«Diese Unternehmen existieren, um Märkte zu zerstören, nicht um sie zu beliefern»
Der Internetkapitalismus als gigantischer Markt der Ressentiments: Philosoph Joseph Vogl unterzieht im neuesten Buch die Plattformökonomie einer Fundamentalkritik. Ein Gespräch über die Macht von Big Tech, die Metamorphosen des Kapitalismus und die Urteilssucht auf Social Media.
Von Daniel Graf, 25.06.2021
Herr Vogl, Ihr neues Buch heisst «Kapital und Ressentiment». Sie hätten es auch «Kapital durch Ressentiment» nennen können, oder?
Ich habe mit dem Titel tatsächlich auf eine unbestimmte Kausalität gesetzt, denn man muss sich bei der Analyse und der Geschichte von wirtschaftlichen Sachverhalten von streng kausalen, determinierten Entwicklungen lösen. Es gibt immer einen grossen Kontingenzspielraum bei der Entstehung und der Durchsetzung bestimmter Wirtschaftssysteme. Und der Titel soll mit diesem eigentümlichen Bindewort «und» zumindest festhalten, dass die Entstehung moderner Marktgesellschaften nicht ohne die Produktivkraft von bestimmten Affekten auskommt.
Um ein komplexes und dichtes Buch auf eine schlichte Formel zu bringen: Die Plattformökonomie in ihrer heutigen Form führt zu einer Aushöhlung der Demokratie, lautet der Grundbefund.
Das sind Formulierungen, die gut in den Klappentext passen würden, die aber im Buch selbst etwas anders gewendet werden. Was mich interessiert hat, ist eine Untersuchung mit einem längeren historischen Atem, die Entstehung dessen, was ich Finanzregime nenne und was in seiner Genese auf die Frühe Neuzeit zurückzudatieren ist. Verbunden damit ist die These, dass so etwas wie das Finanzwesen nicht einfach ein ökonomischer Sachverhalt ist, sondern in einer engen Austauschkonstellation zwischen Staatsapparaten und privaten Financiers entstanden ist. Seit der Frühen Neuzeit ist das Finanzwesen eng verwoben mit regierungstechnischen Fragen, in jüngerer Zeit mit dem Ausbau von Governance-Strukturen. Es geht also um privat-öffentliche Osmosen. Da hat sich eine Dynamik entwickelt, die das Finanzregime mehr und mehr aus der Überprüfbarkeit durch rechtsstaatliche demokratische Ordnungen herausgelöst hat.
Hin zu einem parastaatlichen Gebilde?
Auf die Finanzmärkte bezogen hat sich etwas eingestellt, was ich die vierte Gewalt oder die «Monetative» nenne – spätestens dort, wo sich diese Konstellationen auch einen festen institutionellen Rahmen gegeben haben, beispielsweise in der Entstehung von Zentral- und Nationalbanken. Diese Banken erfüllen auf der einen Seite eine Regierungsaufgabe, nämlich Geld- und Währungspolitik, auf der anderen Seite sind sie in fast allen westlichen Ländern dezidiert von der Exekutive und von der Legislative abgetrennt und damit auch deren Zugriff entzogen. Oder umgekehrt: Sie müssen keine Rechenschaft gegenüber Parlamenten und gewählten Regierungen abgeben. Und nun gibt es jüngere Bewegungen, die dieses ältere, regierungsgesteuerte Finanz- oder Währungssystem bereits überbieten und zu einem marktgesteuerten Finanzsystem übergehen.
Das heisst?
Der Einfluss der Zentralbanken, etwa auf die Geldschöpfung und auf das Kreditverhalten, ist in den letzten Jahrzehnten geschwunden. Die Märkte sind selbst die grössten Produzenten von Liquidität. Zudem lösen sich internationale Verträge auf dem Gebiet der Finanzwirtschaft mehr und mehr vom nationalstaatlichen öffentlichen Recht. Man gibt sich eine eigene «Lex Mercatoria», eine Art privatisiertes Privatrecht mit eigenen, privaten Schiedsgerichten.
