Wieso die Schweiz das gefährlichste Land der Welt für sicher erklärt
Die US-Truppen ziehen ab, die Taliban rücken vor: Afghanistan ist in weiten Teilen ein Kriegsgebiet. Trotzdem will die Schweiz Asylsuchende dorthin abschieben. Wie kann das sein?
Von Carlos Hanimann, 22.07.2021
Die Meldung des Schweizer Fernsehens verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Die Schweiz schaffe wieder Asylsuchende nach Afghanistan aus, berichtete die «Tagesschau» vor ein paar Wochen. Insgesamt sollten «konkret» 144 Afghaninnen in das kriegsversehrte Land ausgeflogen werden.
Unter Geflüchteten, Freunden und Freiwilligen von Hilfsorganisationen aus dem Asylbereich machte sich Panik breit: Was bedeutete die Meldung? Änderte das Staatssekretariat für Migration (SEM) etwa gerade seine Asylpraxis? Waren wirklich über 140 Menschen akut von einer Abschiebung in ein Land bedroht, in dem seit über 40 Jahren Krieg herrscht, aus dem die US-Truppen nach 20 Jahren Präsenz gerade abziehen und in dem die islamistische Miliz Taliban Tag für Tag stärker wird und mehrere Distrikte erobert hat?
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Schweiz schlug Alarm: Jede Abschiebung nach Afghanistan sei «eine klare Menschenrechtsverletzung». Bei Asylex, einer Rechtsberatungsstelle für Asylfragen, klingelte nach dem «Tagesschau»-Bericht pausenlos das Telefon. «Ich bekam zahlreiche Anrufe, Textnachrichten und E-Mails», sagt Asylex-Präsidentin Lea Hungerbühler.
Der Verein vertritt etwa 10 Klienten, die potenziell von einer Ausschaffung nach Afghanistan betroffen wären. Zudem ist Hungerbühler in regelmässigem Austausch mit anderen Anwältinnen, Hilfsorganisationen und Aktivisten. Sie und andere Rechtsberaterinnen waren mit ähnlichen Fragen von Betroffenen konfrontiert: Wie soll es jetzt weitergehen? Werden wir bald ausgeschafft? Sollen wir untertauchen? Wo? In der Schweiz oder doch besser im benachbarten Ausland?
Vereinzelt gerieten Geflüchtete offenbar derart in Panik, dass sie sich umgehend absetzen und in Wäldern verstecken wollten. Vor allem die Ankündigung von SRF, es «sollten konkret 144 Afghaninnen und Afghanen in ihre Heimat zurückgeführt werden», verstanden viele Betroffene so, dass das Flugzeug nach Kabul schon bereitstehe und nur noch gefüllt werden müsse.
Lea Hungerbühler versuchte ihre Klienten zu beruhigen. «Mir war nicht bekannt, dass das SEM Ausschaffungen nach Afghanistan formell je gestoppt hätte», sagt sie. Eine latente Gefahr, ausgeschafft zu werden, bestand für abgewiesene Asylsuchende immer – sie war während der Pandemie lediglich etwas geringer, weil Grenzen geschlossen waren und der Flugverkehr teilweise eingestellt wurde. Warum nun also diese Nachricht?
Unter Hilfsorganisationen und Anwältinnen im Asylbereich vermutet man Folgendes: Die Geschichte wurde aufgebauscht, der Schaden war damit angerichtet. Asylex versuchte die entstandene Panik zu mildern und veröffentlichte eine Stellungnahme auf Social Media, die vor allem an die afghanische Community gerichtet war: «Update Afghanistan – Stay Calm!»
Was also ist Sache?
Hat das SEM wirklich von gestern auf heute seine Asylpraxis geändert, um über 140 Personen in ein Land zu schicken, in dem gerade an allen Ecken und Enden bewaffnete Konflikte ausbrechen?
Die kurze Antwort lautet: nein.
Die etwas längere: Nein, das SEM hat seine Praxis nicht geändert – denn die Schweiz hat gar nie aufgehört, Geflüchtete in das kriegsversehrte Afghanistan abzuschieben. Und sie hat momentan auch nicht vor, damit aufzuhören.
