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Die Pandemie überforderte das Schweizer Bildungswesen: Übermächtige IT-Administratoren, überwachte Schülerinnen und unverschlüsselte Daten sind die Folgen.

Von Adrienne Fichter (Text) und Paul Blow (Illustration), 28.06.2021

Wer in der Schweiz die Stichworte Corona­virus und Digitalisierung hört, denkt unweigerlich an das IT-Versagen des Bundesamts für Gesundheit. Die Pandemie legte die Defizite des Gesundheits­wesens schonungslos offen. Weniger wurde bisher über die Probleme mit der Digitalisierung in einem anderen Kontext gesprochen: in demjenigen der Schulen.

In vielen Gemeinden bergen diese Probleme bis heute – trotz des grossen Engagements vieler Lehrerinnen – grosses Potenzial für Miss­brauchsfälle.

Als sich der Shutdown Anfang März 2020 abzeichnete, waren Schul­leitungen, Lehrerinnen und Eltern heillos überfordert. Vielerorts musste man sich erstmals mit Cloud­speichern, streaming­fähigem Internet und geeigneten Passwörtern herum­schlagen. Die wenigsten Schulen hätten bereits ein Konzept für den «digitalen Raum» oder den Fern­unterricht gehabt, sagt der Bildungs­experte Beat Döbeli Honegger. Trotzdem lastete auf Lehrern und Schul­verantwortlichen der Druck, den Unterricht selbst in dieser unsicheren Zeit der Pandemie möglichst reibungslos aufrecht­zuerhalten – irgendwie, sofort.

In vielen Schulen wurden fast über Nacht Grundsatz­entscheidungen getroffen. Man bestellte hastig Software, schloss rasch Verträge ab, ging Abhängigkeiten ein.

Von dieser Not- und Stresssituation profitierten sowohl amerikanische Big-Tech-Unternehmen als auch Schweizer Anbieterinnen. Viele davon bieten funktions­fähige und leistungs­starke IT-Infrastruktur für den Schul­alltag an. Doch diese hat auch Schatten­seiten, wie zahlreiche E-Mails an die Republik aufzeigen. Die Probleme sind dabei die üblichen, die unbedarfter Gebrauch von Technologie und naives, unkontrolliertes Daten­sammeln mit sich bringen können: potenzielle Über­wachung, Eingriffe in die Privat­sphäre, kollektives Teilen von sensiblen Informationen.

Probleme, die besonders schwer wiegen, wenn es um Kinder und Jugendliche geht.

Ist das gut, wenn Lehrpersonen wissen, welche Schülerinnen um 2 Uhr morgens an ihren Haus­aufgaben arbeiten? Sollen Eltern wirklich standard­mässig die Passwörter ihrer Kinder kennen und deren Kommunikation überwachen können? Wie steht es umgekehrt um die Privat­sphäre der Lehrpersonen? Und grundsätzlich um den geschützten Raum, den guter Unterricht ab und zu braucht? Während der letzten Monate erreichten die Republik viele solcher Fragen, von Eltern wie von Lehrern.

Die digitale Schullandschaft ist derzeit zu chaotisch und dynamisch und ja, auch von Kanton zu Kanton zu unterschiedlich, als dass eine einzige Erzählung dieser Komplexität gerecht würde. Doch die wichtigsten Problem­felder, erklärt in fünf Kapiteln, zeigen symptomatisch, wie die Corona-Pandemie das Schweizer Bildungs­wesen überforderte.

1. Fehlende Verschlüsselungen und ausufernde Zugriffs­rechte für Administratorinnen

Schulausfälle, Quarantäne­verordnungen oder Reiseplanungen: In den Zürcher Gemeinden Bülach und Dietikon werden solche Themen über die Kommunikations­plattform Klapp geregelt. Sie gilt als «die sichere Alternative zu Whatsapp». So preist sich das beliebte Tool, das auch in anderen Kantonen gerne genutzt wird, in einem Infoschreiben für die Eltern an. Zusätzlich attraktiv scheint Klapp vielen, weil es in der Schweiz entwickelt wird und die Daten ebenfalls in der Schweiz lagern.