Joseph Vogl ist eigentlich Literatur- und Kulturwissenschaftler. Nach der Finanzkrise 2007/2008 ist er jedoch zu einem der profiliertesten Kritiker der Finanzökonomie und zu einem public intellectual geworden. Sein Buch «Das Gespenst des Kapitals» (2010) hat es zum Bestseller gebracht, obwohl Vogl aus seiner Vorliebe für anspruchsvolle Theorie nie den geringsten Hehl macht. Mit «Der Souveränitätseffekt» legte er 2015 nach: Das moderne Finanzwesen, so Vogl, habe sich von der Volkssouveränität entkoppelt und sei zu einer «Ausnahmemacht» geworden, die die eigenen Risiken in Gefahren für die Allgemeinheit verwandle. Nun hat er sein neues Buch mit dem Titel «Kapital und Ressentiment» vorgelegt, eine kulturgeschichtlich fundierte Analyse des Plattformkapitalismus von Amazon, Facebook, Uber und Co.
Sie haben die Zentralbanken angesprochen. Wie sehen Sie die geldpolitischen Veränderungen durch Kryptowährungen?
Im Augenblick gibt es wohl circa 10’000 verschiedene Kryptowährungen, und die Hoffnung dahinter war einmal, den Geldtransfer sowohl von Staaten und deren Dominanz in nationalen Währungen als auch von internationalen Banken zu lösen. Das ist eigentlich ein altes liberalistisches Ideal, das man beispielsweise bei Ökonomen wie Friedrich von Hayek oder Milton Friedman findet: Auch das Geld muss radikal privatisiert werden, jedem politischen Zugriff entzogen. Aber gerade dadurch – an Bitcoin ist das am deutlichsten erkennbar – ist das private Geld zu einem aberwitzigen Spekulationsobjekt geworden.
Derzeit ist Facebooks Währung «Diem» in aller Munde.
Die Idee hat natürlich etwas Schlagendes, einen Konzern mit einem Nutzerstamm von knapp drei Milliarden Leuten in einen Finanzkonzern zu verwandeln und die Nutzer im Grunde in Kontoinhaber zu transformieren. Dadurch kann eine letzte Bastion staatlicher Hegemonie, nämlich das Währungsmonopol, unterlaufen werden. Und aus der Perspektive von Facebook ist es eine überaus interessante Angelegenheit, Geldschöpfungsprivilegien, also das, was man früher Seigniorage oder Schlagschatz genannt hat, zu privatisieren. Man baut den Konzern zu einer Art Investmentgesellschaft um, die ihr Geld mit der Ausgabe von Geld verdient.
Nun gibt es neben dem Finanzwesen einen weiteren zentralen Strang in Ihrem Buch, der sich speziell um Plattformökonomie und Social-Media-Unternehmen dreht. Ihre These ist, dass bei diesen Plattformen die ständige Zirkulation von Ressentiments zum Geschäftsmodell wird. Wie hängt das mit dem ersten Aspekt zusammen, dem Finanzwesen?
Da muss ich verschiedene Zwischenschritte vornehmen. Ein erster wichtiger Schritt besteht in der Feststellung, dass die Plattformunternehmen, deren Entstehung in den Neunzigerjahren zu beobachten und deren grosser Take-off nach der Dotcom-Blase zu verzeichnen ist, aufgrund verschiedener geschäftlicher Vorteile eine hohe Attraktivität für Finanzinvestoren haben. Beispielsweise haben diese Konzerne wenig Fixkapital zu pflegen: Uber besitzt keine Autos, Airbnb keine Wohnungen.
Sie lösen sich im Grunde von den Produktionsmitteln.
Genauer: Ihre Produktionsmittel sind vor allem Hard- und Software. Zugleich können sie eine rabiate Externalisierung von Arbeitskosten betreiben, etwa durch Wegwerfarbeiter oder Tagelöhner, die überall unterwegs sind in unseren Städten. Wie Finanzunternehmen auch sind die Plattformen zudem überaus artistisch in der Steuervermeidung, weil lizenzierte Datenprodukte recht leicht über die Grenzen zu transportieren sind, anders als Fabrikanlagen. Und was diese Unternehmen, aber auch die Finanzinvestoren besonders lieben: Sie folgen dem power law, also dem exponentiellen Wachstum, das durch Netzwerkeffekte generiert wird. Das prägt eine gleichsam naturwüchsige Tendenz zur Monopolbildung und dazu, bestehende Märkte zu zerstören.
