Profitmaschine Pflegeheim
In Europa kaufen Konzerne und Finanzinvestoren Heime, setzen den Rotstift an und verstecken Gewinne vor dem Steueramt. Diese Entwicklung macht auch vor der Schweiz nicht halt. Mit drastischen Folgen für Angestellte und Bewohnerinnen.
Eine «Investigate Europe»-Recherche von Philipp Albrecht, Nico Schmidt, Harald Schumann (Text) und Flacoux (Illustration), 16.07.2021
Am schlimmsten ist, dass immer die Zeit fehlt. «Da habe ich das Gefühl, ich behandle die Leute nicht menschenwürdig, sondern nur noch im Akkord», sagt Aljoscha Krause, Altenpfleger im «Haus an der Ilmenau» in Lüneburg.
Das Heim, in dem Krause arbeitet, gehört seit fünf Jahren zu Korian, einem von Europas führenden Konzernen für Pflegeheime. Das Unternehmen spart an Arbeitskräften. Immer wieder gebe es «ein riesiges Loch in der Personalbesetzung», sagt Krause. «Dann müssen wir mehrere Schichten arbeiten, die psychisch und physisch katastrophal belastend sind.» Das mache manchen krank, «und das ist der Teufelskreis, weil dann noch mehr Kollegen fehlen».
Die Folgen tun auch ihm weh, weil die Heimbewohner darunter litten und schlecht versorgt würden. All das aus ganz profanen Gründen. Krause: «Korian versucht die Personalkosten zu drücken, um die Renditen zu steigern.»
Die gleiche Erfahrung machte auch die Pflegeassistentin Michaelle Rigodon im Pflegeheim «Anatole France» in der französischen Auvergne. Dort führt das Management von Orpea die Regie, dem Marktführer mit mehr als 1000 Einrichtungen im europäischen Geschäft mit der Altenpflege. «Die Bewohner werden behandelt wie Werkstücke in der Fabrik, alle sind in Eile. Viele Angestellte kündigen, weil sie es nicht ertragen», sagt Rigodon.
Auch sie musste wegen Krankheit aufgeben, berät als Gewerkschafterin aber weiter die Kolleginnen. Eine von ihnen beschrieb die Zustände unlängst in einem Brief an die Konzernführung: «Die Räume sind schmutzig, beim Essen muss es immer schnell gehen, serviert wird ohne Brot und Servietten, manche Bewohner tragen ihre Wäsche länger als eine Woche, die Familien sind unglücklich», zitiert Rigodon ihre Kollegin.
Das Management von Orpea hatte auf die Kritik nur eine Antwort: Die Kollegin wurde entlassen.
Ebenso hart geht es in dem Pflegeheim der spanischen Stadt Vigo zu, wo sich die Pflegerin Sonia Jalda 18 Jahre lang um die Seniorinnen kümmerte. Einst war es eine kommunale Einrichtung, aber vor 9 Jahren übernahm Domus Vi den Betrieb, ein weiterer internationaler Akteur im Geschäft.
«Als sie hier ankamen, haben sie sofort versucht, die Löhne zu drücken», erinnert sich Pflegerin Jalda. Für die Nachtschichten «sparen sie jetzt 40 Cent pro Arbeitsstunde», sagt sie. Das macht bei ihrem Heim 60’000 Euro im Jahr und für die 32 Heime des Unternehmens in Galizien fast zwei Millionen. Gleichzeitig spare Domus Vi an der hinreichenden Versorgung der Heimbewohner.
«Es geht nur ums Geschäft», sagt die Pflegerin.
Eine krisensichere Investition
Überarbeitete Pflegekräfte, vernachlässigte Heimbewohnerinnen, knallharte Konzernmanager: Quer durch Europa ist das die Realität von alten Menschen und ihren Angehörigen. Während es fast überall an Pflegekräften für die stetig wachsende Zahl an Bedürftigen fehlt, machen Unternehmen und Finanzinvestorinnen damit das grosse Geschäft. Wie passt das zusammen? Warum lassen die Regierungen das zu? Und mit welchen Folgen?
Diesen Fragen ist das Journalistenteam «Investigate Europe» von Portugal über die Schweiz bis Schweden nachgegangen und ist auf besorgniserregende Entwicklungen gestossen:
Ein stetig wachsender Teil der staatlichen Ausgaben für die Pflege fliesst in die Kassen transnationaler Unternehmen, die damit einen wichtigen Teil der sozialen Infrastruktur in ihren Besitz bringen.