Das schafft Vertrauen. Doch Klapp hat auch seine Tücken: In einem Blogartikel von Sommer 2020 beschreibt der IT-Security-Experte Sven Fassbender, wie Schüler­daten und E-Mail-Nachrichten unverschlüsselt auf den Servern liegen. Was ist der Stand heute? Die Republik machte den Test. Von Eltern erhielten wir eine E-Mail der Schule weitergeleitet – und konnten damit direkt auf den ganzen Nachrichten­verlauf der Schul­leitung zu einem sensiblen Thema zugreifen. Nicht mal ein Einloggen war dafür nötig.

«Was fehlt, ist eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung», sagt Fassbender. Die Ironie: Whatsapp wäre mit seiner Ende-zu-Ende-Verschlüsselung in diesem Fall die sicherere Wahl. Wegen der Zugehörigkeit zum Facebook-Konzern ist Whatsapp jedoch nicht konform mit Schweizer Daten­schutzrecht.

Dieser Schwachpunkt von Klapp zeigt exemplarisch auf, dass Schulen als öffentliche Dienst­leister noch einmal grössere Heraus­forderungen zu meistern haben als viele Unter­nehmen. Denn die technische Offenheit ist bewusst so konzipiert worden, wie Reto Kaspar von Klapp bestätigt: «Dies war ein bewusster Entscheid.» Er begründet sie mit dem Argument der Inklusion: «Damit Eltern, die kein Smartphone haben oder es nicht für die Schul­kommunikation verwenden möchten, ebenfalls per E-Mail oder im Browser auf die Informationen zugreifen können.»

Solche Konflikte im Spannungs­feld von striktem Datenschutz und breiterer Integration beschäftigen viele IT-Firmen und Schul­leitungen. Dass Klapp immer wieder Kompromisse ermöglichen muss, zeigt sich auch bei einem anderen Thema: Die Schul­leitung in Dietikon beispiels­weise kann auch Nachrichten lesen, die eine Lehrperson eigentlich nur an andere Lehrpersonen einer Klasse adressiert hat, wie eine Lehrerin berichtet.

Das ist kein Versehen, sondern hat einen einfachen Grund: Schul­leitungen haben Administratoren­rechte. Dieser Rollentitel klingt bürokratisch, doch die Macht­verschiebung zugunsten der Schul­leitungen hat es in sich.

Je nach Einstellung haben Administratorinnen Einsicht in die Logfiles, sie verfügen über die Zugriffs­rechte, sie kreieren die Schülerinnen­konten. Kurz: Sie wissen theoretisch über das ganze digitale Schul­leben Bescheid. Es ist also kein Versehen, wenn sie im aktuellen Setting immer auf dem Laufenden sind, wenn sich Lehrerinnen auf der Plattform Klapp gegenseitig benachrichtigen. Mehr noch: Was sie konfigurieren, einstellen und aktivieren, kann enorme Folgen für die Privat­sphäre der Schülerinnen haben.

Früher seien Administratorinnen etwa dem Hausabwart gleichgestellt gewesen, sagt Bildungs­experte Döbeli Honegger. Mit der Pandemie hat sich das radikal geändert. Zwar nicht auf dem Papier – also im Organigramm –, sondern informell durch all die Zugriffs­berechtigungen.

Diese Machtfülle der allwissenden Administratoren sei ein Problem, findet Sandra Husi-Stämpfli, eine Daten­schutz­expertin, die sich auf den Bildungs­bereich spezialisiert hat. Müssen diese digitalen Haus­wärterinnen wirklich Zugriff haben auf die Dossiers von Schülern?

Er verstehe die Bedenken der Lehrerinnen, sagt Reto Kaspar von Klapp, die Administratoren­rechte würden deshalb bald neu definiert. «Dieser Zugriff war ein Kunden­bedürfnis zu Beginn und wird von einigen Seiten immer noch gewünscht. Im Sommer werden wir jedoch diese Funktionalität so überarbeiten, dass Administratoren explizit in den Kommunikations­fluss einbezogen werden müssen – oder eben nicht.»

