Das trostlose Dasein der Gletscher in der Klimaerwärmung. Alle Bilder in diesem Beitrag stammen aus der Serie «Memento» (2005–2010). Tonatiuh Ambrosetti

Die Hoffnung schmilzt zuletzt

Mit dem abgelehnten CO2-Gesetz rücken die Schweizer Klimaziele in weite Ferne. Droht jetzt die grosse Resignation?

Von Elia Blülle, 18.06.2021

Der gelbe Wegweiser auf den Plakaten für ein Ja zum CO2-Gesetz zeigte nicht nach oben, nicht nach unten und auch nicht nach links, sondern nach rechts – dahin, wo der Schweizer Klima­schutz am letzten Abstimmungs­sonntag hingewandert ist.

Rückblickend wirkt die Kampagne, mit der über 160 Parlamentarierinnen, mehr als 90 Organisationen und 200 Unternehmen im ganzen Land für die bisher wichtigste Schweizer Klima­vorlage warben, wie eine finstere Prophezeiung. Denn angeführt von der SVP und der Erdöl­wirtschaft, trat das Stimmvolk das CO2-Gesetz knapp in die Tonne. 51,6 Prozent lehnten es ab.

Für die zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga ist das Nein kein Nein zum Klimaschutz, wie sie direkt nach der Abstimmung beschwichtigte.

Es sind die Worte einer Pilotin, die zur Ruhe mahnt, während eine Turbine in Flammen steht, die Atemschutz­masken von der Decke fallen und Panik ausbricht. Tatsache ist: Die Schweiz hat nach jahrelanger Beratung, als eines der reichsten Länder der Welt, als erstes Volk überhaupt, an der Urne gegen ihr völker­rechtliches Versprechen «netto null bis 2050» votiert.

Für den Absturz mag es nachvollziehbare Gründe geben. Die symbolische Wirkung des jüngsten Abstimmungs­entscheids ist jedoch gravierend. Im Vergleich zur Europäischen Union oder zu Deutschland gerät die Schweiz mit dem Klima­schutz nun deutlich ins Hinter­treffen. Trotzdem kann es immer noch gelingen, die Schweizer Klima­politik wieder auf Kurs und die Pariser Ziele auf den Boden zu bringen. Fragt sich nur, wie.

Klimapolitik mit der SVP: Ist das überhaupt möglich?

Die direktdemokratischen Gepflogenheiten verlangen, dass man nach einer gescheiterten Abstimmung zuerst einmal die Gewinner anhört. Ihnen die Möglichkeit gibt, Lösungen zu präsentieren. Deshalb sagen nun Vertreter aller Parteien und auch der Umwelt­organisationen: Jetzt stehen bei der Klima­politik jene Kräfte in der Pflicht, die das CO2-Gesetz versenkt haben.

Nachfrage also bei SVP-Nationalrat Christian Imark, der die Vorlage an vorderster Front bekämpft hat: Wie sieht der Klima­schutz seiner Partei aus?

«Das ‹Netto-null-Ziel› muss überarbeitet werden», antwortet der Solothurner, ohne eine Sekunde zu zögern. «Sobald wir uns darüber einig sind, können wir das CO2-Gesetz revidieren, effizienter machen und uns überlegen, wie wir für den Franken am meisten CO2 reduzieren.»

Tonatiuh Ambrosetti

Was das konkret heisst, hat Imark bereits im Abstimmungs­kampf mit seiner klima­politischen Strategie dargelegt. Der «10-Punkte-Plan» enthält einige interessante Gedanken wie zum Beispiel die Unter­stützung von Wasserstoff­entwicklung oder die Förderung von synthetischen Treibstoffen.

Verheissungsvolle Technologien – die aber noch weit von ihrer Marktreife entfernt sind und deren tatsächliche Effizienz fraglich ist. So oder so: Es braucht für die rasche Dekarbonisierung breite Investitionen und Anreize – notfalls Regulierungen. Das ist unter Ökonominnen weitgehend unbestritten.

Nationalrat Imark leugnet die Klimakrise nicht mehr, so, wie es teilweise seine Vorgänger getan haben und wie es manche seiner Kollegen in der SVP immer noch tun. Er versteht etwas von der Energie- und Umwelt­politik, erzählt von seiner Wärme­pumpe im Keller und den drei Elektro­lastwagen, die er für seine Firma gekauft hat. Mit ihm hat die SVP einen glaubwürdigen Politiker gefunden, der weiss, welche Botschaften verfangen. Das hat die Kampagne gegen das CO2-Gesetz eindrücklich bewiesen.

