährdet waren. Denn während Gattiker in einer Fach­­zeitschrift ein paar schöne Worte veröffentlichen liess, begannen die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, und die Taliban rückten parallel dazu immer weiter vor.

Rund 4,6 Millionen Afghaninnen leben im Ausland, 2,7 Millionen von ihnen gelten offiziell als Flüchtlinge. Und mit dem Vorrücken der Taliban steigt auch die Zahl der Geflüchteten.

Die islamistische Miliz gab letzte Woche an, 85 Prozent des afghanischen Territoriums eingenommen zu haben. Tatsächlich haben die Taliban zahlreiche Distrikte angegriffen und dürften mittlerweile rund die Hälfte des Landes unter Kontrolle haben, insbesondere die ländlichen Gebiete. Aber auch in mehreren Städten sorgt man sich vor einer Macht­übernahme der Taliban, selbst in der Haupt­stadt Kabul.

«Die Sicherheits­lage in Afghanistan war noch nie so schlecht wie heute», sagt Abdul Ghafoor, Direktor der NGO Amaso, die abgeschobene Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Afghanistan unterstützt. «Ich habe nie so viel Angst unter den Menschen gesehen wie in den letzten Tagen. Alle fragen sich, was jetzt wohl kommt. Wer es sich leisten kann, versucht einen Pass zu bekommen. Alle reden davon, das Land zu verlassen.»

Vergangene Woche hat Frankreich seine Bürgerinnen dazu aufgerufen, nach Europa zurück­zukehren. Deutschland hatte bereits Anfang Juli seine Staats­bürger aufgefordert, aus Afghanistan abzureisen. Das Schweizer Aussen­departement rät seit langem davon ab, überhaupt nach Afghanistan zu reisen.

Warum also schätzen die Schweizer Asyl­behörden Afghanistan trotzdem als sicheres Rückkehr­land ein?

Deutschland schickte, wenige Tage nachdem es seine Bürgerinnen zur Rückreise aufrief, ein Flugzeug in die umgekehrte Richtung: An Bord waren gemäss der in Kabul ansässigen NGO Amaso 27 afghanische Geflüchtete aus Deutschland. Folgt bald auch ein solcher Flug aus der Schweiz?

Abgeschobene in Afghanistan: Verbrecher oder Versager

Die Schweizer Asylpolitik besteht im Kern aus zwei Dingen: Aufnahme von Schutz­bedürftigen und konsequente Wegweisung aller anderen.

Im Fall von Afghanistan heisst das in Zahlen: 84 Prozent der Asyl­suchenden erhalten Asyl oder werden vorläufig aufgenommen. Die Schutz­quote ist so hoch wie nirgends sonst in Europa. Die Schweiz ist aber auch europa­weit führend bei den Ausschaffungen. Kein anderes Land vollzieht die Abschiebungen abgewiesener Asyl­suchender so konsequent wie die Schweiz.

Entsprechend machte die freisinnige Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter bald nach ihrem Amtsantritt in einer Rede im März 2019 klar, dass für sie zu einer «glaub­würdigen Asylpolitik» auch gehöre, dass abgewiesene Asyl­suchende die Schweiz verliessen. Deren Ausschaffung habe für sie «höchste Priorität». Erfreut verkündete sie in ihrer 100-Tage-Bilanz, dass man «nach zwei Jahren Blockade» endlich wieder Zwangs­ausschaffungen nach Afghanistan habe durch­führen können.

Dass die Schweiz Geflüchtete auch in Kriegs­gebiete wie Afghanistan abschiebt, ist also nicht der fragwürdige Ausnahme­fall, sondern vielmehr die Regel der Schweizer Asylpolitik.

