Den hätte man nie sprechen lassen dürfen! Nie!
Von dieser EM bleibt: Freude über die Qualität des Fussballs. Und Streit über das Niveau der Kommentatoren. Wie steht es eigentlich um den Sportjournalismus?
Von Mämä Sykora (Text) und Nadine Redlich (Illustration), 09.07.2021
Das Schweizer Fussballnationalteam hat es geschafft: Der Höllenritt, der es erstmals in der Geschichte in die EM-Viertelfinals trug (und von dort um ein Haar noch weiter), hat die kritischen Stimmen verstummen lassen. Lobeshymnen erklingen im Land, es gibt keine zwei Meinungen mehr bei der Beurteilung der Leistungen von Trainer Vladimir Petkovićs Team.
Sehr unterschiedlich wird hingegen die mediale Begleitung des Triumphs im Nachgesang beurteilt. Dies zeigt sich exemplarisch am Beispiel von SRF: Die eine Hälfte feiert die emotionale Berichterstattung des Schweizer Fernsehens, der anderen Hälfte fehlten in den vergangenen EM-Wochen der Respekt, die journalistische Distanz und die fachliche Kompetenz.
Die Diskussion, die sowohl unter den Fans wie über Meinungsartikel in den Medien geführt wurde und sogar Redaktionen spaltete, gipfelte in der Frage: Steht es wirklich so schlecht um den Sportjournalismus, dass er fast ebenso viel Gesprächsstoff liefert wie der historische Erfolg der Nationalmannschaft?
Die Verlierer der digitalen Revolution
Jahrzehntelang genossen die Aushängeschilder des Sportjournalismus einen exzellenten Ruf. «Grands Messieurs» wie Walter Lutz, Jacques Ducret oder Sepp Renggli beschrieben in Zeitungen und erzählten im Radio den Schweizerinnen in blumigen Worten von Radrennen in Frankreich oder Fussballpartien in England. Ihre Arbeit wurde geschätzt, die Reichweite war allerdings gering. Der Sport fristete damals ein stiefmütterliches Dasein.
Es war eine Zeit, in der Sportler sich noch nicht in abgeschotteten Blasen bewegten – die allermeisten gingen daneben noch einem «normalen» Beruf nach –, vor Interviews keine Medienschulungen zu absolvieren hatten und auf keine Sponsorenverpflichtungen Rücksicht nehmen mussten. Sie erzählten den Sportjournalisten, zu denen sie meist ein enges Verhältnis pflegten, frei von der Leber weg ihre Ansichten. Bloss: Kaum jemand interessierte sich dafür. Was Köbi Kuhn zu seiner Aktivzeit für ein Auto fuhr, war ebenso wenig Thema wie das, ob Kubilay Türkyilmaz die Schweizer Nationalhymne mitsang. In den Medien ging es beim Thema Nationalmannschaft um das, wofür sie eigentlich da ist: das Fussballspielen.
Heute erreichen Nachrichten über Sport generell und Fussball im Besonderen ein massiv grösseres Publikum – und die Arbeit der Sportjournalistinnen hat sich stark verändert.
In der digitalen Revolution bleibt in den Medien kaum ein Stein auf dem anderen. Besonders hart traf es die Sportredaktionen. Bis zur flächendeckenden Verbreitung des Internets war die Aufgabe der Sportjournalisten hauptsächlich, Ereignisse möglichst deskriptiv wiederzugeben, beim Fussball etwa in Form von langen Matchberichten. Heute braucht sich niemand mehr am Folgetag beschreiben zu lassen, wie ein Tor im Spitzenspiel YB gegen Basel entstanden ist, denn bereits Minuten nach dem Schlusspfiff sind Videozusammenfassungen auf allen Kanälen zu sehen. Alles Diskussionswürdige ist bereits abgehandelt, bevor die Druckpressen der Zeitungen überhaupt angelaufen sind.
Die Folge: Allerorts schrumpften die Sportbünde auf einige wenige Seiten, die Sportjournalistinnen mussten sich neu orientieren.