Die 20 grössten Konzerne verwalten bereits 4700 Heime für mehr als 400’000 Pflegebedürftige.
Marktführer Orpea kündigt und bedrängt Angestellte, die für mehr Arbeitskräfte und bessere Bezahlung kämpfen.
Anonyme Finanzinvestorinnen übernehmen immer grössere Anteile am Pflegegeschäft und entziehen die mit öffentlichen Geldern erzielten Profite der Besteuerung, indem sie ihre Erlöse in Offshore-Zentren verschieben.
Die zunehmende Privatisierung geht in vielen Ländern einher mit Einsparungen beim Personal und Mängeln bei der Pflegequalität, aber die Regierungen lassen den Prozess ungebremst laufen und versagen vielerorts bei der Durchsetzung der Mindeststandards für die Pflege.
Dabei war die Altenpflege traditionell eine karitative Aufgabe für Kirchen und Gemeinden. Das änderte sich in den 1990er-Jahren, als der Bedarf nach Pflegeplätzen mit der alternden Gesellschaft stark anstieg. In vielen Ländern wuchs die Überzeugung, dass private Firmen öffentliche Aufgaben effizienter erledigen könnten als der Staat oder gemeinnützige Organisationen.
Bei anhaltenden Niedrigzinsen und mauen Wachstumsraten bietet die Pflegebranche den Investoren zudem eine einzigartige Konstellation: Der Markt wächst unablässig, und der wichtigste Kunde ist der Staat, der selbst in Krisenzeiten immer zahlt. Mit über 220 Milliarden Euro im Jahr beteiligen sich die EU-Staaten sowie Grossbritannien, Norwegen und die Schweiz nach Angaben der OECD an den Kosten für die Pflege. Weitere 60 Milliarden Euro steuern die Pflegebedürftigen aus eigener Tasche bei.
Und es wird jedes Jahr mehr. «Die rasche Alterung der Bevölkerung in ganz Europa wird langfristig der grösste Wachstumstreiber für den Pflegeheimmarkt sein», preist die Unternehmensberatung Knight Frank den Boom.
Ich will es genauer wissen: So viel kostet die Altenpflege in der Schweiz
Die Gesamtkosten für die Heimpflege steigen seit Jahren kontinuierlich, zuletzt auf 10,5 Milliarden Franken im Jahr 2019. Bezahlt wird das durch die Krankenkassen, die öffentliche Hand und die Pflegebedürftigen. Ein Tag im Pflegeheim kostet im Schnitt 307 Franken. Davon sind 172 Franken sogenannte Pensionskosten wie Zimmer, Essen, Reinigung und Alltagsgestaltung. Sie werden von den Bewohnerinnen bezahlt. Wenn das Ersparte nicht reicht, springt der Staat mit Ergänzungsleistungen ein. Die übrigen 135 Franken betreffen Pflege, medizinisches Material und Medikamente. Dieser Anteil wird wiederum von den Krankenkassen (48 Prozent), Kantonen und Gemeinden (38 Prozent) sowie den Bewohnern übernommen (14 Prozent).
Die Kosten werden für alle Träger zunehmend zum Problem. Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen beziehen Ergänzungsleistungen, weil sie sich die Heimkosten nicht mehr leisten können. Weil die Kosten der Krankenkassen gedeckelt wurden, um ein noch stärkeres Ansteigen der Prämien zu verhindern, müssen die Städte und Gemeinden einspringen, die deswegen aber selber an ihre Grenzen gelangen. Sie fordern, dass die Krankenkassen mehr bezahlen. Die Politik sucht nach Lösungen.
Nach Schätzungen der EU-Kommission werden sich die Kosten für die Langzeitpflege in Europa von derzeit 1,7 Prozent auf 3,9 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2070 mehr als verdoppeln. Das mache das Geschäft völlig krisensicher, erklärt Matthias Gruss, Fachmann für die Pflegebranche bei der deutschen Gewerkschaft Verdi. «Wenn die Pflegekassen blank sind, zahlt notfalls der Steuerzahler, es wird nie einen Zahlungsausfall geben», sagt er. «Weil es einen sicheren Cashflow gibt, ist es für Investoren so attraktiv.»
In der Folge rollen die Konzerne nach und nach den Markt in Europa auf. Während in der Schweiz erst geschätzte 13 Prozent aller Alters- und Pflegeheime von gewinnorientierten Besitzerinnen geführt werden, beträgt dieser Anteil in Deutschland bereits 43, in Grossbritannien 76 und in Spanien sogar über 80 Prozent.
