Was übrig bleibt nach dem Tod eines Angehörigen: Erinnerungen an ein Leben – und viele offene Fragen.

Überstürzter Abschied

Bei Exit geht es immer um alles. Umso wichtiger ist es, dass die schnell wachsende Organisation ihre Freitodbegleitungen mit grösster Sorgfalt durchführt. Ist das wirklich gewährleistet? Die Geschichte von Familie Berger.

Von Barbara Lukesch (Text) und Rita Palanikumar (Bilder), 20.07.2021

Exit schreibt Geschichte. Man könnte auch sagen Erfolgs­geschichte, wenn man nicht Gefahr liefe, zynisch zu klingen angesichts des Wirkungs­feldes des Vereins. In den letzten zehn Jahren ist die Sterbehilfe­organisation von 52’000 auf über 135’000 Mitglieder angewachsen. Als sie 2019 die 120’000er-Marke erreichte, betonte sie in ihrer Informations­broschüre, dass dies «der Grösse einer Bundesrats­partei entspricht».

Mit dem Wachstum hat auch die Zahl der Freitod­begleitungen zugenommen: 2010 schieden 257 Menschen mithilfe von Exit aus dem Leben, 2020 mit 913 bereits dreieinhalbmal so viel.

Der Verein geniesst in der Öffentlichkeit viel Wert­schätzung und ist nicht mehr wegzudenken aus dem Dienst­leistungs­angebot. Das Recht auf Selbst­bestimmung beim Sterben steht in der Schweiz weit oben auf der Wunsch­liste der Menschen.

Doch nun wirft ein Fall Fragen auf, die weit über das Einzel­schicksal hinaus­gehen. Hat das rapide Wachstum von Exit zu so viel Druck geführt, dass nicht mehr alle Abklärungen und Begleitungen der Fälle mit der nötigen Sorgfalt durch­geführt werden können? Fehlt es an Zeit und Personal? Und wie kann es sein, dass ein derart sensibles Geschäft weder gesetzlich geregelt ist noch dazu irgend­welche externen Kontrollen existieren?

Der 84-jährige Ernst Berger, der seit langem an grünem Star litt und sich vor dem Erblinden fürchtete, war seit zehn Jahren Mitglied von Exit. Um die Familie zu schützen, wurden in dieser Recherche sein Name sowie die Namen seiner Angehörigen geändert.

Bergers Hausarzt hatte ihm in einem Zeugnis Urteils­fähigkeit attestiert und war bereit, ihm das tödliche Natrium-Pento­barbital zu verschreiben. Auch für den Exit-Sterbe­helfer waren sämtliche Voraus­setzungen für den Freitod erfüllt. Doch das Verhalten von Exit gegenüber den Angehörigen verursachte einen familiären Scherbenhaufen.

Die Republik hat für die Rekonstruktion dieser Geschichte mehrere Gespräche mit Mitgliedern der Familie Berger sowie einer weiteren Person geführt, die mit dem Fall vertraut ist und bei einem Gespräch mit Exit anwesend war. Sie hat E-Mails, Gesprächs­notizen und andere Akten eingesehen und mit Experten und dem zuständigen Hausarzt gesprochen. Sie hat zudem Exit mit allen recherchierten Fakten konfrontiert.

Ein rationaler Mann

Ernst Berger war Natur­wissenschaftler. Er forschte und lehrte über seine Emeritierung hinaus an einer Schweizer Hochschule. Seine älteste Tochter Rahel, eine 58-jährige Politologin, wohnte jahrelang in Zürich Haus an Haus mit ihrem Vater, zu dem sie eine enge Beziehung pflegte. Die beiden assen mehrmals pro Woche gemeinsam und tauschten sich rege über politische und gesellschaftliche, aber auch persönliche Themen aus. Ihren Vater beschreibt Rahel Berger als gescheiten, rationalen Mann, sehr strukturiert und analytisch denkend. Vielseitig interessiert, habe er insbesondere das politische Tages­geschehen akribisch verfolgt und mit ihrem Partner, einem Engländer, mehrmals heftig über den Brexit und dessen Auswirkungen diskutiert. Wandern und Reisen hätten zu seinen liebsten Hobbys gehört. Spät noch habe er Tanzen gelernt.