Überfordert von der Wucht der Daten
«Jede Scheiss isch e Chance», singt der St. Galler Liedermacher Stahlberger. Die Lücke, die durch das Wegfallen der schnöden Nacherzählung von Sportereignissen entstanden ist, füllten ambitionierte (und mehrheitlich jüngere) Journalisten bald mit ausführlichen Analysen und Hintergrundberichten. Dafür greifen sie nun auch vermehrt auf die Mittel zurück, welche die Digitalisierung bietet. Eine wahre Datenflut hat in den letzten Jahren den Sport überrollt. Was mit der Vermessung von Baseballspielen durch den US-Statistiker Nate Silver auf «FiveThirtyEight» angefangen hat, schwappte bald auf alle grossen Sportarten über.
Mittlerweile wird auch jeder Fussballmatch in seine Einzelteile zerlegt, von jedem Spieler sind Laufwege, Zweikampfwerte und bevorzugte Schusspositionen bekannt. Dass dies mehr als bloss Spielereien sind, bewies nicht zuletzt der dänische Verein FC Midtjylland. Unter Eigentümer Matthew Benham, einem Oxford-Abgänger und Unternehmer, setzte der Verein ganz auf Statistiken und berechnete Wahrscheinlichkeiten. Bei Kaderzusammenstellung wie Cornervarianten wird auf der Grundlage von Daten entschieden. Mit durchschlagendem Erfolg: Seit der Übernahme durch Benham 2014 wurde der kleine Club dreimal Meister und spielte in der Champions League.
Der FC Midtjylland mag ein Extremfall sein, doch «Big Data» ist überall ein grosses Thema. Die «Verwissenschaftlichung» hat den Fussball deutlich komplexer gemacht. Neuartige taktische Mittel erobern beinahe im Jahrestakt die Rasenfelder. Im Februar meinte ein Journalist gegenüber Robert Klauss, dem Trainer des deutschen Zweitligisten Nürnberg, nach einer Niederlage, er habe keinen Matchplan erkennen können. Die Antwort von Klauss: «Wir sind in einem 4-2-2-2 auf Pressinglinie eins angelaufen. Wir wollten nach Ballgewinn über den ballfernen Zehner umschalten. Wir sind in Ballbesitz in eine Dreierkette abgekippt mit einem asymmetrischen Linksverteidiger und einem breit ziehenden linken Zehner.» Ein klarer Seitenhieb in Richtung Journalisten, die nach Klauss’ Meinung nicht genügend informiert seien.
Sportjournalistinnen, die auf Ballhöhe bleiben wollen, kommen nicht umhin, sich fast ebenso tief in die Materie zu knien, als wollten sie einen Trainerschein machen. Einige nehmen diesen Aufwand bereitwillig auf sich, erklären der Leserschaft Spielverläufe und Tabellenlagen anhand von expected goals und «Restverteidigung» und untermauern ihre Aussagen mit Daten. Nicht alle Kollegen kommen da mit. Sie nennen als Gründe für Niederlagen weiterhin «fehlende Motivation» oder «mangelnden Einsatz».
Skandälchen schlagen Fachwissen
Diese Trennung ist nicht nur bei den Sportjournalistinnen, sondern auch beim Publikum zu beobachten. Gerade in der Schweiz, die nicht eben als Fussballland gilt. Viele Fans fühlen sich von dieser tiefgründigeren Art der Berichterstattung nicht mehr abgeholt. Einfacher zugängliche Themen finden sie beim Boulevard, wo das genaue Gegenteil angeboten wird. Seit der Neuerfindung des Sportjournalismus führt ein Weg immer tiefer in die komplexe Materie. Auf dem anderen stehen – wie auch in Kultur, Wirtschaft oder Politik – mehr Persönlichkeiten im Zentrum. Ein Leidtragender dieser Entwicklung war und ist der aktuelle Nationalcoach Vladimir Petković.
Die Kritik, der er sich vonseiten aller grossen Medienhäuser praktisch seit Amtsbeginn vor sieben Jahren ausgesetzt sah, bezog sich selten auf taktische oder personelle Entscheidungen. Auch nach dem 0:3 gegen Italien an dieser EM wurden eher sein Auftreten («mimosenhaft», «Wie weiter (…) mit diesem Trainer?» im «Tages-Anzeiger») und abermals der Coiffeurbesuch einiger Spieler («Pleite nach Figaro-Affäre» im «Blick») ins Feld geführt. Um Glamour und Skandälchen zu verfolgen, braucht es kein Fachwissen – weder von Konsumenten noch von Journalistinnen.