Allein in den letzten vier Jahren steigerten die 25 führenden Unternehmen ihre Kapazität um 22 Prozent – für die Anleger ein blendendes Geschäft. Bei Marktführer Orpea hat sich der Aktienkurs seit 2015 verdoppelt.
Dauernotstand in den Heimen
Dieser Vormarsch der Investorinnen trifft einen Sektor mit «unzureichender Personalausstattung, schlechter Arbeitsqualität und fehlenden Qualifikationen, die auf Kosten der Pflegequalität und der Sicherheit gehen», schrieben die Autoren einer Studie für die OECD.
Den lange verdrängten Pflegenotstand rückte die Corona-Pandemie europaweit mit Macht in die öffentliche Wahrnehmung. Fast die Hälfte aller Covid-Toten während der ersten beiden Infektionswellen in Europa waren Bewohnerinnen von Altenheimen, auch weil es an Personal fehlte, um schnell die nötigen Vorsorgemassnahmen zu treffen.
Der Anspruch der neuen internationalen Pflegekonzerne auf Rendite verschärft diese Not. Wie viel von den Einnahmen dadurch abfliesst, lässt sich zumeist nicht genau beziffern, weil die Daten über die tatsächlichen Zahlungen nicht transparent sind. Einen Hinweis liefert eine Studie der unabhängigen Denkfabrik CHPI in Grossbritannien. Demnach erzielen die privaten Heimbetreiber dort Gewinne von über einer Milliarde Euro im Jahr, dies entspricht rund 10 Prozent der Umsätze. Geld, das für mehr Personal und damit eine bessere Versorgung fehlt.
Das spüren die Pflegearbeiter bei den grossen Ketten jeden Tag. Nach der Erfahrung von Expertinnen machen die Personalkosten in gut geführten Pflegeheimen rund 70 Prozent der Einnahmen aus. Die marktführenden Konzerne wie Orpea und Korian veranschlagen in ihren jüngsten Konzernbilanzen dagegen lediglich 50 bis 55 Prozent. Möglich sei das nur, «wenn sie unter Tarif bezahlen und die Fachkraftquote auf dem untersten gesetzlich vorgeschriebenen Niveau halten», vermutet Harry Fuchs, Professor für Verwaltungswissenschaft und langjähriger Kenner der Pflegefinanzierung.
Rémi Boyer, Personalchef des Korian-Konzerns in Paris, winkt ab. «Das ist Vergangenheit», sagt er. «Die Personalkosten steigen auf jetzt 58 Prozent, und sie wachsen weiter», sagt Boyer im Gespräch mit «Investigate Europe». Überprüfen lässt sich das nicht.
Die Erfahrungen von Korian-Pfleger Krause in Deutschland und Kolleginnen aus weiteren Korian-Heimen in Frankreich und den Niederlanden stünden dem entgegen, berichtet ein Mitglied des europäischen Betriebsrates. «Die Kollegen dort kriechen auch auf dem Zahnfleisch.» Zu diesen Vorwürfen räumt Boyer ein: «In einem grossen Netzwerk könnten Mängel bei der Qualität geschehen.» Man bearbeite jedoch alle Beschwerden «schnell und nachhaltig», und im Übrigen verstehe sich das Unternehmen als «Teil der gemeinsamen Mission» zur Verbesserung der Pflege. Bei Korian habe man derzeit 0,68 Vollzeitkräfte pro Bett, was recht gut sei.
Erik Hamann, Chef von Orpea Deutschland, hält den niedrigen Anteil der Personalkosten am Umsatz seines Unternehmens für harmlos: «Wir machen nur mehr Umsatz als andere.» Sein Unternehmen biete Komfortzimmer und andere Zusatzleistungen, «dafür zahlen unsere Bewohner mehr», sagt er. Dass das die niedrige Quote für Personalausgaben erklärt, belegt das Unternehmen aber nicht. Die Erzählungen von Mitarbeiterinnen und Bewohnern in Orpea-Heimen wecken Zweifel.
«Bei uns ist Dauernotstand», sagt etwa eine Pflegerin aus einem Orpea-Heim in Minden im Bundesland Nordrhein-Westfalen. «Die Leute sind so überarbeitet, dass Medikamente stehen bleiben, weil vergessen wurde, sie zum Abend zu geben. Die Leute können sich nicht mehr konzentrieren, weil es so wenig Personal gibt. Unsere Krankheitsrate ist hoch. Die reiben sich auf, und irgendwann können die nicht mehr», sagt sie. «Es müsste verboten werden, dass solche Konzerne soziale Einrichtungen aufkaufen dürfen.»