Auch zu seiner jüngsten Tochter hatte Ernst Berger ein herzliches Verhältnis. Er besuchte sie und ihre Familie alle zwei Wochen im Bündner­land. Julia Frick ist Ärztin und war stets genauso gut über den Gesundheits­zustand des Vaters informiert wie ihre Schwester Rahel. Beide wussten seit langem, dass ihr Vater an grünem Star litt, einer chronischen Krankheit, die den Sehnerv schädigt und unbehandelt zum Erblinden führt. Er war in regel­mässiger Behandlung und vertraute seiner Augen­ärztin in Zürich genauso wie einer Fachärztin in St. Gallen, die ihn mehrmals operiert hatte.

Gleichwohl nagte die Angst vor dem Erblinden an ihm. Alle paar Jahre sei er «in Panik geraten und in eine Krise gerutscht», erinnert sich Rahel Berger. Eine solche Eskalation habe es unabhängig von einem schlechten Befund geben können: «Es reichte schon, wenn eine Kontrolle bei seiner Ärztin bevorstand.» Dann habe es Zeit, Geduld und beruhigende Gespräche gebraucht, bis er wieder zu sich gekommen sei.

Dass er vor zehn Jahren Mitglied bei Exit wurde, hatte mit dieser Angst zu tun: «Exit war für ihn eine Art Versicherung, dass er im Fall einer drastischen Verschlechterung seiner Augen selbst­bestimmt sterben könnte», sagt Julia Frick. Wie ihre Schwester Rahel hat sie ein unbelastetes Verhältnis zur begleiteten Sterbe­hilfe, in der sie eine sinnvolle Dienst­leistung sieht. So anerbot sich Rahel Berger kürzlich einer engen Freundin aus England, die aufgrund einer schweren Krebs­erkrankung an Sterbehilfe denkt, sie in der Schweiz zu begleiten. Julia Frick machte als Ärztin wiederholt die Erfahrung, wie wertvoll ein assistierter Suizid sein kann.

Die Angst ums Augenlicht

Die Mitgliedschaft des Vaters bei Exit bekam in der Familie erstmals eine konkretere Bedeutung, als seine Frau Rosa 2015 an den Folgen ihrer Alters­demenz starb. Ernst Berger war untröstlich. Er hatte seiner Familie immer klargemacht, dass der Tod seiner Lebens­gefährtin auch sein Ende bedeuten würde. Doch nach dem Tod seiner Frau beruhigte er die Angehörigen. Sie müssten sich keine Sorgen machen, er wolle weiterleben. Andernfalls würde er vorgängig mit ihnen zusammen­sitzen und alles besprechen.

Dann trat eine neue Frau in sein Leben, und er fasste wieder Mut. Reisen und Ausflüge, gegenseitige Besuche und viele Pläne, darunter ganz konkrete für gemeinsame Herbst­ferien im Jahr 2019, liessen ihn regelrecht aufblühen. Als seine Freundin ihren 80. Geburts­tag mit einem grossen Fest im Kanton Bern feierte, begleitete ihn Rahel, weil er sich wegen seiner Augen im öffentlichen Raum allein nicht mehr sicher fühlte. Für den Haushalt bekam er Hilfe von der Spitex. Rahel Berger war zuversichtlich und überzeugt, dass in jener Zeit alles ziemlich gut lief.

Umso schockierter war sie, als ihr Vater sie an einem Sonntag Anfang September 2019 zu sich rief und ihr mitteilte, dass er jetzt mit Exit gehen werde. Auf ihre Frage, warum denn ausgerechnet jetzt, wo er das Leben doch wieder so genossen habe, erklärte er ihr, er sei in zwei Monaten blind. Das wisse er auch ohne neuerlichen Besuch bei der Augen­ärztin, und deshalb habe er bereits Exit kontaktiert.

Rahel Berger spürte sofort, dass ihr Vater wieder in eine seiner typischen Krisen geraten war und unter einem Panik­schub litt. Schon kurz zuvor hatte eine Bekannte mit einem beruflichen Hinter­grund im Gesundheits­wesen und in der Psychiatrie sie gefragt, ob ihr Vater unter einer Depression leide. Er sei dermassen kraftlos, wirke unsicher und vertrete so seltsame Ansichten, dass sie ihn kaum wiedererkenne.

Auf Rahel Bergers Frage, was ihn genau bedrücke, antwortete der Vater, er erkenne die Ziffern auf dem Display seines Handys nicht mehr und sehe nicht, wenn das Wasser im Topf koche. Er möge auch nicht mehr allein aus dem Haus gehen und mit dem Bus zum Wald fahren, um zu spazieren, weil er fürchte, die Buslinien zu verwechseln. Die Tochter wollte Zeit gewinnen, um ihn zu beruhigen und ihn über zusätzliche Dienst­leistungen der Stiftung Sehhilfe zu informieren. Gleichzeitig anerbot sie sich, mit ihm auch das Angebot von Exit sorgfältig zu prüfen: «Mir war einfach wichtig, dass er nicht überstürzt handelte, alle Optionen in Erwägung zog und einen wohl­durchdachten Entscheid fällte.»