Nirgends zeigt sich diese Entwicklung besser als im Fernsehen, wenn die Schweizer Nationalmannschaft spielt. Das Publikum von SRF ist zwar fussballaffin, wie die Quoten der Länderspiele beweisen, doch allzu viel Tiefe will man ihm offenbar doch nicht zumuten. Immerhin bekommt – nach dem Vorbild anderer TV-Stationen – mittlerweile auch die Taktik etwas Raum, darf Ex-Nationalspieler Beni Huggel ein, zwei Spielszenen erklären. Der grosse Rest der Studiozeit dreht sich vornehmlich um Emotionen, vom Boulevard aufgebrachte Themen (Coiffeur) und die grossen Stars, um Xherdan Shaqiri, Granit Xhaka, Frankreichs Regisseur Pogba, Italiens Angreifer Insigne.
Ein bewusster Entscheid für mehr Publikumsnähe ist das wohl nur bedingt. Rainer Maria Salzgeber ist in erster Linie Moderator, Sascha Ruefer Kommentator. Ihre Stärken sind die Gesprächsführung und der spielerische Umgang mit der Sprache – mal mitfühlend, mal witzig, mal aufgewühlt –, in Sachen fussballerischer Kompetenz können sie ihren Gästen indes nicht das Wasser reichen.
Wie viel Chauvinismus ist regelkonform?
Ungeachtet dessen durfte sich Sascha Ruefer während der EM nach Schweizer Spielen jeweils auch an den Studiotisch zu Salzgeber und Huggel setzen. Er verfüge über «exzellentes Hintergrundwissen» und böte «einen Mehrwert für die Zuschauer», erklärte SRF diesen Entscheid. Dabei drang einmal mehr durch: Ruefer ist in erster Linie Fan des Nationalteams. Er kritisiert aus der Emotion heraus und selten analytisch. Gänzlich freien Lauf lässt er seinem Unmut beim Kommentieren. Mit der für ihn typischen überschlagenden Stimme («Ich fass es nicht!») zieht er über Entscheidungen des Trainers («Du darfst Shaqiri nie auswechseln») oder die Spieler her («Man hätte Rodriguez nie schiessen lassen dürfen! Nie!», «Man müsste sie mal richtig schütteln!»), gibt fussballerisch wenig sinnvolle Ratschläge («Haut doch einfach mal den Ball weg!») und bewegt sich zum Beispiel nach der französischen Hymne auch mal nahe an der Grenze zum Chauvinismus («Marseillaise, Bouillabaisse, Champignons»).
Das polarisiert. Der einen Hälfte gefällt, dass Sascha Ruefer ganz auf Emotionen setzt. Er verfällt in Schnappatmung bei Grosschancen und in Wehklagen bei schwächeren Phasen, genau wie viele Zuschauerinnen bei Spielen des Nationalteams auch. Die andere Hälfte regt sich fürchterlich über den respektlosen Ton und die fehlende Objektivität auf und bemängelt, dass Ruefer nicht einmal versucht, taktische Auffälligkeiten zu erklären, und zum gegnerischen Team kaum ein Wort verliert. Lobeshymnen («So kommt TV-Kommentator Sascha Ruefer bei unserem Sommermärchen eine Schlüsselrolle zu» bei «Watson») und Verrisse («Einen solchen Paternalismus hörte man zuletzt in den fünfziger Jahren, als Väter ihre Kinder übers Knie legten» in der NZZ) über die SRF-Begleitung der EM hielten sich in den Medien die Waage.
Ein grosses Turnier wie die EM ist aber gewiss nicht repräsentativ, wenn man über den Zustand des Sportjournalismus urteilen will. Denn während Endrunden entsteht jeweils eine sich selbst fütternde, riesige Maschine. Die Themensetzung obliegt nicht allein den Sportredaktionen, nein, Meinungen und Kommentare hageln von allen Seiten auf die Fussballnationalmannschaft herunter, selbst «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel liefert auf Twitter so etwas wie einen Liveticker zu den Spielen. Polemik schürt auch der Boulevard, und Sascha Ruefer nimmt diese gern auf und fungiert als Multiplikator und Meinungsmacher, bis aus einem Coiffeurbesuch eine halbe Staatsaffäre wird.