«Netzwerkeffekte» meint die Potenzierung von Nutzerzahlen – Nutzerinnen generieren Nutzerinnen?
Ja, bei einem linearen Wachstum von Knoten im Netz zeichnen sich die möglichen Beziehungen, die zwischen den Knoten existieren, durch nicht-lineare oder konvexe Wachstumskurven aus. Nutzer verzinsen sich gewissermassen mit Nutzern. Damit können die sogenannten Grenzkosten radikal gesenkt werden. Für den Ausbau der Unternehmen muss man dann nicht etwa zusätzlich Immobilien bauen, sondern nur die Rechnerkapazitäten erweitern.
Wenn man die Veränderungen berücksichtigt, die Sie eben beschrieben haben, was passiert dann mit klassischen kapitalismuskritischen Kategorien wie Ausbeutung, Entfremdung, Mehrwert? Taugen die noch zur Beschreibung?
Eine Sache ist entscheidend: Diese Unternehmen haben mit Gütern zu tun, die Ökonomen nicht-rivalisierende Güter nennen, also Güter, die sich durch Unknappheit auszeichnen. Information wird durch den Gebrauch nicht weniger, anders als der Wein in der Flasche oder das Benzin im Tank. Aus diesem Grund, und das ist so simpel wie clever, müssen diese Unternehmen den Zugang zur Information asymmetrieren. Diejenigen, die Daten produzieren – also das, was man User oder sogar «Produser» nennt –, müssen vom Zugang zu dem, was sie selbst in diesen Netzwerken produzieren, konsequent ausgeschlossen werden.
Der «Produser» unterliegt einer anderen Art der Entfremdung von dem Produkt, das er herstellt – gar nicht mit dem Willen, ein Produkt herzustellen?
«Produser» sind ja Nutzer oder User, die gar nicht merken, wie und wo sie mit beliebigen Netzaktivitäten Datenrohstoffe produzieren. Allerdings würden die Geschäfte der Datenraffinerien nicht funktionieren, wenn sie den Nutzern nicht auch Spass machen würden. Und Spass lässt sich nicht unbedingt als krasse Entfremdungserfahrung fassen. Also werden dort bestimmte Verträge geschlossen, bewusst oder unbewusst, und ich würde diese Verträge Kontrollverträge nennen. Man nutzt das Privileg kostengünstiger oder kostenloser Angebote – die Nutzung von Apps, Maps, Navigationshilfen, Wörterbüchern, Suchmaschinen, was auch immer – unter der Bedingung, dass man die damit produzierten Daten abtritt. Dabei, und das ist das Entscheidende, findet so etwas wie digitale Enteignung statt. Deswegen entwickeln diese Unternehmen auch einen so hohen advokatorischen Grimm, um den Zugriff auf diese Daten durch die Nutzer zu verhindern.
Wenn man das User-Verhalten auf die digitale Öffentlichkeit hin befragt: Sie sprechen bei diesen Plattformen, speziell den Social Media, von einer Ausbeutung der Urteilslust. Was ist damit gemeint?
Ich muss vielleicht noch etwas über den Zusammenhang von Finanzökonomie und Plattformen vorwegschicken. Eine meiner Thesen ist, dass die prototypischen Plattformen entstanden sind, bevor eigentlich die digitale Netzwerkarchitektur zur Verfügung stand. Und zwar sind das privatisierte Börsenschauplätze gewesen wie etwa Nasdaq. Over-the-counter-Geschäfte; die Loslösung der Finanzgeschäfte von reglementierten Börsenschauplätzen in private Handelsplätze hat sich dort vollzogen. Und spätestens mit der Privatisierung des Internets 1996 und der Freigabe des Netzes für Finanztransaktionen ist das Netz zu einem der grössten Umschlagplätze für Finanztransaktionen überhaupt geworden. Schon im Jahr 2000 flossen täglich knapp zwei Billionen Dollar durch die elektronischen Netze von New York.