Doch wo die kleine Schweizer Firma rasch reagiert, sieht es bei den amerikanischen Big Playern ganz anders aus. Auch hier haben die Administratorinnen viel Macht – und das ist durchaus gewollt. Denn ein Interesse daran, Bescheid zu wissen und allenfalls Daten zu sammeln, haben auch verschiedene Bildungs­akteure selbst.

2. Echtzeitüber­wachung der Schülerinnen

Google und Microsoft haben gegenüber Schweizer Anbietern einen grossen Entwicklungs­vorsprung. So gilt Microsoft in vielen Schulen bereits als digitale DNA. Und: Die Pandemie habe auf dem Videokonferenz­tool Teams eine Verfünffachung von Usern gebracht, sagt Microsoft-Sprecher Tobias Steger, ohne jedoch Zahlen für die Schweiz zu nennen. Konkreter wird da Educa, die Fachagentur für den digitalen Bildungs­raum Schweiz sagt auf Anfrage der Republik: Der Anteil von Microsoft-Produkten liegt landesweit in der Primar­schule bei 60 Prozent, auf der Sekundar­stufe bei maximal 70 Prozent und auf der Sekundarstufe II bei maximal 80 Prozent.

Einige Kantone haben während der Pandemie gleich ganz auf das Gesamt­paket des amerikanischen Gross­konzerns umgeschwenkt. In Uri beispiels­weise empfahl die Bildungs­direktion zu Beginn des Shutdowns 2020 sämtlichen Schul­leitungen die Angebote von Microsoft persönlich, wie aus einer E-Mail hervorgeht, die der Republik vorliegt.

Ein Grossteil der Schweizer Schul­landschaft ist also neben Google in den Händen von Microsoft. Mit der Pandemie konnte das Big-Tech-Unternehmen das Momentum nutzen, seine 365-Cloud und Teams noch mehr anzupreisen. Vor allem Teams wurde im Zuge der Pandemie ausgebaut: Schülerinnen bearbeiten auf der Software nun direkt Dokumente und interagieren auch miteinander.

Neu können ihnen Lehrpersonen quasi direkt virtuell über die Schulter schauen. Das Zusatz­modul Insights, das beim Bezug von Teams immer mitgeliefert wird, bietet «Echtzeit­analysen des Fortschritts und der Aktivitäten von Schülern/Studierenden innerhalb ihrer Klasse» an, wie Microsoft das Tool selbst bewirbt. Mit dem Zusatz­modul kann gemessen werden, welche Schüler online zu welcher Zeit mit welcher Arbeit beschäftigt waren oder wie viele Nachrichten pro Schülerin oder pro Klasse versandt wurden. «Sowohl Dozenten als auch Schulleiter können hinein­zoomen und die Daten für einzelne Schüler sehen», verkündet Microsoft selbst.

Die Datenschutzexpertin Sandra Husi-Stämpfli findet dieses Aktivitäts­tracking von Schülerinnen durch Lehrpersonen oder Schul­leitungen sehr heikel. «Solche Funktionen müssen mit Freiwilligkeit und Anonymisierung von Schülern einher­gehen», sagt sie. Doch genau dies ist bei Teams nicht gegeben, denn die Schülerinnen haben hier kaum Mitsprache­rechte. Oft wissen sie nicht einmal von den umfassenden Rechten ihrer Schule – und wenn, könnten sie sich wegen des Fern­unterrichts trotzdem nicht verweigern.

«Es geht bei Insights nicht um Schüler­überwachung, sondern darum, den Lehrerinnen einen Trend in konsolidierter Form zur Verfügung zu stellen», sagt Marc Weder, der Bildungs­experte des Konzerns aus Redmond im US-Staat Washington. Der Grund für diese Kontroll­funktionen: Man habe in den USA festgestellt, dass ein paar Wochen nach dem Lockdown ein Teil der Schülerinnen völlig «abgehängt worden sei». Es habe kein Lebenszeichen gegeben. Bei den Schulen hätten die Alarmglocken geläutet.