Imark schreckt aber auch nicht davor zurück – entlang der SVP-Rhetorik –, engagierte Forscher wie etwa den ETH-Klimatologen Reto Knutti konsequent als «Pseudo­wissenschaftler» zu beschimpfen. Und in der Sieges­euphorie sägt Imark in diesen Tagen bereits wieder am Fundament der Klima­politik. Im Nationalrat will er gemäss eigener Angaben bald mit einem Vorstoss das Klimaziel «netto null 2050» bekämpfen und macht damit klar: Auch nach gewonnener Abstimmung bedeutet Klimapolitik mit der SVP in den allermeisten Fällen Polemik und die Aufrechterhaltung des Status quo.

Doch der Status quo genügt nicht – das ist keine ideologische Beurteilung, sondern ein Fakt: Die Schweiz verfehlte damit 2020 das eigene Klimaziel.

Wie soll es jetzt also weitergehen? Massnahmen – wie etwa neue Lenkungs­abgaben auf fossile Energie oder zusätzliche Investitions­fonds – sind nach dem Nein zum CO2-Gesetz definitiv vom Tisch. Nun müssen die Politiker eine neue Vorlage zimmern, wobei ihnen dafür plötzlich nur noch die halbe Werkzeug­kiste zur Verfügung steht.

Bis ein neues Gesetz vorliegt, dürfte viel Zeit vergehen. FDP-Ständerat Ruedi Noser rechnet mit vier bis fünf Jahren und mahnt zur Geduld. Was passiere, wenn die Politik überstürze, habe sich beim CO2-Gesetz nun deutlich gezeigt. «Hast du keine Zeit, dann lauf langsam», sagt der Zürcher Politiker.

Ein neues CO2-Gesetz wird die Schweizer Klima­politik also nicht aus dem Sumpf ziehen. Deshalb hoffen in Bern nun viele Parteien, die Umwelt­verbände und auch Ständerat Ruedi Noser auf eine Volks­initiative, die alles verändern könnte und den letzten Abstimmungs­sonntag vergessen liesse.

Eine Initiative stellt die Schicksals­frage: Paris ja oder nein?

Kaum war am Sonntag das Abstimmungs­resultat bekannt, bestellten Hunderte Menschen bei der Gletscher­initiative eine Kampagnen­fahne. 25’000 Stück davon wehen bereits an Schweizer Hausfassaden.

Marcel Hänggi war einer der bekanntesten Schweizer Umwelt­journalisten, bevor er wenige Monate nach der Pariser Klima­konferenz 2015 die Rolle des Beobachters ablegte und die Gletscher­initiative lancierte. Als im März 2018 erstmals eine Zeitung über das Projekt berichtet habe, hätten es viele als zu extrem empfunden, schreibt Hänggi in seinem Buch zur Initiative: «Auch Leute, die sich seit Jahren für Umwelt­schutz oder die Energie­wende engagieren, reagierten mit Skepsis, weil sie fürchteten, die Volks­initiative könnte kontra­produktiv sein.»

Die Gletscher­initiative möchte den Klimaschutz in der Verfassung verankern und fossile Energie­träger spätestens ab 2050 verbieten. In ein bis zwei Jahren soll sie zur Abstimmung kommen. Noch in diesem Monat wird der Bundesrat seinen definitiven Gegen­vorschlag präsentieren, der voraus­sichtlich ein grund­sätzliches Verbot von Benzin und Erdöl ausschliessen wird.

Hinter der Initiative steckt ein Trägerverein mit rund 2500 Mitgliedern, die sämtliche Entscheide basis­demokratisch fällen. Im Gegensatz zur verkorksten Kampagne zum CO2-Gesetz will die Gletscher­initiative eine Bewegung anstossen, die das Anliegen von unten mitträgt. Zehn bezahlte Campaignerinnen bereiten im Hinter­grund bereits den Abstimmungs­kampf vor – darunter auch der erfolgreiche Basler Polit­stratege Daniel Graf, der im Februar die Volks­abstimmung zur E-ID mit über 64,4 Prozent gewonnen hat.