Konfrontiert mit diesem Vorwurf, versichert Orpea-Deutschland-Chef Hamann, er werde dem nachgehen, sobald er die Einrichtung benannt bekomme, so wie bei «jeder Beschwerde, die über meinen Tisch geht». Im Monat seien das aber nur 5 Beschwerden bei 10’300 Mitarbeitenden.
Nach Beschwerden von Mitarbeitern entdeckten die Behörden grobe Verfehlungen bei einem Orpea-Heim im österreichischen Kirchberg. Demnach erfüllte die Einrichtung nicht den geforderten Mindestpersonalschlüssel. Allein im August 2020 fehlten 620 Arbeitsstunden von Pflegefachfrauen und Pflegehelfern zum Mindestsoll. Bewohnerinnen seien «systematisch in die Inkontinenz gedrängt worden», weil kein Toilettentraining mit ihnen durchgeführt worden sei, befanden die Prüfer. Auch wurden Patientinnen einfach mit Infusionen versorgt, statt dass sie zum Trinken angehalten worden wären. Die Gutachterin schreibt von einer «ernsthaften Gefahr für das Leben der Bewohner» und «gefährlicher Pflege». Im Fall einer 93-jährigen Bewohnerin, deren Pflegebedürftigkeit über Jahre falsch eingeschätzt wurde, spricht die Sachverständige sogar von einem «entmenschlichten Desaster».
Senecura, eine Tochter von Orpea, räumte ein, es habe «zeitweise» an Personal gemangelt, aber seit März würden die gesetzlichen Vorgaben wieder erfüllt.
Ähnliche Erfahrungen machen Pflegerinnen in der Schweiz, wo Orpea unter dem Namen Senevita 30 Einrichtungen betreibt. Hier seien «die Arbeitsbedingungen im Vergleich zu anderen Heimen eher auf tiefem Niveau, und man arbeitet mit knapperem Personalbestand», sagt Samuel Burri, Co-Branchenleiter Pflege bei der Gewerkschaft Unia. Eine Pflegerin, die ein paar Monate in einem Zürcher Senevita-Heim gearbeitet hat, spricht von enormem Stress: «Unter dem Zeitdruck werden vor allem demenzkranke Heimbewohner benachteiligt, da sie ja ohnehin alles wieder vergessen.» Die Senevita-Verantwortlichen hätten nur die Zahlen im Fokus: «Man spürt das täglich: Es geht nur darum, dass sie Geld verdienen.»
Das Unternehmen hält diesbezüglich fest: «Senevita ist sich bewusst, dass die Betreuung von Demenzkranken eine besonders anspruchsvolle Aufgabe ist. Mitarbeitende (…) werden daher in diesem Fachbereich laufend weitergebildet.» Ausserdem würden interne Mitarbeiterumfragen «generell ein positives Bild bezüglich der Arbeitnehmerzufriedenheit» zeichnen. Einblick in diese Umfragen gewährt Senevita nicht.
Ich will es genauer wissen: So tickt die Schweizer Orpea-Tochter Senevita
1989 in Bern gegründet und 2014 von Orpea übernommen, beschäftigt Senevita heute 4300 Angestellte an 30 Standorten. 2016 setzte die Kette laut Orpea 100 Millionen Euro um. Inzwischen werden keine Umsatzzahlen mehr kommuniziert. Senevita ist heute die zweitgrösste Schweizer Pflegeheimkette. Grösser ist nur noch Tertianum – mit 80 Standorten und 4900 Angestellten. Die ehemalige Tochter der Immobiliengesellschaft Swiss Prime Site gehört seit Ende 2019 der Zuger Private-Equity-Firma Capvis. Auch zu Tertianum gab es Berichte über negative Auswirkungen des Renditedrucks, jedoch nicht in dem Ausmass wie bei Senevita.
Im Dezember 2017 berichteten Angestellte aus einem Senevita-Pflegeheim bei Basel gegenüber SRF von «unwürdigen und desaströsen Zuständen» insbesondere in Bezug auf die Hygiene. Pflegende und Angehörige gaben den Sparmassnahmen und dem damit verbundenen Personalmangel die Schuld.
Ein Jahr später erzählten ehemalige Pflegekräfte aus 7 Senevita-Heimen der «NZZ am Sonntag» von Führungsproblemen, permanentem Spardruck, Mobbing und häufig krankgeschriebenem Personal. Zwar seien auf dem Papier die Vorschriften der Behörden zur Mindestanzahl von Pflegekräften eingehalten worden, effektiv habe aber oft zu wenig Personal in den Heimen gearbeitet, weil sich regelmässig zu viele Mitarbeiterinnen krankgemeldet hätten. Mit den Vorwürfen konfrontiert, sprach der damalige Senevita-Chef lediglich von einzelnen Standorten, an denen es Probleme gebe, «vor allem nach Übernahmen und Neueröffnungen».