Sie informierte ihre drei Geschwister, die genauso erschrocken reagierten wie sie. Man hielt gemeinsam mit dem Vater eine Familien­sitzung ab, an der auch der Bruder aus der Inner­schweiz dabei war und die dritte Schwester, die eigens aus den USA angereist war. Bei diesem Treffen versprach der Vater seinen vier Kindern, bis Ende 2019 zu warten, ehe er einen endgültigen Entscheid treffe. Rahel Berger atmete auf: «Wir waren sicher, dass wir nun genug Zeit für einen sorgfältigen Entscheid hatten. Ich wusste, dass wir uns auf das Versprechen meines Vaters verlassen konnten.»

Dieser erklärte sich bereit, mit ihr zur Stiftung Sehhilfe zu gehen, wo er ein Smart­phone mit extra­grossen Ziffern erhielt. In mehreren Instruktions­stunden machte er sich schlau in der Hand­habung des neuen Geräts, lernte auch, damit SMS und E-Mails zu verschicken. Gleichzeitig willigte er ein, mit seiner Tochter nochmals zur Augen­spezialistin nach St. Gallen zu fahren.

Der Sehtest vom 18. September förderte keinerlei auffällige Verschlechterungen zutage. Rahel Berger freute sich über die Resultate, doch ihr Vater bedrängte die Ärztin mit der Frage, ob sie ihm «garantieren» könne, dass er an Weihnachten noch etwas sehe. Eine Garantie könne sie ihm natürlich nicht geben, lautete die zu erwartende Antwort, aber es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass eine markante Verschlechterung bevorstehe. Sie sei überzeugt, dass er an Weihnachten noch sehr viel sehen werde.

Rahel Berger kannte ihren Vater sehr gut und dachte: «Jetzt ‹spinnt› er wieder.» Sie meine das nicht despektierlich, ergänzt sie, aber es bringe am besten zum Ausdruck, wie es auf sie gewirkt habe, dass ein so gebildeter, intelligenter Mensch wie er, der als Natur­wissenschaftler immer rational gedacht hatte, eine solche Frage stellen konnte: «Die Panik hatte ihn fest im Griff und suggerierte ihm, er werde in Kürze sein Augen­licht verlieren.»

Zwei Tage später begleitete sie ihren Vater zum Hausarzt, der umgehend versprach, ihm bei Bedarf das tödliche Mittel zu verschreiben und seine Urteils­fähigkeit zu bestätigen. Er habe gesagt, erinnert sich Rahel Berger, das sei «überhaupt kein Problem». Als sie erwähnt habe, dass ihr Vater wegen seiner Augen­geschichte derzeit panisch reagiere und möglicher­weise in einer Depression stecke, habe der Arzt das Thema vom Tisch gewischt. Sie staunte über das Tempo, das er anschlug, beruhigte sich aber, als sie sah, wie fröhlich ihr Vater nach der Visite war: «Er wusste jetzt, dass er im Fall der Fälle auf die Unter­stützung seines Arztes zählen konnte. Das erleichterte ihn und liess auch mich hoffen, dass wir einen guten, entspannten Weg finden würden.»

Rahel Berger über ihren Vater: «Die Panik hatte ihn fest im Griff.»

Fragt man den Hausarzt, wie er diese Begegnung in Erinnerung habe, verweist er auf seine Schweige­pflicht. Er betont jedoch, er begleite seit dreissig Jahren Menschen, die mit Exit aus dem Leben schieden. Da sei er immer wieder mit Fällen konfrontiert, in denen es ihm enorm schwerfalle, zu entscheiden, ob ein Mensch tatsächlich urteils­fähig sei und er ihm damit mit gutem Gewissen das tödliche Rezept ausstellen dürfe. Manchmal gebe es starken Druck vonseiten der Angehörigen, die bremsten, während der Sterbe­willige keinen Sinn darin sehe, seinen Exit-Termin hinaus­zuzögern. In ganz besonders heiklen Situationen rede er sechs-, siebenmal mit einer betroffenen Patientin oder lege einen solchen Fall auch einmal einer Gruppe von Berufs­kollegen vor, mit denen er sich regelmässig austausche: «Ich mache mir eine solche Entscheidung wirklich nicht leicht.»