Und wie so oft versuchte man mit Technologie zu lösen, was eigentlich – oder zumindest auch – eine kulturelle, soziale und psychologische Heraus­forderung ist. Dabei passiert es schnell, dass Lösungen unnötig zu weit gehen. Wenn beispielsweise ein Drittel der Schülerinnen regelmässig zu spät die Hausaufgaben auf die Daten­banken hochladen würde, dann sei das eine relevante Information für die Lehrerin, findet der Bildungs­experte Weder. Doch weshalb sollte ein Lehrer oder eine IT-Administratorin rund um die Uhr verfolgen können, welche Schülerin um 2 Uhr morgens Hausaufgaben erledigt? Welchen pädagogischen Mehrwert bietet die Angabe der «Responsivität» – also ob ein Schüler viele Nachrichten verschickt oder nur wenige?

Bei dieser Frage winden sich die Microsoft-Verantwortlichen heraus: Die Verantwortung liege bei den IT-Administratoren. Und: «Wir empfehlen den Kunden deshalb auch immer, eine Daten­strategie zu erarbeiten, welche die obigen Fragen klärt», sagt Microsoft-Sprecher Steger.

Die Datenschützerin Dominika Blonski, die Bildungs­produkte auf Legitimität untersucht hat, hält denn auch fest, dass Lehrpersonen klare Grenzen einzuhalten hätten: «So dürfen Randdaten – wie der Zeitpunkt des Einloggens oder die Zeitspanne der Nutzung – beispielsweise nicht in einer Weise ausgewertet werden, die nicht im Zusammen­hang mit der Aufgaben­erfüllung der Schule steht.» Nur: Wer fällt dieses Urteil – und wer prüft, ob die Einschätzung nach­vollziehbar ist?

Das Thema beschäftigt gerade auch die Schweizer Daten­schützer­konferenz Privatim. Sie nimmt sich aktuell der «Auswertung von Randdaten» an, wie der ehemalige Präsident Beat Rudin bestätigt, und hat dabei ebenfalls die Produkte von Microsoft im Blick. Dabei prüft Privatim die Legitimität von Workplace Analytics, einem Produkt für die Beobachtung von Arbeitnehmern.

Die Parallele zu den Schülerinnen ist dabei kaum zu übersehen: Viele Bildungs­experten sind überzeugt, dass Microsoft bei Insights einfach bestehende technische Tools aus der Arbeitgeber­welt übernommen hat und nun auf die Schulen überträgt. «Ohne sich Gedanken zu machen, was das für die Schülerinnen bedeuten könnte», wie eine Lehrperson sagt.

3. Daten können zweck­entfremdet werden

Die Microsoft-Ansprechpartner legitimieren gegenüber der Republik ihre Angebote mit den Forderungen von Bildungs­forscherinnen. In der Tat ist es so, dass Erziehungs­direktionen nach mehr Daten lechzen: um die Qualität der Schulen zu messen und Leistungen zu beurteilen. So argumentieren auch die Vertreter von Microsoft, Marc Weder und Tobias Steger: Es ist doch gut, dass wir Metadaten mit Schul­leitungen und Administratoren teilen, statt dass wir sie als Big-Tech-Firma allein bei uns horten.

Diese Forderung entspricht effektiv auch der Haltung der Fachagentur Educa: Schulen sollen eine Daten­nutzungs­kultur etablieren. Auch die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungs­direktoren will Daten für eine optimale Bildungs­nutzung fördern.

Es ist ein Argument, das beim Daten­sammeln in anderen Kontexten ebenfalls oft kommt: Wir nutzen die Daten doch nur, um besser zu werden. Doch wie immer können auch im Schul­umfeld Daten zweck­entfremdet werden und ungeahnte Wirkung entfalten, wenn zuvor keine klare Haltung zum Umgang damit entwickelt worden ist.

Das illustrieren auch Beispiele aus der Vergangenheit gut, etwa aus dem Kanton Luzern. Der digitale Stellwerk­test wird jährlich eingesetzt für eine Leistungs­beurteilung der Schülerinnen auf Sekundar­stufe. Eigentlich war er als Standort­bestimmung für die Schülerinnen gedacht. Unternehmen wie die Migros ziehen denn auch die Stellwerktest-Profile bei der Rekrutierung von Lehrlingen zurate.