Die Kritik am Profitdenken des Mutterkonzerns ist seither nicht leiser geworden. Inzwischen setzt ein besonders lukrativer Geschäftszweig das Personal zunehmend unter Druck: die Vermietung von Alterswohnungen, die den Heimen angegliedert sind. Hier residieren vermögendere Bewohnerinnen, die ihren Alltag noch eigenständig bewältigen können und bei Bedarf Spitex-Leistungen aus dem Heim beziehen.
Solche Wohnungen würden vermehrt zweckentfremdet, sagt eine Pflegerin: «Die Senevita-Leitung vergibt viele Alterswohnungen an Leute, die sehr pflegebedürftig sind und eigentlich ins Heim gehören.» Die Unternehmensleitung, die weit weg vom Pflegealltag in den Heimen sei, schaue zu sehr auf die Zahlungsbereitschaft der Angehörigen statt auf den Gesundheitszustand der Bewohner. Leidtragende seien die Pflegenden: Anstatt diesen Bewohnerinnen nur Medikamente vorbeizubringen oder beim Strümpfeanziehen zu helfen, müsse das Heimpersonal bei ihnen häufig aufwendige Pflegeleistungen erbringen. Als Konsequenz fehlten die Pfleger im Heim, der Personalmangel verstärke sich.
Senevita schreibt dazu: Der Entscheid, ob jemand ins Pflegeheim oder in eine Alterswohnung ziehe, werde nicht von Senevita getroffen, sondern von den Senioren gemeinsam mit den Angehörigen, der Hausärztin und der Krankenkasse. Zudem beeinflussten die Spitex-Dienstleistungen in den Wohnungen die Arbeitsplanung nicht negativ.
Die Berichte über die Arbeitszustände decken sich mit den Ergebnissen der Umfrage, welche die britische Sozialwissenschaftlerin Jane Lethbridge unter Orpea-Beschäftigten durchführte. Demnach «gibt es ein ständiges Problem der Unterbesetzung» in vielen Einrichtungen des Konzerns. In Deutschland, Spanien und Italien sei zudem ein Viertel der Belegschaft nur befristet angestellt. Ausserdem zähle der Konzern häufig die Verwaltungs-, Reinigungs- und andere Arbeitskräfte zum Pflegepersonal dazu, um so die gesetzlichen Vorschriften zu erfüllen. «Das verschleiert das Ausmass der Unterbesetzung mit Pflegekräften», sagt Lethbridge.
Hausverbot für die Gewerkschaft
Aber wehe denen, die sich wehren. Diese Erfahrung machen Arbeitnehmervertreterinnen in Frankreich schon seit langem. Wie weit der Konzern da geht, erfuhr die Gewerkschaft CGT im Jahr 2013. Damals stellte sich heraus, dass Orpea drei Männer anheuern liess, die zum Schein der Gewerkschaft beitraten, um die Aktivistinnen aus der Orpea-Belegschaft auszuforschen. Deren Enttarnung hatte nur deshalb keine rechtlichen Folgen, weil die Gewerkschaft eine Klagefrist versäumte.
Bis heute müssen Gewerkschafter bei Orpea mit harten Bandagen kämpfen. «Wenn du Vertreter für die Arbeitnehmer bei Orpea bist, dann verwandeln sie deine soziale Umgebung in eine Wüste», erzählt der CGT-Aktivist Philippe Gallais, der 20 Jahre in einer Orpea-Einrichtung arbeitete, bis er vergangenes Jahr aufgab. «Erst haben sie mir die Aufgaben als Pfleger entzogen und mich beruflich disqualifiziert, dann sagten sie den Kolleginnen, sie sollten sich von mir fernhalten, und irgendwann war ich völlig isoliert.» Eine ehemalige Managerin eines weiteren Orpea-Heims bestätigte im Gespräch mit «Investigate Europe», dass sie ausdrücklich angewiesen wurde, solche Mobbingtaktiken gegen unerwünschte Mitarbeitende anzuwenden. Der Konzern bestreitet diesen Vorwurf und versichert, alle Manager seien zur Gleichbehandlung aller Mitarbeitenden aufgefordert.