Treffen mit dem Sterbehelfer

Wie geplant wurde nun auf Ende September ein Treffen mit einem Freitod­begleiter von Exit abgemacht, um auch diese Option in aller Ruhe zu prüfen. Rahel Berger entnahm den Unterlagen, dass Exit die Voraussetzungen für eine Freitod­begleitung sehr klar und streng definiert: Die Urteils­fähigkeit der sterbe­willigen Person muss gegeben sein, sie muss also wissen, was sie tut. Es braucht eine Wohl­erwogenheit des Entscheids, die Person darf nicht aus dem Affekt handeln, sie muss die möglichen Alternativen kennen und einen dauerhaften Sterbe­wunsch hegen, es ist also eine gewisse Konstanz erforderlich. Ausserdem muss die sterbe­willige Person den Entscheid autonom fällen und den Suizid eigen­händig ausführen, indem sie das Gift selber zu sich nimmt. Rahel Berger war überzeugt, dass der Fall ihres Vaters besonders genau abgeklärt würde, da er sich vor allem in einer akuten seelisch-emotionalen Krise befand.

Diesmal war es Julia Frick, Rahels 48-jährige Schwester, die ihrem Vater zur Seite stand. Sie erwartete, dass das Gespräch mit dem Sterbe­begleiter Martin Hauser, der ebenfalls anders heisst, ein Erstgespräch wäre, dem weitere Treffen folgen würden. Und dass dieses Erstgespräch primär dazu dienen würde, die Situation in Ruhe gemeinsam anzuschauen und medizinische, aber auch psychologische und familiäre Aspekte zu besprechen. «Ich war mir sicher, dass es nach diesem Gespräch eine Beruhigung geben würde, weil mein Vater wüsste, auf welche Hilfe er im Notfall zählen könnte.»

Die erfahrene Ärztin sollte sich täuschen. «Das Gespräch war ein einziges Desaster», sagt sie beim Treffen auf einer Restaurant­terrasse. Dabei sei der Fall ihres Vaters wirklich komplex gewesen: «Sein Sterbe­wunsch war gerade mal ein paar Wochen alt, also alles andere als dauerhaft; seine psychische Verfassung war extrem bedenklich und grenzte an einen psychotischen Zustand.» Ob er unter diesen Umständen wirklich urteilsfähig gewesen sei oder eher aus dem Affekt heraus gehandelt habe, hätte zumindest sorgfältig überprüft werden müssen.

Der Sterbehelfer habe jedoch keinerlei Interesse an diesen Themen gezeigt und ihr klargemacht, dass er als Freitod­begleiter für den Sterbe­willigen und nicht für die Angehörigen zuständig sei. Er habe sie einfach ignoriert und «keinen Millimeter» miteinbezogen. Dabei sei es ihr und ihren Geschwistern nie darum gegangen, dem Vater das Recht auf einen assistierten Freitod abzusprechen, sagt Julia Frick: «Aber wir waren sehr besorgt um ihn und fragten uns, ob dieses überhastete Vorgehen den Standards von Exit entspricht. Was wir dringend brauchten, war mehr Zeit, um die wahnsinnige Hektik und den Druck zu stoppen.»

Der nächste Schock für sie sei gewesen, dass es nur dieses eine Gespräch geben sollte. «Nach knapp 50 Minuten unterschrieb mein Vater die nötigen Dokumente, und von dem Moment an ging alles in rasendem Tempo weiter und war nicht mehr aufzuhalten.» Der Vater verschob seinen Sterbe­termin um einen Monat nach vorne: Nun wollte er bereits am 28. November aus dem Leben scheiden. Rahel Berger war konsterniert, weil der Vater der Familie doch versprochen hatte, mindestens bis Ende Jahr zu warten: «Das passte überhaupt nicht zu einem Mann, dem verbindliche Abmachungen immer so viel bedeutet hatten. Er war offensichtlich ausser sich.»

Laut Jürg Wiler, Medien­sprecher und Vizepräsident von Exit, legt die Organisation grossen Wert auf ein «angemessenes Verhalten» der Freitod­begleiterinnen gegenüber der Familie: «Wir sind uns bewusst, dass wir uns da in einem sehr sensiblen Bereich bewegen und dass sich diese Menschen in einer existenziellen Situation befinden.» Deshalb würden Angehörige wenn immer möglich in die ersten Kontakte mit den sterbe­willigen Menschen einbezogen, auch biete ihnen Exit eine Nach­betreuung an.