Doch das Luzerner Bildungsdepartement nutzte die Daten auch als Steuerungs­instrument, wie die «Luzerner Zeitung» aufzeigte. Etwa, indem man auch Schlüsse über den Unterricht der Lehrerinnen zog. Wich eine Schulklasse gesamthaft zu sehr ab, so hatte das Konsequenzen für die Lehrperson. Diese erhielt dann ein Zusatz­coaching.

Werden sie derart unüberlegt eingesetzt, können Daten rasch explosiv wirken. Genau darum raten Expertinnen immer dazu, sich genau zu überlegen und auch gegenüber Betroffenen zu deklarieren, welche Daten wozu erhoben werden – statt sie einfach mal pauschal «auf Vorrat» zu sammeln. Die genaue Zweck­bindung von Daten­erhebungen ist nicht zufällig einer der wichtigsten Grundsätze von zeitgemässen Daten­schutz­gesetzen.

4. Standard­passwörter und ungefragte Daten­weitergabe

Nicht immer weckten während der Pandemie nur technische Mängel oder Überwachungs­funktionen ungute Gefühle bei besorgten Eltern. Manchmal waren auch Prozesse und Abläufe aus Datenschutz­sicht äusserst fragwürdig.

In Berner Schulen beispielsweise wurde lange Zeit auf Open Source gesetzt, und zwar auf die Lernplattform base4kids.ch. Voraussetzung für die Nutzung der diversen Dienste war die Errichtung eines Mailkontos. Im April 2020 erhielten Eltern einer Schule die Zugangs­information dafür. Im Singular, denn es handelte sich um ein und dasselbe Passwort für alle Kinder. Eltern und Lehrerinnen konnten sich also in alle Mailkonten von allen Schülern querbeet einloggen. Das war Absicht, wie eine Mutter herausfand.

Sie kontaktierte den Klassenlehrer und teilte ihm ihre Bedenken bezüglich der Privat­sphäre der Schülerinnen mit. Dieser antwortete ihr wortwörtlich: «Es ist nicht vorgesehen, dass die Kinder ihr Passwort wechseln, da wir Lehrpersonen (sowie auch Sie als Eltern) Einblick in den Mailverkehr der Schüler*innen haben sollen, um ihnen helfen zu können, aber auch, um von Zeit zu Zeit einzusehen, ob der Mailverkehr korrekt verläuft.»

Sven Baumann, Co-General­sekretär für die Direktion für Bildung, Soziales und Sport der Stadt Bern, hat Kenntnis von diesem Vorfall. Und bezeichnet ihn als «Fehler»: Die Stadt habe mit base4kids keinesfalls im Sinn gehabt, den Mailverkehr von Schülerinnen und Schülern zu überwachen.

Dass mit Benutzerkonten und Passwörtern oft nicht so umgegangen wird, wie es heute eigentlich Standard sein müsste – individuelle Zugänge und Passwörter –, zeigt erneut auch das Beispiel der Kommunikations­plattform Klapp. In Bülach und Dietikon war es lange Zeit Usus, dass die Klapp-Benutzer­konten von der Firma selbst eingerichtet wurden. Als ein Vater sich beschwerte, dass der Name seines Kindes ohne seine Zustimmung an die Firma weiter­geleitet worden sei, reagierten die Bülacher Behörden. Der Modus Operandi bei der Anmeldung verläuft nun anders.

Doch während Eltern bei Schweizer Anbieterinnen noch opponieren können gegen die Weiter­gabe von Daten, ist dies bei Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft kaum mehr der Fall. Der Grund dafür könnte paradoxer nicht sein: weil die Beziehungen zwischen Schweizer Schulen und den Big-Tech-Konzernen rechtlich genau geregelt sind. Und zwar in Form der sogenannten Rahmen­verträge, die alle Fragen rund um Google, Adobe oder Microsoft klären sollen. Das bedeutet: In strittigen Fragen gilt stets Schweizer Recht, Gerichts­barkeit und Haftungsregeln. Und nicht etwa die Nutzungs­bedingungen von Google. Eigentlich ein riesiger Vorteil der Schweiz gegenüber dem Ausland, denn kaum woanders ist dieser Bereich so reguliert.