In Polen wiederum versuchte der Konzern im Jahr 2019 die Betriebsratsvorsitzende einer Einrichtung in der Kleinstadt Konstancin nahe Warschau loszuwerden. Die Vorwürfe lauteten damals, die Pflegerin habe ihre Mitarbeitenden gemobbt. Ausreichend belegen konnte Orpea das offenbar nicht. Denn im Frühling dieses Jahres kassierte ein Warschauer Arbeitsgericht die Kündigung. Der Konzern musste die Pflegerin wieder einstellen. Aber die abschreckende Wirkung bleibt.
Ganz ähnlich agiert der Konzern auch in Deutschland. Derzeit betreibt er gegen die Vorsitzenden zweier regionaler Betriebsräte für Orpea-Heime in Bremen und Niedersachsen mehrere Verfahren, um deren «fristlose Kündigung» durchzusetzen. Sie sollen Urkundenfälschung und Arbeitszeitbetrug begangen haben. Die Vorwürfe seien aber «völlig unsubstanziell» und «der Versuch, Betriebsräte zu kriminalisieren», sagt deren Anwalt, Michael Nacken. Prompt wies Ende April eine Arbeitsrichterin zwei der Fälle aus Mangel an Beweisen zurück. Aber Orpea legte noch im Gerichtssaal nach: Der Konzernanwalt hat angekündigt, man ziehe eine «lückenlose Überwachung» der Betriebsräte während der Arbeitszeit mithilfe einer Detektei in Betracht. Orpea-Deutschland-Chef Hamann wollte sich zum laufenden Verfahren nicht weiter äussern.
Im ostfriesischen Leer wiederum versuchte das Unternehmen, die Gründung eines Betriebsrats gleich ganz zu verhindern. Als ein Gewerkschafter die Mitarbeiterinnen in der Einrichtung entsprechend beraten wollte, erteilte ihm die Geschäftsführung kurzerhand Hausverbot. Der Gewerkschafter sei «ohne Anmeldung gekommen und habe Plakate aufgehängt», das sei unzulässig, begründet Manager Hamann das Verbot. Als es schliesslich doch zur Wahlversammlung gekommen sei, hätten die Manager zwei Anwälte zur Beobachtung geschickt, berichtet eine Anwesende.
Dass sich die Beschäftigten organisieren, ist in der Pflegebranche noch immer die Ausnahme. In der Schweiz sind nach Schätzung der Unia nur 7 Prozent der Angestellten gewerkschaftlich organisiert. In Deutschland haben nur 10 Prozent der Heime einen Betriebsrat. «Wir reden uns den Mund fusselig, um zu erklären, dass sie sich organisieren müssen», sagt Matthias Gruss, der für Verdi die Pflegebranche betreut. Aber den Pflegekräften fehlten einfach «die Tradition und das Wissen über ihre Rechte».
Tummelfeld für Finanzjongleure
Von dieser Schwäche profitieren erst recht die anonymen Finanzinvestoren, die seit ein paar Jahren mit Macht in das Pflegegeschäft drängen. Diese Private-Equity-Gesellschaften, die Kritikerinnen auch als «Heuschrecken» bezeichnen, kaufen Unternehmen mit dem Ziel, deren Wert durch Sparen und Expansion auf Pump so weit zu steigern, dass sie nach ein paar Jahren mit hohem Gewinn weiterverkauft werden können. Das nötige Kapital sammeln sie bei Privatanlegern und institutionellen Investoren wie Versicherungen und Pensionskassen ein, verbunden mit dem Versprechen hoher zweistelliger jährlicher Renditen.
Der prominenteste Fall ist das Unternehmen Domus Vi mit Sitz in Paris. Es ist heute mit 354 Heimen in 5 EU-Staaten das drittgrösste Unternehmen der Branche in Europa. Bereits 2014, damals nicht mal halb so gross, übernahm die französische Private-Equity-Gesellschaft Pai die Kette für 639 Millionen Euro. Nur drei Jahre später reichte Pai diese weiter an die britische Intermediate Capital Group (ICG), jetzt aber zum vierfachen Wert von 2,4 Milliarden Euro. Hinter der wundersamen Geldvermehrung steckt ein System, das Managerinnen gerne financial engineering nennen. Tatsächlich handelt es sich um ein riskantes Spiel mit hoher Verschuldung.
Damit das funktioniert, muss das gekaufte Unternehmen zuverlässige Erlöse generieren, mit denen sich die Kredite bedienen lassen. Und genau das bieten die staatlichen Zahlungen für die Pflegekosten. Während die Einnahmen aus staatlichen Kassen stammen, schleusen die Private-Equity-Investoren ihre Gewinne über verschachtelte Firmenkonstrukte in Steueroasen. Der Fiskus geht immer leer aus.