Mit der Privatisierung des Internets 1996 meinen Sie den Telecommunications Act in den USA?
Ja. Das Gesetz, mit dem die Netzwerkarchitektur – die ja öffentlich war, zwischen Universitäten und Militärinstitutionen hervorgebracht wurde, die lange Zeit eine Art Ladenhüter war und nicht wirklich Grossinvestoren angezogen hat – radikal privatisiert wurde.
Jetzt haben Sie beiläufig das gängige Narrativ aus dem Silicon Valley über den Haufen geworfen. Das lebt ja vom Erfindergeist im Garagen-Start-up, die Erzählung beginnt mit der genialen Einzelperson. Bei Ihnen ist das eher ein Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung.
Völlig richtig. Die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato beispielsweise hat nachgewiesen, dass dieser Mythos vom kühnen Erfindergeist die Lage nur partiell trifft. Die wichtigsten Produkte etwa für die Funktionstüchtigkeit des Internets – einheitliche Datenformate und Protokolle, Mikroprozessoren, Betriebssysteme oder E-Mail-Programme – wurden zunächst mit grossen staatlichen Mitteln gefördert, um dann aus gewisser Distanz privat und profitabel verwertet zu werden. Für Mazzucato war das ein weiterer Beweis dafür, dass man Kosten sozialisiert und Gewinne privatisiert. Und es kommt mit dem Telecommunications Act von 1996 ein Zusatzgesetz hinzu, das etwas erzeugt hat, was man Internet-Exzeptionalismus nennt, nämlich das sogenannte Haftungsprivileg. Mit Paragraf 230 des Communications Decency Act, dieses Zusatzgesetzes, werden Internetprovider von der Verantwortung gegenüber den eingestellten Inhalten befreit. Dadurch entstand eine Situation, die man mit einem Paradox formulieren kann, das bis heute gilt: Wer veröffentlicht, ist nicht verantwortlich. Wer aber Content verantwortet, betreibt keine Veröffentlichung.
Ist das ein weiteres Beispiel für Privatisierung von Gewinnen, Sozialisierung von «Kosten»?
Es ist eine meiner Thesen, dass die Privilegien, die das Finanzkapital historisch immer ausgezeichnet haben, sich mit dem Internet-Exzeptionalismus kombinieren, also mit einem einzigartigen Geschäftsmodell: Wir haben es heute mit Unternehmen zu tun, die für ihre Produkte keinerlei Verantwortung übernehmen müssen. Selbst ein Konzern wie Monsanto beziehungsweise Bayer kann irgendwann mal Ärger mit Glyphosat bekommen. Aber die Konzerne der Plattformindustrie kriegen mit keinem Algorithmus und keinem vertriebenen Produkt Schwierigkeiten. Im Gegenteil, sie haben inzwischen so etwas wie normative Enklaven hergestellt. Wie wir alle wissen, entscheiden in letzter Konsequenz die Unternehmen selbst, welche Inhalte sie einstellen oder löschen. Sie können vielleicht angefleht werden, nachträglich zu löschen, aber sie werden nicht dafür verantwortlich gemacht, was einmal eingestellt worden ist.
Heisst das, Social Media sollten Ihrer Meinung nach als Medienunternehmen behandelt werden – wie klassische Medien?
In der besten aller publizistischen Welten: ja. Hier gibt es ein Loch an Verantwortlichkeit, an Haftung, an Legitimation. Und natürlich würde sich das Geschäftsmodell radikal ändern, wenn man solche Medienunternehmen direkt verantwortlich machen könnte und nicht bloss nachträglich darum bitten müsste, sich selbst ein paar Regeln zu geben. Private Schiedsgerichte ersetzen den Rechtsweg.
Deswegen bleibt ja das Dilemma: Wenn de facto Firmen die Rolle von Gerichten übernehmen, also beispielsweise über Löschung entscheiden, dann ist das ein grundsätzliches Problem für den Rechtsstaat. Wenn aber umgekehrt vielleicht staatliche Stellen die Abermillionen Tweets in Echtzeit kontrollieren sollten: Wie soll das gehen?