Doch erstens entbinden diese Rahmen­verträge nun ironischer­weise die Eltern von ihrem Mitbestimmungs­recht. Schulen müssen über die Nutzung von Google-Software lediglich informieren. Eine Unterschrift der Eltern ist nicht mehr nötig.

Und zweitens ist unklar, ob diese Richt­linien noch Gültigkeit haben. Seit Sommer 2020 sind die Microsoft-Produkte kaum mehr legal nutzbar. Das Swiss-US Privacy Shield gilt als ungültig, daher hat der Konzern kein legales Daten­transfer­abkommen als Basis für die Rahmen­verträge. Google und Microsoft verfügen zwar über Rechen­zentren in der Schweiz. Doch über all den Bestimmungen hängt das Damokles­schwert USA: Den Überwachungs­gesetzen wie FISA («Gesetz zur Überwachung in der Auslands­aufklärung») oder CLOUD Act (regelt den Zugriff der US-Behörden auf gespeicherte Daten im Netz) werden sich auch Schweizer Schulen nicht entziehen können. Dies bestätigt auch die Fach­agentur Educa: «Im Rahmen der Entwicklungen in Sachen Schrems II – der Ungültig­erklärung des Datentransfer­­abkommens zwischen USA und EU und später auch der Schweiz – ist eine Evaluation der bestehenden Rahmen­verträge mit Google und Microsoft wahrscheinlich.»

5. Schreibe nicht über Politik, Religion und Gesundheit

Sowohl bei amerikanischen Multis wie Microsoft wie auch bei Schweizer Firmen wie Klapp müssen Schülerinnen ihre digitalen Lösungen meiden, wenn sie beispiels­weise einen persönlichen Aufsatz über ein krankes Familien­mitglied schreiben oder sich zum nächsten Klimastreik verabreden wollen – also potenziell sensible Informationen teilen. Der Kanton Bern hat dazu gar ein Ampel­system verabschiedet, in dem definiert wird: Über sensitive Themen wie Gesundheit soll nichts auf Google Drive geschrieben werden.

Fördert dies nicht die Selbstzensur bei den Schülerinnen? «Es ist wichtig für die Kinder, zu wissen, wann und mit welchen Kommunikations­mitteln solche persönlichen, besonders schützens­werten Themen diskutiert werden können. Bei heiklen Themen macht es manchmal auch Sinn, Texte auf Papier zu erfassen», sagt Erwin Sommer, Vorsteher Amt für Kindergarten, Volksschule und Beratung Kanton Bern.

Dasselbe Problem besteht auch beim Schweizer Anbieter Klapp. Das Team rund um die Zürcher Daten­schützerin Dominika Blonski machte eine Risiko­analyse des Tools. Da Angaben über die Verschlüsselungen fehlten, kam sie zum Schluss, dass «Klapp nicht für jede Art von Daten genutzt werden kann» – beispiels­weise nicht für sensitive Daten zur Gesundheit.

Gemäss der Datenschutz­erklärung von Klapp bedeutet das: Eltern, Kinder und Administratoren dürfen keine Gedanken zu Politik, Religion, Weltanschauung oder Intim­sphäre über die Chat­plattform teilen.

«Unsere Plattform soll nur zur administrativen Kommunikation verwendet werden», sagt Reto Kaspar von Klapp. Ob das im Alltag immer trennscharf durchgezogen werden kann, ist allerdings mehr als zweifelhaft. Allein im Nachrichten­verlauf, den die Republik einsehen konnte, sind Hinweise auf den Gesundheits­zustand von Lehr­personen und Kindern zu finden.