So auch bei Domus Vi. Zwischen den Heimbetrieben und den Fonds von ICG stehen nicht weniger als 11 Zwischeneigentümer, wie das spanische Magazin «Info Libre» recherchierte, das mit «Investigate Europe» kooperiert. Im Zentrum operiert die in Frankreich registrierte Firma Kervita, der die Erlöse aus den Heimbetrieben zufliessen. Diese zeichnete im Zuge des ICG-Deals bei zwei Luxemburger Gesellschaften namens Topvita Kredite in Höhe von 640 Millionen Euro zu exorbitanten Zinsen von 9,2 bis 11 Prozent. Aufgrund der hohen Kreditkosten macht der Domus-Vi-Konzern stets Verluste und muss keine Steuern zahlen.
Die Luxemburger Kreditgeber sind jedoch ihrerseits bei den eigentlichen Investoren verschuldet, den Fonds der Private-Equity-Gesellschaft ICG. Deren Erlöse wiederum fliessen dem ICG Europe Fund VI zu, der im steuerfreien Jersey residiert.
Alle Fragen von «Investigate Europe» zu dieser Konstruktion liess das Unternehmen unbeantwortet.
Und das ist nur ein Fall von vielen. Die Recherchen zeigen, dass mindestens 30 verschiedene Private-Equity-Firmen im europäischen Altenpflegemarkt operieren. Zusammen besitzen sie 2834 Altenheime mit knapp 200’000 Plätzen, davon rund 57’000 allein in Deutschland.
Hier drehen die Finanzingenieure der schwedischen Private-Equity-Firma Nordic Capital das grösste Rad. Sie kauften 2017 das Pflegeunternehmen Alloheim vom amerikanischen Finanzinvestor Carlyle und sind damit schon der dritte Private-Equity-Fonds, der Deutschlands zweitgrösste Altenheim-Kette mit Sitz in Düsseldorf führt. Für die mehr als 200 Einrichtungen zahlten die Investorinnen 1,1 Milliarden Euro. Anschliessend firmierte Alloheim unter dem Namen Cidron Atrium und hat seitdem gemäss Bilanz 2019 mehr als 1,3 Milliarden Euro Schulden, für die 79 Millionen Euro im Jahr fällig werden.
Volle 500 Millionen Euro davon schuldet Alloheim dem in der Bilanz genannten einzigen Gesellschafter, der Luxemburger Cidron Kuma 2. Dieser kassiert dafür einen extrem hohen Zins von 9,1 Prozent. Darum fliessen 45,5 Millionen Euro der jährlichen Einnahmen von Alloheim nach Luxemburg ab. So steht es in der Konzernbilanz 2019.
Cidron Kuma wiederum gehört über zwei weitere Zwischengesellschaften mehreren Fonds von Nordic Capital, die in der Steueroase Jersey residieren. Auf Nachfrage erklärt das Unternehmen jedoch, Alloheim leiste «keine wie auch immer gearteten Zahlungen an die Gesellschafter». Zu weiteren «Details der Unternehmensfinanzierung» wolle man sich aber «grundsätzlich nicht äussern». Anders als bei den Marktführern Orpea und Korian lehnten die verantwortlichen Manager bei Nordic Capital und Alloheim ein Interview ab, sie beantworteten nur schriftliche Fragen.
Das Verblüffende ist: Auch die zuständigen Behörden haben keine Ahnung, wie hoch der Anteil der Erlöse ist, den die Investoren als Gewinn vereinnahmen. Und das, obwohl der ganz überwiegende Teil ihrer Umsätze von den Krankenversicherungen und den kommunalen Sozialämtern bezahlt wird, also von Beitrags- und Steuerzahlern.
Gleichzeitig beschäftigen die Finanzjongleure oft nur so viele Pflegekräfte wie gesetzlich vorgeschrieben. Alloheim verwendet nach eigenen Angaben 60 Prozent der Einnahmen für das Heimpersonal. Das liege im branchenüblichen Rahmen, erklärt das Unternehmen. Den von Branchenexperten genannten Vergleichswert von 70 Prozent wies Alloheim als «nicht von Fakten gedeckt» zurück.