Es gebe für die Freitod­begleiter zwar keine schriftliche Handlungs­anleitung zu diesem Thema, so Wiler, aber man habe vor zwei Jahren ein eintägiges Seminar zum Umgang mit den Angehörigen angeboten und schule neue Kräfte diesbezüglich jeweils an einem halben Tag. Ebenfalls werde das Thema an den Weiter­bildungs­tagen regelmässig besprochen. Eine intensivere Betreuung der Angehörigen könnten die Sterbe­helferinnen nicht leisten, da ihr Augenmerk auf den sterbe­willigen Menschen liege. Als Entschädigung erhalten die Freitod­begleiter laut Wiler für die vormals ehren­amtliche Arbeit seit zwei Jahren 650 Franken pro Fall.

Vergebliche Interventionen der Angehörigen

Rahel Berger kontaktierte Exit und informierte eine Mitarbeiterin, dass sie das Verhalten des Sterbe­begleiters Martin Hauser nicht akzeptieren könne; sie wünsche jemand anderen. Am nächsten Tag bekam sie einen Rückruf – nicht wie erwartet von der Geschäfts­stelle, sondern von Hauser persönlich: «Die da oben» hätten ihm gesagt, es gebe ein Problem. Was los sei? Rahel Berger legte ihm in Kürze ihre Vorbehalte dar, «worauf er mich barsch abqualifizierte als eine von diesen Töchtern, die nicht loslassen können». Daraufhin beendete sie das Gespräch.

Anschliessend kontaktierte sie die Präsidentin von Exit. Diese sei «sehr freundlich und professionell» gewesen, habe ihr zugehört und versprochen, sich ihres Anliegens anzunehmen. Wenig später meldete sich die Leiterin Freitod­begleitung. Sie wirkte gestresst auf Rahel Berger und betonte als Erstes, sie gehe jetzt für zwei Wochen in die Ferien: «Dann verteidigte sie das Vorgehen des Sterbe­helfers Hauser als korrekt, wiederholte mehrmals, dass Exit eine Patienten­organisation sei, aber keine für Angehörige, und bot ein weiteres Gespräch nach ihrem Urlaub an.»

Sie habe ihr noch den Rat gegeben, sich mit dem ‹Fährfrauen-Netzwerk› in Verbindung zu setzen. Gemäss Website handelt es sich dabei um einen «Zusammen­schluss erfahrener Fachfrauen im Bestattungs­handwerk, in der Gestaltung von Abschied und in der Begleitung der Dableibenden». Rahel Berger war konsterniert: «Wenn sie mir zugehört hätte, hätte sie realisiert, dass mein Problem ein ganz anderes war – das überstürzte Vorgehen von Exit.» Sie macht eine Pause und sagt dann: «Und tot war unser Vater damals auch noch nicht.»

Auf ihre Nachfrage, wie sie an die Ethik-Kommission von Exit gelangen könne, die sie für eine Art Aufsichts­gremium hielt, antwortete die Kaderfrau später in einer E-Mail, die der Republik vorliegt: «Es ist nicht vorgesehen, dass die Kommission Angehörigen zur Verfügung steht. Dennoch, wenn Sie ein Anliegen haben, das Sie der Ethik-Kommission mitteilen möchten, können Sie dies schriftlich tun und an die Geschäfts­stelle adressieren.»

Die Republik hat erfolglos versucht, via Exit beim Sterbehelfer Martin Hauser, der Leiterin Freitod­begleitung und der Präsidentin Stellung­nahmen einzuholen. Konfrontiert mit den Vorwürfen, schreibt Medien­sprecher Jürg Wiler: «Die Aussagen, wie sie im Text aufgeführt sind, können wir nicht bestätigen. Wie bereits telefonisch mehrfach erwähnt, können wir aufgrund des Persönlichkeits­schutzes zu Einzel­fällen leider keine Angaben machen. Grundsätzlich gilt: Bei einer Freitod­begleitung sind wir dem sterbe­willigen Patienten verpflichtet.»

Plötzlich am Sterbebett

Derweil kontaktierte Julia Frick den Hausarzt. Dieser ging auf die E-Mails seiner Berufs­kollegin ein und vermittelte ihr auch während mehrerer Telefonate den Eindruck, als nehme er ihre Sorgen ernst. Sie schüttelt den Kopf: «Aber zuletzt hat er in horrendem Tempo das Rezept für das Gift ausgestellt und meinem Vater Urteils­fähigkeit attestiert, obwohl er ihm drei Wochen zuvor noch Beruhigungs­tabletten und drei Tage vor seinem Tod Antidepressiva verschrieben hatte – wie passt das zusammen?»