Die Lage ist so schlecht wie nie
Am 28. Juli feiert die internationale Gemeinschaft ein wichtiges Jubiläum: 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention. Die Flüchtlingskonvention entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Krieg und Nationalsozialismus Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben und dazu gezwungen hatten, in andere Länder zu fliehen.
Längst nicht allen Menschen wurde Zuflucht gewährt. Auch die Schweiz wies über 20’000 Geflüchtete an der Grenze ab, mehrere tausend davon waren Juden, die danach teilweise deportiert wurden.
Eine Folge dieser Unmenschlichkeit war, dass künftig Geflüchteten das Asyl nicht mehr verweigert werden sollte, wenn sie an Leib und Leben bedroht waren. Anders gesagt: Niemand sollte mehr in den Tod geschickt werden.
Der oberste Schweizer Asylverwalter, Staatssekretär Mario Gattiker, schrieb denn auch kürzlich über die Flüchtlingskonvention: «Der Kern des Flüchtlingsschutzes ist das Non-Refoulement-Prinzip. Kein Flüchtling darf in einen Staat zurückgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit gefährdet wären.»
In den vergangenen Tagen flohen Tausende Menschen aus Afghanistan aus genau diesem Grund: weil ihr Leben und ihre Freiheit gefährdet waren. Denn während Gattiker in einer Fachzeitschrift ein paar schöne Worte veröffentlichen liess, begannen die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, und die Taliban rückten parallel dazu immer weiter vor.
Rund 4,6 Millionen Afghaninnen leben im Ausland, 2,7 Millionen von ihnen gelten offiziell als Flüchtlinge. Und mit dem Vorrücken der Taliban steigt auch die Zahl der Geflüchteten.
Die islamistische Miliz gab letzte Woche an, 85 Prozent des afghanischen Territoriums eingenommen zu haben. Tatsächlich haben die Taliban zahlreiche Distrikte angegriffen und dürften mittlerweile rund die Hälfte des Landes unter Kontrolle haben, insbesondere die ländlichen Gebiete. Aber auch in mehreren Städten sorgt man sich vor einer Machtübernahme der Taliban, selbst in der Hauptstadt Kabul.
«Die Sicherheitslage in Afghanistan war noch nie so schlecht wie heute», sagt Abdul Ghafoor, Direktor der NGO Amaso, die abgeschobene Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Afghanistan unterstützt. «Ich habe nie so viel Angst unter den Menschen gesehen wie in den letzten Tagen. Alle fragen sich, was jetzt wohl kommt. Wer es sich leisten kann, versucht einen Pass zu bekommen. Alle reden davon, das Land zu verlassen.»
Vergangene Woche hat Frankreich seine Bürgerinnen dazu aufgerufen, nach Europa zurückzukehren. Deutschland hatte bereits Anfang Juli seine Staatsbürger aufgefordert, aus Afghanistan abzureisen. Das Schweizer Aussendepartement rät seit langem davon ab, überhaupt nach Afghanistan zu reisen.
Warum also schätzen die Schweizer Asylbehörden Afghanistan trotzdem als sicheres Rückkehrland ein?
Deutschland schickte, wenige Tage nachdem es seine Bürgerinnen zur Rückreise aufrief, ein Flugzeug in die umgekehrte Richtung: An Bord waren gemäss der in Kabul ansässigen NGO Amaso 27 afghanische Geflüchtete aus Deutschland. Folgt bald auch ein solcher Flug aus der Schweiz?
Abgeschobene in Afghanistan: Verbrecher oder Versager
Die Schweizer Asylpolitik besteht im Kern aus zwei Dingen: Aufnahme von Schutzbedürftigen und konsequente Wegweisung aller anderen.
Im Fall von Afghanistan heisst das in Zahlen: 84 Prozent der Asylsuchenden erhalten Asyl oder werden vorläufig aufgenommen. Die Schutzquote ist so hoch wie nirgends sonst in Europa. Die Schweiz ist aber auch europaweit führend bei den Ausschaffungen. Kein anderes Land vollzieht die Abschiebungen abgewiesener Asylsuchender so konsequent wie die Schweiz.