Es ist das Schicksal des Fussballs, dass anders als beim Artensterben oder der Weissgeldstrategie fehlendes Fachwissen kaum jemanden daran hindert, seine Ansichten hinauszuposaunen. Eine normale Super-League-Partie schauen auf SRF rund 120’000 Leute, bei einer EM schalten fast 2 Millionen zu. Mit einem Artikel zum Coiffeurbesuch erreicht man davon viel mehr Leute als mit einem zu den Vorzügen der Dreierkette. Einschätzungen von fähigen Sportjournalisten gehen zu Zeiten grosser Auftritte unseres Nationalteams in der Menge unter.
Mehr Sachlichkeit? Wenn das so einfach wäre
Natürlich ginge es dennoch anders, dafür genügt ein Blick über die Grenze. Als Deutschland gegen Ungarn im letzten EM-Gruppenspiel mit 0:1 zurücklag und damit vor dem Ausscheiden stand, war beim ZDF etwa folgender Satz zu hören: «Wenn bei Ungarn die Dreierkette in Ballbesitz ist, kommt Szalai jeweils entgegen und zieht dadurch Hummels und Ginter raus, Fiola oder Nego nutzen diese Räume und starten in die Tiefe.» Und nachdem die deutsche Elf haarscharf an einer grossen Blamage vorbeigeschrammt war, diskutierten im TV-Studio die Ex-Weltmeister Per Mertesacker und Christoph Kramer zusammen mit dem Trainer Peter Hyballa über small deep runs, «zweite Passwelle» und «zu viel Parkposition an der Fünferkette». Das ist ein beachtlicher Wandel, wo doch im deutschen Fernsehen noch vor nicht allzu langer Zeit gegnerische Spieler als «Klobürste» (Béla Réthy) verspottet und argentinische Schiedsrichter «in die Pampa zurück» (Heribert Fassbender) gewünscht wurden.
Mit der neuen Sachlichkeit sind längst nicht alle glücklich in Deutschland. Als das Video des 3:3-Ausgleichs des Schweizer Nationalteams gegen Frankreich mit dem ekstatischen Kommentar von Sascha Ruefer die Runde machte, wünschten sich in den sozialen Netzwerken nicht wenige Deutsche ebenfalls einen derart emotionalen Kommentator für die Partien ihres Nationalteams.
Wie stark sich die Erwartungen bei Länderspielen von Land zu Land unterscheiden, zeigt auch die aktuelle Diskussion in England. Das Nationalteam hat sich soeben zum ersten Mal überhaupt für einen EM-Final qualifiziert, doch die BBC muss sich auch mit Beschwerden von Zuschauerinnen befassen, welche die Berichterstattung «unausgewogen» zugunsten des englischen Teams empfinden. Kommentatoren und Studiogäste – darunter eine Reihe Ex-Nationalspielerinnen – seien zu parteiisch und würden sich zu wenig mit den jeweiligen Gegnern befassen.
Dass sich Emotionalität und Fachkompetenz nicht ausschliessen, zeigen etwa RSI und RTS, die – wie auch ARD und ZDF – einen Co-Kommentator vom Fach einsetzen. Allesamt setzen sie auf Ex-Profifussballer: Antonio Esposito im Tessin, Steve von Bergen in der Romandie sowie Thomas Broich und Sandro Wagner in Deutschland. Das wirkt ausgleichend. Der Kommentator schürt die Euphorie, kennt aber seine Limiten, weil er Einordnungen und Beobachtungen dem Experten an seiner Seite überlassen kann. Im Idealfall bietet das für alle einen Mehrwert. Auch SRF setzte Beni Thurnheer lange eine Fachkraft zur Seite – erst Günter Netzer, später Karl-Heinz Riedle, beides ehemalige deutsche Internationale –, seit geraumer Zeit ist Sascha Ruefer aber Alleinunterhalter.
Und dann wieder zurück in die Nische
Wenn während einer EM über Lamborghinis, Coiffeure und Tattoos geredet wird, ist das aber nicht einfach dem Niedergang des Sportjournalismus geschuldet. Seit jeher ist das Nationalteam in jedem Land der Welt polemikanfälliger. Die Dänen werden nach dem tragischen Vorfall um Christian Eriksen im Startspiel und der nachmaligen Qualifikation für die Halbfinals in der Heimat gefeiert – bis vor kurzem wurden sie als «geldgierige Söldner» verspottet, nachdem sie im September 2018 ein Testspiel wegen eines Prämienstreits boykottiert hatten. Eine ähnliche Debatte um das Singen der Nationalhymne wie hierzulande gab es zuvor auch schon in Deutschland. Und die französische Nationalelf spaltete an der WM 2010 das ganze Land.