In den letzten 12 Jahren gab es nur zwei Jahre, in denen die Schweiz niemanden nach Afghanistan ausschaffte: 2018 akzeptierte Afghanistan keine Zwangs­ausschaffungen; und 2020 fielen wegen der Pandemie die Flüge nach Afghanistan aus, wie das SEM auf Anfrage angibt. In allen anderen Jahren seit 2009 wurden jeweils zwischen 4 und 7 Personen nach Afghanistan abgeschoben, 2017 waren es ausnahms­weise 11 Personen.

Wie es den Abgeschobenen in Afghanistan erging, ist kaum bekannt. Grundsätzlich weiss man, dass Abgeschobene im Rückkehr­staat einen schweren Stand haben. Verschiedene Studien über Abgeschobene in Afghanistan zeigen, dass viele von ihnen Gewalt erfahren oder das Land bald nach der Ankunft wieder verlassen.

Die Sozial­anthropologin und Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann hat sich intensiv mit der Rückkehr­situation von afghanischen Geflüchteten aus Deutschland auseinander­gesetzt. In einer 2019 publizierten Studie dokumentierte sie die Erfahrungen von 55 Abgeschobenen in Kabul und stellte dabei fest, dass diese infolge sogenannter «Verwestlichung» besonders gefährdet waren. So wurde ihnen etwa unterstellt, als Spione für westliche Staaten gearbeitet zu haben, oder ihnen wurde eine Anpassung an eine europäische Lebens­weise vorgeworfen (vom Haar­schnitt über den Kleidungs­stil bis hin zur Missachtung sozialer Gepflogenheiten).

Häufig seien Abgeschobene auch stigmatisiert worden, heisst es bei Stahlmann: Sie gälten entweder als Verbrecher oder als Versager. Ebenfalls ein Fakt: Die aller­meisten Abgeschobenen waren nach der Rückkehr mit Gewalt konfrontiert. Bei rund der Hälfte der Betroffenen richtete sich die Gewalt explizit gegen sie als Rückkehrer.

Die neueste Studie der Afghanistan-Expertin Stahlmann wurde Anfang Juni 2021 veröffentlicht und ist im Auftrag mehrerer deutscher Hilfs­organisationen entstanden. In mehrjähriger Forschungs­arbeit hat die Sozial­anthropologin die Erfahrungen von 113 Abgeschobenen aus Deutschland gesammelt. Insgesamt hatte Deutschland zwischen 2016 und 2020 rund 900 Afghaninnen ausgeschafft.

Stahlmann kommt in ihrer jüngsten Studie zum Schluss, dass die Abgeschobenen häufig einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sind. Wegen ihrer Flucht, aber auch ihrer Abschiebung wird ihnen ein «Überlaufen zum Feind» vorgeworfen, «Verwestlichung», «unmoralisches Verhalten» oder «Abkehr vom muslimischen Glauben». Ein weiteres Gewalt­risiko bestehe laut Studie auch, weil die Geflüchteten ihre Schulden für die Flucht nach Europa nicht beglichen hätten. «Die Mehrheit der Abgeschobenen erfuhr Gewalt gegen sich oder ihre Angehörigen», heisst es in der Studie.

Deshalb seien 68 Prozent der befragten Afghanen bereits wieder geflohen. Ein Viertel der Abgeschobenen befindet sich noch in Afghanistan, sei aber bereits in Visums­planung, knapp 10 Prozent befänden sich in der Flucht­planung. Nur eine einzige Person von 113 Abgeschobenen habe laut Studie vor, in Afghanistan zu bleiben.

«Haargenaue» Prüfung des Einzelfalls

Die Schweiz hat in der Vergangenheit mehrfach Asyl­suchende beispiels­weise nach Sri Lanka ausgeschafft, wo sie direkt am Flughafen verhaftet wurden oder sich über ein Jahr lang verstecken mussten. In einem Fall verurteilte der Europäische Gerichts­­hof für Menschen­­­rechte die Schweiz, weil sie das Folter­verbot verletzte, als sie 2013 eine tamilische Familie aus der Schweiz wegwies.