Die Situation spitzte sich dramatisch zu. Ernst Berger verlegte seinen Sterbetag kurzfristig nochmals nach vorn. Statt am 28. wollte er nun schon am 13. November gehen. Sein psychischer Zustand war alarmierend. Er verlangte ultimativ, dass jemand von der Familie rund um die Uhr bei ihm sein müsse. Gleichzeitig reagierte er auf alle Veränderungen, die von aussen kamen, nahezu paranoid. Als seine Partnerin, die zeitweise bei ihm wohnte, ihre Post umleiten wollte, verbat er sich das strikt. Rahel Bergers Mann bezeichnete das, was sich da abspielte, als «griechisches Drama». Freundinnen rieten der Familie, die Erwachsenen­schutz­behörde Kesb einzuschalten, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Doch das ging den Geschwistern zu weit: «Es war undenkbar für uns, unseren Vater zu entmündigen», sagt Rahel Berger.

Am 13. November 2019 sass Julia Frick am Sterbe­bett ihres Vaters. Trotz aller Vorbehalte hatte sie seinem Wunsch entsprochen, ihn zusammen mit seiner Partnerin auf seinem letzten Gang zu begleiten. Ihre Schwester Rahel Berger fühlte sich ausserstande, mit dabei zu sein: «Mich hat die Entwicklung der Ereignisse völlig überfordert. Ich konnte mich nach wie vor nicht mit dem Vorgehen abfinden, das ich als regelrecht gewalt­tätig empfand.»

Wie beurteilen Spezialisten den Fall?

Frank Urbaniok ist als erfahrener forensischer Psychiater darin geübt, Menschen und ihr Handeln zu beurteilen. Er sagt, dass es angesichts der offenbar gut begründeten Einwände der Töchter einen «Marschhalt» gebraucht hätte, um die vorhandenen Zweifel auszuräumen. «Natürlich steht bei Exit die Autonomie des Patienten zu Recht an erster Stelle. Aber das heisst doch nicht, dass die Organisation Angehörige dermassen marginalisieren kann, die wertvolle Informationen beisteuern, noch dazu zu einem Sterbe­willigen, der sich offensichtlich in einer akuten Krise befindet. Das ist unzulässig.»

Daniel Tapernoux, Internist und Leiter Beratung bei der Schweizerischen Patienten­organisation, ist es «ein grosses Anliegen, die Absolut­setzung der Patienten­autonomie etwas zu relativieren». Ein Freitod stelle für viele Angehörige eine massive Belastung dar, sodass auch ihre Bedürfnisse ernst genommen werden müssten: «Es ist doch merkwürdig, dass Menschen ein Leben lang in einem sozialen Gefüge verankert sind, und ausgerechnet am Lebens­ende wird das nahezu vollständig ausgeblendet.»

Auch nach dem Tod ihres Vaters hielt Rahel Berger am Treffen mit der Leiterin der Freitod­begleitung von Exit fest, an das sie eine Bekannte begleitete, um sie zu unterstützen: «Ich wollte der Verantwortlichen von Angesicht zu Angesicht mitteilen, dass man so nicht mit Angehörigen umgehen kann.» Einmal mehr verteidigte die Kaderfrau das Verhalten von Hauser durchgehend, alles sei korrekt abgelaufen: Ernst Berger sei Mitglied von Exit gewesen, der Arzt habe seine Urteils­fähigkeit bestätigt, das Rezept ausgestellt, und die Nachhaltigkeit des Todes­wunsches leite sich von seiner zehnjährigen Mitgliedschaft ab.

Rahel Bergers Bekannte, selber langjähriges Kader­mitglied im Gesundheits­wesen, beschreibt die Aussagen der Leiterin Freitod­begleitung als «Verteidigungs­rede». Sie habe zudem erwähnt, die Organisation sei daran, ihre Prozesse zu überprüfen, «was indirekt einem Mini-Mini-Zugeständnis gleichkam. Besonders eindrücklich empfand ich aber die Hilflosigkeit der Leiterin Freitod­begleitung bei emotionalen Fragen von Rahel Berger. Dies wirkte auf mich nicht sehr professionell.»