Entsprechend machte die freisinnige Justizministerin Karin Keller-Sutter bald nach ihrem Amtsantritt in einer Rede im März 2019 klar, dass für sie zu einer «glaubwürdigen Asylpolitik» auch gehöre, dass abgewiesene Asylsuchende die Schweiz verliessen. Deren Ausschaffung habe für sie «höchste Priorität». Erfreut verkündete sie in ihrer 100-Tage-Bilanz, dass man «nach zwei Jahren Blockade» endlich wieder Zwangsausschaffungen nach Afghanistan habe durchführen können.
Dass die Schweiz Geflüchtete auch in Kriegsgebiete wie Afghanistan abschiebt, ist also nicht der fragwürdige Ausnahmefall, sondern vielmehr die Regel der Schweizer Asylpolitik.
In den letzten 12 Jahren gab es nur zwei Jahre, in denen die Schweiz niemanden nach Afghanistan ausschaffte: 2018 akzeptierte Afghanistan keine Zwangsausschaffungen; und 2020 fielen wegen der Pandemie die Flüge nach Afghanistan aus, wie das SEM auf Anfrage angibt. In allen anderen Jahren seit 2009 wurden jeweils zwischen 4 und 7 Personen nach Afghanistan abgeschoben, 2017 waren es ausnahmsweise 11 Personen.
Wie es den Abgeschobenen in Afghanistan erging, ist kaum bekannt. Grundsätzlich weiss man, dass Abgeschobene im Rückkehrstaat einen schweren Stand haben. Verschiedene Studien über Abgeschobene in Afghanistan zeigen, dass viele von ihnen Gewalt erfahren oder das Land bald nach der Ankunft wieder verlassen.
Die Sozialanthropologin und Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann hat sich intensiv mit der Rückkehrsituation von afghanischen Geflüchteten aus Deutschland auseinandergesetzt. In einer 2019 publizierten Studie dokumentierte sie die Erfahrungen von 55 Abgeschobenen in Kabul und stellte dabei fest, dass diese infolge sogenannter «Verwestlichung» besonders gefährdet waren. So wurde ihnen etwa unterstellt, als Spione für westliche Staaten gearbeitet zu haben, oder ihnen wurde eine Anpassung an eine europäische Lebensweise vorgeworfen (vom Haarschnitt über den Kleidungsstil bis hin zur Missachtung sozialer Gepflogenheiten).
Häufig seien Abgeschobene auch stigmatisiert worden, heisst es bei Stahlmann: Sie gälten entweder als Verbrecher oder als Versager. Ebenfalls ein Fakt: Die allermeisten Abgeschobenen waren nach der Rückkehr mit Gewalt konfrontiert. Bei rund der Hälfte der Betroffenen richtete sich die Gewalt explizit gegen sie als Rückkehrer.
Die neueste Studie der Afghanistan-Expertin Stahlmann wurde Anfang Juni 2021 veröffentlicht und ist im Auftrag mehrerer deutscher Hilfsorganisationen entstanden. In mehrjähriger Forschungsarbeit hat die Sozialanthropologin die Erfahrungen von 113 Abgeschobenen aus Deutschland gesammelt. Insgesamt hatte Deutschland zwischen 2016 und 2020 rund 900 Afghaninnen ausgeschafft.
Stahlmann kommt in ihrer jüngsten Studie zum Schluss, dass die Abgeschobenen häufig einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sind. Wegen ihrer Flucht, aber auch ihrer Abschiebung wird ihnen ein «Überlaufen zum Feind» vorgeworfen, «Verwestlichung», «unmoralisches Verhalten» oder «Abkehr vom muslimischen Glauben». Ein weiteres Gewaltrisiko bestehe laut Studie auch, weil die Geflüchteten ihre Schulden für die Flucht nach Europa nicht beglichen hätten. «Die Mehrheit der Abgeschobenen erfuhr Gewalt gegen sich oder ihre Angehörigen», heisst es in der Studie.
Deshalb seien 68 Prozent der befragten Afghanen bereits wieder geflohen. Ein Viertel der Abgeschobenen befindet sich noch in Afghanistan, sei aber bereits in Visumsplanung, knapp 10 Prozent befänden sich in der Fluchtplanung. Nur eine einzige Person von 113 Abgeschobenen habe laut Studie vor, in Afghanistan zu bleiben.