Die Gletscher­initiative werde heute von fast niemandem mehr als zu radikal bezeichnet, sagt Marcel Hänggi. Wie umfassend die Sympathien für das Projekt ausfallen, zeigt auch die Vernehmlassung zum Gegen­vorschlag. Darin lehnt zum Beispiel der tendenziell bürgerliche Regierungsrat des Kantons Appenzell Ausser­rhoden den bundesrätlichen Gegen­vorschlag ab und unterstützt stattdessen die Volks­initiative. So was kommt extrem selten vor.

Auch der Schweizer Alpen-Club (SAC) mit seinen 150’000 Mitgliedern unterstützt die Initiative – letztmals hat sich der mehrheitlich unpolitische Verein vor 47 Jahren in einen Abstimmungs­kampf eingemischt, als er sich für die «Initiative zur Förderung der schweizerischen Fuss- und Wanderwege» aussprach.

«Wir fragen die Schweizer Bürger nun, ob sie sich zu den Pariser Klimazielen bekennen oder nicht», sagt FDP-Ständerat Ruedi Noser. «Sagt das Volk Ja, haben wir eine neue und deutliche demokratische Legitimation für mehr Klimaschutz.»

Trotzdem fragt man sich nach dem letzten Sonntag, ob sich beim Stimmvolk dafür überhaupt Mehrheiten finden lassen: Hat die Ablehnung des CO2-Gesetzes der Gletscher­initiative geschadet?

Hänggi erinnert sich, wie er als Journalist 2009 die Klima­konferenz in Kopenhagen begleitet hat, die ausser einem deprimierenden Minimal­konsens nichts zustande gebracht habe. Damals sei er frustriert gewesen, aber dieses Scheitern habe erst den Weg bereitet für das historische Pariser Abkommen.

«Vielleicht war das CO2-Gesetz unser Kopenhagen», sagt Hänggi. «Eine Chance für die Gletscher­initiative, die viele Menschen mobilisiert, eine positive Dynamik auslöst und die kritische Masse vereint.»

Tonatiuh Ambrosetti

Trotzdem warnt er vor Bequemlichkeit. Die sechs Jahre Verzögerung zwischen Kopenhagen und Paris seien eine Katastrophe gewesen für das Klima. Die Gletscher­initiative muss noch vom Parlament beraten werden, die Mehrheit der Bürgerinnen und vor allem auch die Mehrheit der Kantone überzeugen. Bis dann ein möglicher Verfassungs­artikel tatsächlich wirke, würden mehrere Jahre vergehen.

Kommt hinzu: Eine Annahme der Initiative ist alles andere als sicher. Schafft sie es nicht, die vielen Land­kantone zu überzeugen, wird sie wie die beliebte Konzern­verantwortungs­initiative am Ständemehr scheitern.

Allein auf die Gletscher­initiative zu hoffen, reicht also nicht.

Jetzt übernehmen Kantone und Gemeinden

Diese Woche hat der Nationalrat beschlossen, die Förder­lücke bei erneuerbaren Energien zu schliessen. Neue Windenergie-, Klein­wasserkraft-, Biogas-, Geothermie- und Fotovoltaik­anlagen will er ab 2023 mit einmaligen Investitions­beiträgen fördern. Zudem will Bundes­rätin Sommaruga noch vor den Sommer­ferien die Revision des Energie­gesetzes verabschieden, die sie wahrscheinlich mit dem revidierten Strom­versorgungs­gesetz verknüpft.

Die Vorlage soll die 2017 angenommene Energie­strategie umsetzen und vor allem den bislang zögerlichen Ausbau der Fotovoltaik massiv beschleunigen. «Wir haben beim Klima und bei der Energie im Moment ein extrem dichtes Politik­programm», sagt WWF​-Klima­experte Patrick Hofstetter und betont, dass Klima­politik nicht nur in Bern stattfinde.

Vor knapp einem Monat haben sich die drei wichtigsten EU-Institutionen – der Europäische Rat, das EU-Parlament und die EU-Kommission – nach harten Verhandlungen auf ein erstes europäisches Klimagesetz geeinigt. Es verfügt, dass die Union bis 2050 klimaneutral werden muss und bis 2030 mindestens 55 Prozent weniger Treibhaus­gase als 1990 ausstossen soll.

«Die damit verbundenen neuen europäischen Klima­direktiven werden wir teilweise übernehmen wollen», ist Hofstetter überzeugt.