Daniel Tapernoux von der Schweizerischen Patienten­organisation stört sich insbesondere an der Begründung des Sterbe­willens: «Exit selber betont doch immer wieder, dass die Mitgliedschaft keineswegs mit einem Sterbe­wunsch identisch sei, sondern für viele nur so etwas wie eine Art letzte Rück­versicherung darstelle.» Psychiater Urbaniok pflichtet ihm bei: «Nachhaltigkeit ist ein richtiger und wichtiger Begriff im Zusammen­hang mit Freitod­entscheiden. Aber wenn man ihn in Zusammen­hang mit der Dauer der Vereins­mitgliedschaft bringt, persifliert man ihn regelrecht und führt ihn ad absurdum.»

Aus Angst, die Buslinien zu verwechseln, sei ihr Vater zuletzt auch nicht mehr zum Wald gefahren, um zu spazieren, erzählt Rahel Berger.

Beschwerde bleibt ohne Antwort

Die Vorgänge um den Freitod des Vaters haben die Familie zerrüttet. Es gebe zwar keinen Streit, sagt Rahel Berger, aber der Kontakt zwischen einzelnen Geschwistern sei abgebrochen. Ihre Schwester Julia, eine zurück­haltende Person, spricht von einer «Bombe, die auf die Familie gefallen ist».

Am 15. Januar 2020, zwei Monate nach dem Tod ihres Vaters, schrieb Julia Frick der Geschäfts­leitung von Exit per E-Mail einen Beschwerdebrief:

Es ist mir ein Anliegen Sie darüber zu informieren, dass Ihre Begleitung durch Ihren Mitarbeiter Herrn Hauser katastrophal und entwürdigend war. (…) Herr Hauser trat auf wie ein Versicherungs­vertreter, sprach vor allem über sich selbst, war sichtlich stolz, dass ihn durch seine vielen Freitod­begleitungen die Polizei oft schon kennt und platzierte im Gespräch mehrere Witze. Nachgefragt über die gesundheitliche, psychische und soziale Situation meines Vaters hat er nicht. Er attestierte meinem Vater einen ‹körperlichen Zerfall› (mein Vater hatte eine zunehmende Seh­schwäche und eine Schwer­hörigkeit und sonst keinerlei körperliche Beschwerden) und daher sei der Freitod ‹no problem›. Tatsächlich fiel der Ausdruck ‹no problem› mehrmals im Gespräch. Als ich ihn darauf ansprach, dass für mich das Gespräch sehr oberflächlich sei, meinte er, dass es für ihn schon nach 2 Minuten klar gewesen sei, dass dem Freitod nichts im Wege stehe. Er hätte da genügend Erfahrung. Mir gegenüber äusserte er sich abfällig, ich hätte jetzt ja noch ein paar Wochen Zeit zum Abschied nehmen und ohnehin hätte ich eben schon vorher die Beziehung mit dem Vater pflegen können. (…) Auch das Auftreten von Herrn Hauser am Todestag war komplett inadäquat. So erzählte er uns unter anderem von seinem morgendlichen Zahnarzt­besuch. Richtig aufgeblüht ist er beim Eintreffen der Polizei, da schien er seine Bühne zu haben.

Auf diesen Brief erhielt sie nie eine Antwort. Sie sagt, das Schweigen der Geschäfts­leitung von Exit verunmögliche es ihr noch heute, mit dem Tod ihres Vaters abzuschliessen: «Es bleibt etwas unerledigt.»

Konfrontiert mit diesen Vorwürfen, bringt der Medien­verantwortliche Jürg Wiler zunächst die Namen der Beteiligten durcheinander. Er schreibt, man habe schon vor dieser Beschwerde­mail alles mit Frau Frick schriftlich und telefonisch bereinigt und darum nicht mehr auf ihr Schreiben vom 15. Januar reagiert. Bereits hier gebe es also in diesem Fall «verschiedene Sicht­weisen, was ich als relevant erachte», so Wiler.

Auf die Verwechslung der Schwestern hingewiesen – es war nicht Julia Frick, die mit der Leiterin Freitod­begleitung kommuniziert hatte, sondern Rahel Berger –, argumentiert Wiler, die Leiterin Freitod­begleitung sei nach dem Gespräch mit Rahel Berger davon ausgegangen, dass diese ihre Schwester informiere: «Das ist offenbar nicht passiert. Das tut uns leid, denn hätten wir das gewusst, hätten wir Frau Frick sicher auch involviert.» Grundsätzlich nehme Exit «die wenigen Beschwerden sehr ernst», ergänzt Wiler. Bei 1200 Akten­eröffnungen erhalte man «maximal acht Beschwerden pro Jahr». Man versuche «wenn immer möglich mit den Beschwerde­stellern in Kontakt zu treten».