Gar nicht. Aber dabei wird deutlich, wie technologisch-ökonomischer Druck eine rechtliche Zwangslage erzeugt. 6000 Tweets pro Sekunde oder 3 Millionen Posts pro Minute sind eben nicht mehr oder nur maschinell überprüfbar. Die gegenwärtige Reform des Urheberrechts und die hitzigen Debatten über Uploadfilter zeigen das: Solche Diskussionen werden seltsamerweise unter der Voraussetzung geführt, dass das Geschäftsmodell der Plattformindustrie selbst nicht infrage gestellt wird. Das bleibt ein blinder Fleck.
Mal ganz konkret: War die Sperrung von Donald Trump auf Facebook und Twitter eine Stärkung oder eine Schwächung der Demokratie?
Weder noch. Sie hat bloss gezeigt, wie diese neue Mediensouveränität funktioniert. Nachdem der Sturm auf das Kapitol gescheitert war, hat man den noch amtierenden Präsidenten auf Twitter und Facebook schlicht abgesetzt – öffentlich entmachtet und kastriert. Bis zu diesem Augenblick aber war die Symbiose mit dem präsidialen Grimm ergiebig und sinnvoll.
Ökonomisch sinnvoll?
Ökonomisch sinnvoll für die Plattformen und politisch sinnvoll für Trump. Danach wurde es für die Konzerne ökonomisch und politisch riskant, und man tat, was clevere Gewinner tun: Man gab den Verlierer verloren.
Von kapitalismuskritischer Seite lautet das Narrativ häufig: Der Markt dominiert die Politik. Lässt das nicht manchmal übersehen, dass einige dieser Plattformen auch regelrecht marktfeindlich sind? Nehmen wir Amazon: Mit der Allvermessung und Big Data soll ja nichts dem Zufall überlassen, Konkurrenz möglichst ausgeschaltet werden, ebenso wie Zwischeninstanzen. Ist Amazon in Wirklichkeit eine Planwirtschaft, wie das Leigh Phillips und Michal Rozworski in ihrem Buch nahelegen?
Interessant ist, dass sich seit geraumer Zeit etwas anbahnt, was selbst Erzliberalen etwas unheimlich erscheint. Auf der einen Seite herrscht eine demonstrative Apologie des Monopols. Man tut alles, um sich aus dem Wettbewerb freizukaufen. Konkurrieren sollen die Arbeitskräfte, konkurrieren sollen die kleinen Geschäfte, konkurrieren sollen Handwerker. Aber Grossunternehmen konkurrieren nicht wirklich, das ist unter ihrer Würde. Aber das hat man hingenommen. Neu ist jedoch, dass diese Monopole nun Gegenstand einer ideologischen Verstärkung werden und dass Leute auftreten und sagen: Die Zukunft des Kapitalismus besteht ausschliesslich in der Herstellung von Monopolen.
Sie spielen auf Aussagen zum Beispiel des Investors Peter Thiel an?
Ja, und diese neue Verlautbarungslogik ist das eine. Damit ist zweitens verbunden, dass diese Unternehmen nicht auftreten, um Märkte zu beliefern, sondern um sie zu zerstören. Das Ziel ist, drittens, selbst die Rahmenbedingungen für Marktzugänge zu setzen, von denen man früher glaubte, der liberale Staat würde so etwas regeln. Deswegen kann man heute eine gewisse Nähe zwischen einer durchaus radikalen Kritik und einer älteren liberalen Kritik am gegenwärtigen Plattformkapitalismus erkennen. Man sollte diese Nähe und die Koalitionen, die da möglich sind, nicht unterschätzen.
Kommen wir noch einmal auf den «Produser» zu sprechen, die Social-Media-Plattformen und Ihren Schlüsselbegriff des Ressentiments, den Sie aus dem 19. Jahrhundert herleiten. Wie definieren Sie Ressentiment?