Der WWF-Lobbyist bedauert zwar das Nein vom Wochenende, versteht es aber auch als Auftrag an die kantonale und kommunale Politik, jetzt Verantwortung zu übernehmen und die nötigen übergeordneten Kompetenzen einzufordern. Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung leben in Städten und der Agglomeration. Urbane Gegenden erbringen 84 Prozent der Wirtschafts­leistung und verursachen auch die meisten Treibhaus­gase. Die Abstimmung vom Sonntag, aber auch verschiedene Beschlüsse in Städten wie Basel, Bern und Zürich zeigen: In urbanen Gebieten finden sich Mehrheiten für einen wirklich tief greifenden Klimaschutz.

Die Stadt Zürich will bis 2040 klimaneutral werden, eine hängige Volksinitiative mit guten Chancen fordert im Kanton Basel-Stadt netto null bis 2030. Aber auch in grossen konservativen Kantonen wie etwa dem Kanton Aargau könnte eine Mehrheit mit der ebenfalls hängigen Klimaschutz­initiative der SP und der Grünen kantonale Förder­massnahmen für energetische Gebäude­sanierungen und Innovationen herbeiführen.

Der Zürcher Regierungsrat Martin Neukom schreibt auf seinem Blog, er wolle mit dem neuen kantonalen Energie­gesetz ohne Lenkungs­abgaben, sondern mit Vorschriften zum Heizungs­ersatz und finanzieller Unter­stützung verhindern, dass seine Vorlage im November abgelehnt werde. Hohe Kosten für die Haus­eigentümer würden mit zusätzlichen Regelungen vermieden.

Kommt die Vorlage im Kanton Zürich durch, könnte sie zum Vorbild für andere Kantone, aber auch für eine gesamt­schweizerische Lösung werden.

Während die nationale Klimapolitik brach liegt, können die Kantone, Städte und Gemeinden nun den Stillstand verhindern. Gleichzeitig kündigen die SP und die Grünen eine weitere Volks­initiative an, mit der sie die Geldströme auf dem Finanzplatz in Einklang mit den Pariser Klima­zielen bringen wollen. Zusätzlich beschlossen die Jungen Grünen diese Woche ihre Umwelt­verantwortungs­initiative. Die Partei fordert, die Wirtschaft solle nur noch so viele Ressourcen verwenden dürfen, dass die Belastungs­grenzen der Natur nicht überschritten werden.

In den nächsten Jahren werden sich die Schweizerinnen und Schweizer also immer wieder zu Lösungs­vorschlägen für die Klima­krise äussern müssen.

Im besten Fall dringt der Klimaschutz nun tiefer in die Politik ein und erfasst Bereiche, die bisher geschont wurden. Auf Bundes­ebene zum Beispiel wollen nun fast alle Parteien die Klima­politik stärker in den einzelnen Sektoren verankern. «Wir müssen neben einem sozialen Investitions­programm –analog dem European Green Deal – auch schärfere Vorschriften in der Verkehrs-, Landwirtschafts- und Energie­politik aufgleisen», sagt SP-National­rätin Gabriela Suter. «Die schäumenden Bäche als Folge der Wasser­verschmutzung haben wir vor 50 Jahren auch nur mit Investitionen in Klär­anlagen und mit Vorschriften wieder sauber bekommen.»

Tonatiuh Ambrosetti

Im schlechtesten Fall aber blockiert das Nein zum CO2-Gesetz neue, breite Koalitionen. Parteien und Verbände verstricken sich aus Angst vor der SVP wieder in Macht­kämpfe und distanzieren sich von inhaltlichen Diskussionen. Resignation und Fatalismus wären Gift für mehr Klimaschutz.

Das CO2-Gesetz war ein ungeliebter Minimal­kompromiss. Kompliziert. Überladen. Halbherzig. Die Tragik: Es war der beste Minimal­kompromiss, den die Schweizer Politik in den letzten 30 Jahren zustande gebracht hat.

Sein Niedergang zerstört wertvolle Zeit, setzt aber auch neue Kräfte frei – eine gute Umgebung für Innovation und neue Ideen. Sobald das Protokoll nicht mehr hilft, braucht es Risiko, Mut. Damit könnte die Schweizer Klima­politik nach dem Abstimmungs­debakel immer noch sicher, wenn auch schwer beschädigt zu Boden gebracht werden. Die Landung wird rumplig.