Dass nun auch die Schweiz von Polemik um die Nationalmannschaft erfasst wird, ist ein relativ neues Phänomen. Das hat einen simplen Grund: Seit dem Aufkommen der Massenmedien war die Nationalmannschaft fast schon notorisch erfolglos. Nach 1966 vergingen satte 28 Jahre, bis sich die Schweizer Fussballnationalmannschaft wieder für ein grosses Turnier qualifizieren konnte. Wie gering die Erwartungen an das Nationalteam waren, kann man auch an den Zuschauerzahlen in Qualifikationsspielen aus jener Zeit ablesen: Die vorentscheidende Partie gegen Belgien 1989 wollten gerade mal 5000 Leute im Basler St.-Jakob-Stadion sehen.
Seit der Ära Köbi Kuhn (und der Aufstockung der Teilnehmerfelder an Europa- und Weltmeisterschaften) zählt die Nationalmannschaft zu den Stammgästen an Endrunden. Erfolge schüren aber auch Erwartungen – das ist nicht nur im Sport so. Erlangten Stéphane Chapuisat, Adrian Knup und Georges Bregy schon allein durch die WM-Qualifikation 1994 Heldenstatus, wird heute bei Granit Xhaka, Haris Seferovic und Nico Elvedi bereits die Art und Weise medial kritisiert, wie eine Qualifikation zustande kam.
Als es im November 2019 um die Vertragsverlängerung mit Vladimir Petković ging, äusserten sich sämtliche grossen Zeitungen sehr zurückhaltend. Diese Kommentare waren offenbar alle vergessen, nachdem die Schweiz Frankreich eliminiert hatte. Der «Blick» bejubelte die EM-Helden als «SeNATIonell», für die NZZ gab der Erfolg «vor allem dem Coach recht», und die «Weltwoche», die kaum je ein gutes Haar an diesem Nationalteam gelassen hatte, publizierte kürzlich gleich mehrere Artikel mit Lobeshymnen. Im emotionsgeladenen Feld der Nationalmannschaft schlagen die Amplituden besonders hoch aus.
Lässt man die Aushängeschilder des Landes weg, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Heute erscheinen deutlich mehr gehaltvolle Artikel als früher, das interessierte Fachpublikum findet hochwertige Berichte in Zeitungen, Magazinen und Podcasts. Es wird aufwendig recherchiert, Missstände werden aufgedeckt (wie kürzlich bei den Skandalen um Missbrauch im Schweizer Turnverband) und aufklärende Arbeit wird geleistet (wie in Sachen Regenbogenflagge bei der EM). Dabei sind die Anforderungen an Sportmedienschaffende in jüngerer Zeit deutlich gestiegen. Die Grenzen zu den anderen Ressorts sind längst nicht mehr so klar wie einst. Wer über ein EM-Spiel in Baku berichten soll, muss auch verstehen, warum Aserbeidschan als Austragungsort problematisch ist. Wenn es um einen Besitzerwechsel beim FC Basel geht, ist juristisches Wissen unabdingbar. Und wenn eben ein Trainer von einem «breit ziehenden Zehner» spricht, kommt man um einen Taktik-Crashkurs nicht herum.
Wenn der EM-Tross weitergezogen ist, werden Sportjournalistinnen wieder ihre Nische bedienen. Und dort sind sie sehr wohl angesehen. Mit dem Sportjournalismus und Grossanlässen verhält es sich ein bisschen so wie mit dem kleinen Spezialitätenrestaurant, das alle paar Jahre im Zentrum eines grossen Stadtfestes steht: Üblicherweise werden qualitativ hochwertige Speisen einer Handvoll Gourmets präsentiert, die das zu schätzen wissen. Beim Stadtfest kommen aber jeweils ungelernte Aushilfen hinzu und lassen Hotdogs und Pommes frites für die Masse raus, die gar keine höheren Ansprüche hat. Ist der Spuk vorbei, nimmt alles wieder seinen gewohnten Gang.
Mämä Sykora ist Journalist, seit 2009 ist er Chefredaktor des Fussballmagazins «Zwölf», zudem macht er im mittlerweile zweiten Jahr gemeinsam mit Radiomoderator Tom Gisler den Podcast «Sykora Gisler».