Lassen Sie mich zunächst eine längere Herleitung versuchen. Seit der Entstehung von bürgerlichen Marktgesellschaften in der Frühen Neuzeit, also spätestens seit dem 17. und 18. Jahrhundert, gibt es Sozialtheoretiker und Moralphilosophen, die so etwas wie eine anthropologische Revolution konstatieren. Man spricht von neuen Trieben der Selbsterhaltung und der Selbstliebe, Kant macht eine «ungesellige Geselligkeit» geltend, und im Zusammenhang mit neuen Marktdynamiken möchte man beobachten, wie ehemalige christliche Todsünden oder Hauptlaster – also Neid, Habgier, Geiz, Verschwendung – produktiv werden. Dieser Lasterkatalog könnte nun als gesellschaftliche Produktivkraft adressiert werden. Viel klüger als die Tugenden sind die Laster; mit ihren Tricks und Kniffen tragen sie gewissermassen zur Beförderung des Marktgeschehens bei.
Das Thema der «Bienenfabel» …
Ja, in der «Bienenfabel» von Bernard Mandeville ist das sozusagen in Verse gefasst. Der Wirtschaftshistoriker Albert Hirschman hat in seinem Buch über das Verhältnis von Interessen und Leidenschaften in der Frühen Neuzeit genau diesen Sachverhalt nachgezeichnet: wie der Markt eine Maschine zur Erzeugung, aber auch zur Abschöpfung und zur Transformation von Leidenschaften und Affekten wird. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das heisst in einer Zeit, in der sich der Finanz- und Industriekapitalismus entwickelt hatte, fanden dann vermehrt Beobachtungen über das statt, was nun «Ressentiment» genannt wurde. Ganz prominent natürlich bei Nietzsche, aber auch bei Autoren wie Tocqueville, Kierkegaard und Dostojewski. Und diese verstreuten Untersuchungen werden später nochmals aufgegriffen, unter anderem von Werner Sombart und Max Scheler. In all diesen Studien wird der Sozialaffekt des Ressentiments mit den Bewegungen des modernen Kapitalismus in Verbindung gebracht, mit Konkurrenzgesellschaften oder mit der Dynamik von Gründerzeiten.
Das heisst?
Das Ressentiment ist ein ökonomisches Moralprinzip kapitalistischer Gesellschaften. Mit Kierkegaard gesagt, wäre das ein «negativ-einendes Prinzip», in ihm erweist sich eine «negative Einheit der negativen Gegenseitigkeit der Individuen». Anders formuliert: Das Ressentiment ist die Affektausstattung von Gewinnlern und Profitlern im entwickelten Konkurrenzsystem – stets wird einem etwas weggeschnappt, immer hat ein anderer mehr, und was einem fehlt, spiegelt sich im Phantasma eines fremden Geniessens. Im Grunde kombiniert sich darin ein abstraktes Begehren mit einem abstrakten Vergeltungsgefühl.
So würden Sie auch die gegenwärtige Plattformökonomie definieren: als Markt für die Zirkulation von Ressentiments?
Ja, und zwar durch die Mobilisierung von separaten Communitys und sozialen Monaden, durch die Stimulierung einer affektiven und kognitiven Segregation, durch eine ballistische Schnellkommunikation, in der es um fixe Treffer und Schläge geht. Privilegiert wird das bloss Meinungshafte, samt selbstverstärkender Feedbackschleifen. Das alles sind gute Voraussetzungen für die Produktion sozialer und politischer Schismen. Das Ganze wird von den technologisch-ökonomischen Infrastrukturen unterstützt, und die Förderung von Ressentimentbereitschaft gehört mit zum Geschäft.
Es geht um Meinung, entkoppelt von Gründen und Reflexion?
Meinungen sind Äusserungen minus Beweis- und Begründungslast. Darum sind sie so leicht prozessierbar, skalierbar, automatisierbar, während die Herstellung von Wissen, die Verwicklung in Begründungslasten und Legitimationspflichten Lebenszeit verschlingt und maschinelle Schnellkommunikation blockiert. Das bloss Meinungshafte besitzt also einen systemischen Vorteil in der digitalen Netzkommunikation.