Wie will das SEM verhindern, dass sich Ähnliches auch in Afghanistan wiederholt?

Angesichts der desolaten Sicherheits­lage dürfte schwer zu garantieren sein, dass eine Ausschaffung nach Afghanistan nicht «den Kern der Flüchtlings­konvention» verletzt und das Leben und die Freiheit des Geflüchteten gefährdet. Wie also stellt das SEM sicher, dass rückgeführte Personen in Afghanistan keinen Menschen­rechts­verletzungen ausgesetzt sind, wie sie die Studien von Stahlmann vielfach dokumentieren?

Das SEM schreibt auf Anfrage: «Falls dem so wäre» (gemeint sind die Menschen­rechts­verletzungen): «Afghanistan ist ein souveräner Staat. Die Schweiz kann nicht vor Ort solche ‹Über­prüfungen› vornehmen.» In einem Fernseh­interview hatte ein Sprecher noch versichert, man prüfe jeden Einzelfall «haargenau und detailliert».

Der Vollzug einer Wegweisung müsse «zumutbar, zulässig und möglich» sein, schreibt das SEM weiter. Derzeit würden Ausschaffungen nur bei besonders begünstigenden Umständen vollzogen, unter anderem müsse die abgeschobene Person ein tragfähiges soziales Netz vor Ort haben. Als zumutbar erachtet das SEM derzeit Ausschaffungen in die drei Städte Kabul, Herat und Mazar-i Sharif.

«Das ist völlig verrückt», sagt Abdul Ghafoor von der Kabuler NGO Amaso über diese Praxis. In Herat seien alle Bezirke rund um das Zentrum in den Händen der Taliban. Diese hätten schon mehrfach versucht, das Zentrum zu erobern, aber bewaffnete Milizen hätten das bislang verhindert. In der Stadt patrouillierten Tausende bewaffnete Männer. «Die Stadt ist ganz offensichtlich ein Kriegs­gebiet», sagt Ghafoor. Auch in Mazar-i Sharif seien die Taliban kürzlich vor den Stadt­toren gestanden und hätten zu propagandistischen Zwecken Selfies geschossen.

Ghafoor beobachtet das «Phänomen», dass europäische Staaten die Städte Kabul, Herat und Mazar-i Sharif als sicher einschätzen, seit einigen Jahren mit Verwunderung. «Es ist ein Märchen, dass Herat oder Mazar sicher wären», sagt er. «In der jetzigen Lage Menschen nach Afghanistan abzuschieben, heisst, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.»

Das SEM verlautet, es sei sich der «angespannten Lage und der anhaltenden Konflikt­handlungen» bewusst. Die aktuellen Entwicklungen würden verfolgt und entsprechend gewürdigt.

Laut SEM kann eine Ausschaffung denn auch unzumutbar sein, wenn die Person dadurch «in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeine Gewalt und medizinische Notlage im Heimat- oder Herkunfts­staat konkret gefährdet ist».

Demzufolge dürfte auch die Zahl der 144 von einer Ausschaffung bedrohten Afghanen in der Schweiz zu hoch gegriffen sein. Mit dem Erstarken der Taliban und der sich verändernden Lage in Afghanistan wird wohl der eine oder andere ein Wieder­erwägungs­gesuch stellen können und zumindest auf eine vorläufige Aufnahme in der Schweiz hoffen.

Wegen der «Gewalt­eskalation durch die Terror­gruppe der Taliban» rief die afghanische Regierung Anfang Juli die europäischen Staaten dazu auf, vorläufig auf Zwangs­ausschaffungen zu verzichten. Finnland erklärte, dem Ersuchen Folge zu leisten. Deutschland prüft das Anliegen.

Das SEM hingegen lässt sich von der afghanischen Erklärung offenbar nicht beeindrucken. Auf Anfrage schreibt die Migrations­behörde: «Vorläufig ändert sich nichts an der aktuellen Rückführungspraxis.»