Gleichwohl wird immer wieder über schwere Pflegemängel aus den Heimen der Kette berichtet. Seit 2016 verhängten die Behörden bei gleich 10 Einrichtungen des Konzerns einen Aufnahmestopp oder ermittelten wegen Mängeln bei Führung und Qualität. Für Alloheim sind das Einzelfälle: «Bezogen auf die Gesamtzahl der von uns betriebenen Einrichtungen kam es im Vergleich zum Branchendurchschnitt zu keiner Häufung amtlich dokumentierter Pflegemängel», sagt ein Konzernsprecher.
Zuletzt traf es zwei Heime der Kette im nordfriesischen Bredstedt, wo die Pandemie 18 Heimbewohnern den Tod brachte. Dabei kam heraus, dass die Aufsicht dort schon vor Corona «wiederholt festgestellt hatte, dass die Fachkräftequote nicht eingehalten wurde», wie eine Behördensprecherin den «Husumer Nachrichten» bestätigte. Als dann mehrere Mitarbeiterinnen in Quarantäne gehen mussten, gab es keine Reserven, die Zustände wurden unhaltbar. «Wir waren teilweise nur zu zweit hier», erzählte eine Mitarbeiterin der Reporterin Jonna Lausen.
Alloheim weist die Schuld dafür den Behörden zu. Diese hätten «zweimal binnen eines Monats das gesamte Personal der Einrichtung mit sofortiger Wirkung in Quarantäne geschickt», schrieb ein Sprecher. «Mit enormem Aufwand» sei es dennoch gelungen, kurzfristig qualifiziertes Ersatzpersonal in ausreichender Anzahl zu stellen. Die Kreisbehörde verordnete gleichwohl einen «Personalschlüssel über dem Mindestmass», und das Unternehmen habe versprochen, das werde «vollumfänglich umgesetzt».
Weitere Folgen hatte dies nicht. Auch weil den Kommunen die Mittel für eine seriöse Heimaufsicht fehlen.
Widerstand in Norwegen und Österreich
Gewinnmaximierung für Finanzinvestoren, Mangel an Pflegekräften und fehlende Aufsicht – das spiegelt wider, wie Regierungen vieler Länder die Versorgung für alte Pflegebedürftige vernachlässigen.
Aber es gibt auch Gegenbewegungen. So schrieb die Landesregierung von Burgenland in Österreich schon 2019 gesetzlich fest, dass alle Altenheime spätestens ab 2024 nur noch von gemeinnützigen Gesellschaften betrieben werden dürfen. Pflege sei «Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge, so wie medizinische Versorgung, Kinderbetreuung und Bildung», sagt der zuständige Landesrat Leonhard Schneemann: «In diesem höchst sensiblen Bereich hat das Prinzip der Gewinnmaximierung nichts verloren.»
Das machen viele sozialdemokratisch geführte Kommunen in Norwegen genauso. Nach Auslaufen der Versorgungsverträge mit privaten Heimbetreibern gestanden etwa Oslo, Bergen und Stavanger diesen keine Verlängerung zu und übernahmen die Heime in eigene Regie. Unternehmen seien gut für die Gesellschaft, «aber sie sind gefährlich, wenn sie Pflegedienste betreiben», sagt Robert Steen, Vizebürgermeister von Oslo. «Letztlich ist ihr Hauptzweck, Profit für ihre Eigentümer zu machen, nicht Pflege anzubieten.»
Der schwedische Pflegekonzern Attendo gab daraufhin den norwegischen Markt gleich ganz auf. Sein Konkurrent Norlandia warnte seine Aktionäre vor dem «politischen Risiko».
So schnell kann das staatsfinanzierte Geschäftsmodell Altenpflege ein Ende finden.
In einer früheren Version schrieben wir von 0,68 Prozent Vollzeitkräften pro Bett. Richtigerweise muss das Prozent weg, es sind 0,68 Vollzeitkräfte pro Bett. Wir bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.
«Investigate Europe» ist ein Team von Journalistinnen aus 11 Ländern, das gemeinsam Themen von europäischer Relevanz recherchiert und die Ergebnisse in Medien in ganz Europa veröffentlicht.
Hauptautoren des vorliegenden Artikels sind Harald Schumann und Nico Schmidt. Die Informationen aus der Schweiz trug Philipp Albrecht zusammen.
Recherchiert haben zudem: Wojciech Cieśla, Ingeborg Eliassen, Juliet Ferguson, Attila Kálmán, Nikolas Leontopoulos, Anne Jo Lexander, Maria Maggiore, Stavros Malichudis, Sigrid Melchior, Leïla Miñano, Paulo Pena, Elisa Simantke, Eelke van Ark, Manuel Rico, Gerlinde Poelsler und Jef Poortmans.
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