Sie schreiben, auf den Plattformen ist das Ressentiment zugleich Produkt und Produktivkraft. Steckt dahinter nicht ein extrem negatives Menschenbild? Wir sind alle von der Feindseligkeit getrieben und wollen das dann auch noch konsumieren!
Ich bin da viel weniger radikal als andere, als beispielsweise Nietzsche, der tatsächlich den Menschen selbst als ein ressentimentales Tier bestimmt hat. Ich bin vorsichtig und meine nur: Das Ressentiment ist eben nicht einfach eine psychische Innenausstattung, sondern Teil einer ökonomisch-technischen Infrastruktur, und wird dort erstens benutzt und zweitens produziert, es ist also Produktivkraft und Produkt zugleich. Geschäftsmodelle auf den sogenannten Social Media funktionieren nur unter der Bedingung der Community-Feedback-Loops, also indem man partikulare Konformismen herstellt, die dann adressiert, gepflegt und kommerzialisiert werden können. Das heisst, vor dem Hintergrund eines allgemeinen Inklusionsanspruchs werden zugleich partikulare Identitäten hervorgebracht. Es gibt eine geschäftlich motivierte Identitätspolitik in diesen Unternehmen. Und dass damit soziale Kollisionen und Reibungen zum Geschäftsmodell gehören, leuchtet, glaube ich, unmittelbar ein. Diese Unternehmen gehen also einen entgegengesetzten Weg zu dem, was man in jüngeren Demokratietheorien unterstellen würde: nämlich dass man von partikularen Identitäten ausgeht und sie überschreitet, um sich auf einen Horizont des Universellen hin zu öffnen.
Letzteres könnte auch eine Beschreibung des Projekts emanzipatorischer Identitätspolitik ausserhalb dieser Netzwerke sein.
Genau. Aber dieser Prozess wird im Businessplan der Plattformen radikal umgekehrt. Man geht von einer allgemeinen Inklusion der Nutzer aus: je mehr Nutzer, je universeller die Inklusion, desto besser die Beherrschung des Markts. Als Effekt davon wird aber Partikularität produziert: soziale Monaden, die nur unter der Bedingung einer gewissen Reibungsintensität neben- oder mit- oder gegeneinander existieren.
Sie sagen, Sie seien weniger radikal als Nietzsche. Dennoch: Wo ist in Ihrer «kurzen Theorie der Gegenwart» die positive, die konstruktive, die einhegende Kraft?
Lassen Sie es mich direkt sagen: Ich habe sie nicht gesehen. Ich bin aber gerne bereit, auf meinen blinden Fleck verwiesen zu werden. Und vielleicht muss ich dazusagen, dass es mir widerstrebt hätte, ein Buch mit der Gattungsformel «Die Risiken und Chancen von …» zu schreiben. Das ist ein Genre, in dem andere wahrscheinlich artistischer oder einfallsreicher sind. Darum ging es mir nun tatsächlich nicht.
Ist aus Ihrer Sicht eine Social-Media-Plattform denkbar, die den von Ihnen beschriebenen Dynamiken des Ressentiments entkommt?
Es gibt ja durchaus Netzaktivisten, die mit einer gewissen Sentimentalität auf die Achtziger- und frühen Neunzigerjahre zurückblicken. Und es gibt – diese Dinge habe ich selbst tatsächlich nur indirekt aufgegriffen – natürlich auch Digitalspezialisten wie die Working Group on Infodemics, die konkrete Vorschläge zur Entgiftung des Netzes machen. Zum Beispiel die Verzögerung von Reiz- und Reaktionszusammenhängen und das Erzeugen von technologischen Abklingbecken. Es geht letztlich um die Frage: Lassen sich in die digitale Netzkommunikation auch Unterbrecher, Pausen, Störquellen einfügen? Ausserdem werden derzeit Vorschläge von ehemals erzliberalen Institutionen gemacht, beispielsweise der Europäischen Kommission. Die hat nun bemerkt, dass es zwischen dem amerikanischen und dem chinesischen Staats- beziehungsweise Internetkapitalismus einen dritten, europäischen Weg geben sollte, der von einem Informationsbegriff im Sinne des Gemeinguts ausgeht. Und dass deswegen der Gebrauch, die Nutzung und der Vertrieb von Information in den elementaren Funktionsweisen nicht ausschliesslich in privater Hand liegen dürfen. Seit Ende des letzten Jahres gibt es den sogenannten Digital Services Act, den Digital Markets Act und den Data Governance Act.