Fazit: Es braucht einen Kompass

Die aufgezählten Beispiele sind keine Einzelfälle, sondern stehen für zahlreiche weitere Fälle, von denen die Republik Kenntnis hat. Auch andere Tools, Chatplatt­formen und Software enthalten teilweise Mängel oder fragwürdige Funktionen. Was vor allem fehlt: ein klarer Kompass, wie das digitale Lernen und die digitale Gestaltung des Alltags an Schweizer Schulen aussehen sollen – und ein gründliches Nachdenken darüber, welche Daten wann, wie und warum erhoben und allenfalls ausgetauscht werden.

Da Bildung jedoch bekanntlich Sache der Kantone ist, findet dazu kaum eine landesweite Debatte statt, trotz ähnlich gelagerter Probleme überall. In der Pandemie war deshalb Eigen­initiative gefragt. Die Pädagogische Hochschule Schwyz beispiels­weise schaltete zu Beginn des ersten Shutdowns das Corona-Wiki «Lernen trotz Corona» auf, das Hilfestellung bieten sollte.

Informatik-Didaktiker Döbeli Honegger findet, dass die Pandemie für die Schulen keine Chance war, sich bei der Digitalisierung weiter­zuentwickeln: «Digitalisierung ist nun für viele Schulen stark mit Stress verknüpft.» Nach den belastenden Monaten der Pandemie wäre es für Schulen jetzt eigentlich an der Zeit, sich Gedanken über ihren Umgang mit Daten zu machen.

Schweizer Firmen haben zwar den rechtlichen Standort­vorteil, dass Daten auf hiesigem Boden gespeichert sind. Doch sie hinken den Big-Tech-Firmen in anderen wichtigen Belangen wie etwa IT-Sicherheit völlig hinterher. Der IT-Administrator einer Schule formulierte es so: Er könne ein gewisses Verständnis aufbringen, dass man sich in der Not für die Rundum­pakete von grossen Playern wie Microsoft entschieden habe. Denn: «Die meisten Lehrer sind digitalisierungs­resistent und können nichts mit Open-Source-Software anfangen.»

Die amerikanischen Konzerne bieten auf der anderen Seite fragwürdige Werkzeuge zur Kontrolle ihrer Schülerinnen an. Und dass Big-Tech-Player Errungenschaften in der Emotions­forschung – die Erkennung von Gemüts­lagen in Gesichtern – irgendwann in naher Zukunft auch den Schulen als Dienst­leistung anbieten wollen, ist nicht ausgeschlossen.

Die skizzierten Dilemmata zeigen auch: Schwarz-Weiss-Denken bringt im Alltag selten weiter. Wer Convenience, Leistungs­fähigkeit und Inklusion – also einen breiten Einbezug aller Schülerinnen und Eltern – anbieten will, der muss allenfalls bei Sicherheits­vorkehrungen Abstriche machen. Alles gleichzeitig geht auch in Schulen nicht, und es braucht einen Abwägungs­prozess, was tatsächlich notwendig und gewollt ist.

Einen solchen Lernprozess durchlaufen gleichzeitig mit ihren Kunden auch die erwähnten Firmen.

Die Firma Klapp reagierte stets auf die geäusserte Kritik. Selbst Microsoft anerkennt, dass die Module einen permanenten Balanceakt zwischen Transparenz und Privat­sphäre darstellen, wie Sprecher Tobias Steger sagt. Es sei nichts in Stein gemeisselt, und alles könne optimiert werden.

Dass Informatikerinnen und Didaktiker Software gemeinsam im Dialog entwickeln, ist aus Sicht von Bildungs­experte Beat Döbeli Honegger nur wünschenswert. Doch er macht sich keine Illusionen. Die Begehrlich­keiten für Daten würden auch in der Schweiz wachsen: «Wenn sich niemand wehrt, werden Qualitäts­messungen und Evaluationen noch quantifizierter.»

Es würde sich also lohnen, wenn genau darüber auch unabhängig von Tools, Software und Pandemien gründlich gesprochen würde: über die Frage, wie ausgiebig Schulen ihre Lehrerinnen und Schüler vermessen wollen – oder ob sie das eben auch ganz bewusst nicht wollen.