«Haargenaue» Prüfung des Einzelfalls
Die Schweiz hat in der Vergangenheit mehrfach Asylsuchende beispielsweise nach Sri Lanka ausgeschafft, wo sie direkt am Flughafen verhaftet wurden oder sich über ein Jahr lang verstecken mussten. In einem Fall verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz, weil sie das Folterverbot verletzte, als sie 2013 eine tamilische Familie aus der Schweiz wegwies.
Wie will das SEM verhindern, dass sich Ähnliches auch in Afghanistan wiederholt?
Angesichts der desolaten Sicherheitslage dürfte schwer zu garantieren sein, dass eine Ausschaffung nach Afghanistan nicht «den Kern der Flüchtlingskonvention» verletzt und das Leben und die Freiheit des Geflüchteten gefährdet. Wie also stellt das SEM sicher, dass rückgeführte Personen in Afghanistan keinen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, wie sie die Studien von Stahlmann vielfach dokumentieren?
Das SEM schreibt auf Anfrage: «Falls dem so wäre» (gemeint sind die Menschenrechtsverletzungen): «Afghanistan ist ein souveräner Staat. Die Schweiz kann nicht vor Ort solche ‹Überprüfungen› vornehmen.» In einem Fernsehinterview hatte ein Sprecher noch versichert, man prüfe jeden Einzelfall «haargenau und detailliert».
Der Vollzug einer Wegweisung müsse «zumutbar, zulässig und möglich» sein, schreibt das SEM weiter. Derzeit würden Ausschaffungen nur bei besonders begünstigenden Umständen vollzogen, unter anderem müsse die abgeschobene Person ein tragfähiges soziales Netz vor Ort haben. Als zumutbar erachtet das SEM derzeit Ausschaffungen in die drei Städte Kabul, Herat und Mazar-i Sharif.
«Das ist völlig verrückt», sagt Abdul Ghafoor von der Kabuler NGO Amaso über diese Praxis. In Herat seien alle Bezirke rund um das Zentrum in den Händen der Taliban. Diese hätten schon mehrfach versucht, das Zentrum zu erobern, aber bewaffnete Milizen hätten das bislang verhindert. In der Stadt patrouillierten Tausende bewaffnete Männer. «Die Stadt ist ganz offensichtlich ein Kriegsgebiet», sagt Ghafoor. Auch in Mazar-i Sharif seien die Taliban kürzlich vor den Stadttoren gestanden und hätten zu propagandistischen Zwecken Selfies geschossen.
Ghafoor beobachtet das «Phänomen», dass europäische Staaten die Städte Kabul, Herat und Mazar-i Sharif als sicher einschätzen, seit einigen Jahren mit Verwunderung. «Es ist ein Märchen, dass Herat oder Mazar sicher wären», sagt er. «In der jetzigen Lage Menschen nach Afghanistan abzuschieben, heisst, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.»
Das SEM verlautet, es sei sich der «angespannten Lage und der anhaltenden Konflikthandlungen» bewusst. Die aktuellen Entwicklungen würden verfolgt und entsprechend gewürdigt.
Laut SEM kann eine Ausschaffung denn auch unzumutbar sein, wenn die Person dadurch «in Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeine Gewalt und medizinische Notlage im Heimat- oder Herkunftsstaat konkret gefährdet ist».
Demzufolge dürfte auch die Zahl der 144 von einer Ausschaffung bedrohten Afghanen in der Schweiz zu hoch gegriffen sein. Mit dem Erstarken der Taliban und der sich verändernden Lage in Afghanistan wird wohl der eine oder andere ein Wiedererwägungsgesuch stellen können und zumindest auf eine vorläufige Aufnahme in der Schweiz hoffen.
Wegen der «Gewalteskalation durch die Terrorgruppe der Taliban» rief die afghanische Regierung Anfang Juli die europäischen Staaten dazu auf, vorläufig auf Zwangsausschaffungen zu verzichten. Finnland erklärte, dem Ersuchen Folge zu leisten. Deutschland prüft das Anliegen.
Das SEM hingegen lässt sich von der afghanischen Erklärung offenbar nicht beeindrucken. Auf Anfrage schreibt die Migrationsbehörde: «Vorläufig ändert sich nichts an der aktuellen Rückführungspraxis.»