Das sind momentan noch Entwürfe.
Gesetzesentwürfe, die spätestens seit Dezember 2020 kursieren und wenigstens drei Dinge in den Blick nehmen. Erstens die Monopolstellung bestimmter Unternehmen. Zweitens die Datenextraktion zu geschäftlichen Zwecken, das Absaugen von europäischen Daten, auch öffentlichen Daten, in amerikanische Unternehmen – und damit natürlich auch in die konzertierte Nutzung durch Privatunternehmen und amerikanische Geheimdienste. Drittens das damit verbundene Haftungsprivileg, die strukturierte Verantwortungslosigkeit, wenn man so will. Die offene Frage also ist, wie weit sich Europa in Richtung digitale Souveränität bewegt oder wird bewegen können.
Nun gibt es seit der Finanzkrise einen Boom an kapitalismuskritischen Büchern. Allein jüngst etwa von Katharina Pistor, Quinn Slobodian, Thomas Biebricher, Philipp Staab. Kann es sein, dass die intellektuelle Kapitalismuskritik mittlerweile rituell bejubelt wird – und zugleich ändert sich an den Verhältnissen herzlich wenig?
Ein paar freundliche Rezensionen bedeuten noch keinen allgemeinen Jubel, und ich würde es andersherum drehen: Die Kapitalismuskritik ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Auch dazu gibt es ja Studien, etwa von Boltanski/Chiapello, die zeigen können, welch grosse Rolle mittlerweile die sogenannte Rückübertragung spielt, also die Integration von Kapitalismuskritik in bestimmte Geschäftsmodelle. Deswegen ist auch der Begriff der Kapitalismuskritik eine ratlose Berufsbezeichnung und enthält noch kein intellektuelles, kein theoretisches oder praktisches Programm. Allerdings glaube ich nicht, dass man die gegenwärtige Lage analysieren kann, ohne die soziale und politische Gewalt des aktuellen Wirtschaftssystems zu berücksichtigen. Und wenn man dabei zu düsteren Farben greift, wie ich das getan habe, so heisst das eben: Die Verhältnisse werden sich nicht ändern, wenn man sie nicht ändert.
Wie kommen wir von einer Kultur des Ressentiments zu einer Stärkung reflektierter Kritik?
Ressentiment ist ja durchaus eine Spielart von Kritik, und niemand kann wohl behaupten, er oder sie wäre ganz und gar frei davon. Es produziert den bösen Blick, es sinnt auf Genugtuung, es aktiviert Kränkungs- und Verletzungsgefühle. Aber – und das ist die Falle des Ressentiments – es nimmt meist einen mehr oder weniger polizeilichen Weg: Das Ressentiment fahndet und verdächtigt, gibt sich einer gewissen Straffreudigkeit hin, ruft nach stärkeren Instanzen und Mächten, die sich um die Schädigung oder Bändigung der Beleidiger kümmern sollen, schliesslich sucht es stets nach konkreten Schuldigen – irgendjemand muss ja schuldig sein, wenn es mir schlecht geht. Das wäre die Falle oder Sackgasse ressentimentaler Kritik. Kritik selbst aber sollte den umgekehrten Weg nehmen: heraustreten aus der Urteilssucht, aus der Vergeltungslust. «Schluss mit dem Gericht», wie es bei Deleuze einmal geheissen hat, das wäre tatsächlich ein Leitmass für die Erzeugung von nicht ressentimentalen Milieus.
In einer früheren Version war eine Aussage über nicht-lineares Wachstum von Knoten im Netz nicht korrekt. Wir haben die Stelle angepasst und bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.
Joseph Vogl: «Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart». Verlag C. H. Beck, München 2021. 224 Seiten, ca. 27 Franken.