Sterbehelfer Martin Hauser, der seine Tätigkeit für Exit nach zwanzig Jahren alters­halber beendet hat, erklärte in einem Bilanz­interview mit der Hauszeitung «Exit-Info», wie wichtig es ihm gewesen sei, «den Entschluss der Sterbe­willigen zum Freitod sorgfältig zu prüfen», und dass «die intensiven Gespräche mit den Angehörigen – besonders beim oft stunden­langen Warten auf die Behörden» – seine «volle Aufmerksamkeit» beansprucht hätten.

Andreas Brunner beschäftigte sich als Ober­staatsanwalt des Kantons Zürich über Jahre mit dem Thema Sterbehilfe. Kürzlich trat der inzwischen pensionierte Jurist als Experte in einer Kantonsrats­kommission auf, die die Frage diskutierte, ob es auch assistierten Suizid in Alters- und Pflege­heimen geben dürfe – einem Gebiet, auf dem auch Exit Expansions­möglichkeiten sieht. Er halte Exit grundsätzlich für eine sinnvolle Organisation, sagt Brunner. Auch eine gute Bekannte von ihm sei auf diesem Weg aus dem Leben geschieden.

Wenn er nun den Fall Berger höre und in Beziehung zum «gewaltigen Wachstum» der Organisation stelle, frage er sich, ob Exit momentan noch allen Anforderungen an ein professionelles Qualitäts­management gerecht werden könne: «Der Geschäfts­druck steigt, es mangelt an Sterbe­helfern, nach denen man ständig suchen muss. Da besteht die Gefahr, dass es an Sorgfalt bei den Abklärungen und Begleitungen der einzelnen Fälle fehlt, weil das zu viel Zeit kosten würde.»

Brunner erinnert sich ans Jahr 2010, in dem Exit gemäss Jahres­bericht «die jährliche Anzahl Freitod­begleitungen pro Begleit­person im Sinne einer Richtgrösse auf ca. 12» festlegte und dazu schrieb: «Eine Begleit­person soll zwar genügend Erfahrung haben, aber nicht in blosse Routine abgleiten.» 2010 erfüllte die Organisation ihre Vorgabe: Ihre 22 Sterbe­helferinnen waren bei 257 assistierten Suiziden dabei. 2020 haben sich die einst freiwillig gesteckten Ziele verflüchtigt: Da führte ein Sterbe­begleiter durchschnittlich knapp 20 Begleitungen durch, dazu 5 oder 6 zusätzliche Akten­eröffnungen – «und all dies», so Brunner, «gegen eine Entschädigung von 650 Franken pro Fall unabhängig vom Aufwand». Das ergebe ein doch erkleckliches Neben­einkommen von rund 16’000 Franken.

Der ehemalige Staatsanwalt äussert weitere Vorbehalte: So gebe es für die derzeit sieben Suizid­hilfe­organisationen keinerlei gesetzliche Regelung. Das befremde ihn doch sehr angesichts des Schweizer Reglementierungs­eifers, der selbst vor Marroni­häuschen nicht haltmache: «Folglich gibt es auch keine Kontrolle von aussen, beispiels­weise in Form einer Ombuds­stelle, die auf Beschwerden wie jene der Bergers zwingend reagieren müsste.» Gesetz­geberische Leitplanken seien aber «in einem der sensibelsten Bereiche menschlichen Lebens, dem mit Unterstützung einer privaten Organisation selbst herbeigeführten Tod, unabdingbar».

Exit-Mediensprecher Jürg Wiler erwidert, die vierzigjährige Organisation sei mit ihren aktuell 47 Sterbe­helferinnen gut aufgestellt. Die Suche nach neuen Kräften diene in erster Linie dazu, Kollegen, die altershalber aufhörten, zu ersetzen. Man sei auch keineswegs überfordert von dem schnellen Wachstum: «Wir sind auf dem Weg von einer Pionier­organisation zu einer professionell geführten Organisation – und das fordert den Verein.»

Zur Autorin

Barbara Lukesch arbeitet seit vielen Jahren als freie Journalistin und Autorin. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben, zuletzt «‹Peter Schneider, wie wird eine Ehe schön?› Gespräche über Partnerschaft und Liebe». Daneben ist sie Dozentin an verschiedenen Fachhoch­schulen und an der Journalisten­schule MAZ.