Die Hoffnung schmilzt zuletzt
Mit dem abgelehnten CO2-Gesetz rücken die Schweizer Klimaziele in weite Ferne. Droht jetzt die grosse Resignation?
Von Elia Blülle, 18.06.2021
Der gelbe Wegweiser auf den Plakaten für ein Ja zum CO2-Gesetz zeigte nicht nach oben, nicht nach unten und auch nicht nach links, sondern nach rechts – dahin, wo der Schweizer Klimaschutz am letzten Abstimmungssonntag hingewandert ist.
Rückblickend wirkt die Kampagne, mit der über 160 Parlamentarierinnen, mehr als 90 Organisationen und 200 Unternehmen im ganzen Land für die bisher wichtigste Schweizer Klimavorlage warben, wie eine finstere Prophezeiung. Denn angeführt von der SVP und der Erdölwirtschaft, trat das Stimmvolk das CO2-Gesetz knapp in die Tonne. 51,6 Prozent lehnten es ab.
Für die zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga ist das Nein kein Nein zum Klimaschutz, wie sie direkt nach der Abstimmung beschwichtigte.
Es sind die Worte einer Pilotin, die zur Ruhe mahnt, während eine Turbine in Flammen steht, die Atemschutzmasken von der Decke fallen und Panik ausbricht. Tatsache ist: Die Schweiz hat nach jahrelanger Beratung, als eines der reichsten Länder der Welt, als erstes Volk überhaupt, an der Urne gegen ihr völkerrechtliches Versprechen «netto null bis 2050» votiert.
Für den Absturz mag es nachvollziehbare Gründe geben. Die symbolische Wirkung des jüngsten Abstimmungsentscheids ist jedoch gravierend. Im Vergleich zur Europäischen Union oder zu Deutschland gerät die Schweiz mit dem Klimaschutz nun deutlich ins Hintertreffen. Trotzdem kann es immer noch gelingen, die Schweizer Klimapolitik wieder auf Kurs und die Pariser Ziele auf den Boden zu bringen. Fragt sich nur, wie.
Klimapolitik mit der SVP: Ist das überhaupt möglich?
Die direktdemokratischen Gepflogenheiten verlangen, dass man nach einer gescheiterten Abstimmung zuerst einmal die Gewinner anhört. Ihnen die Möglichkeit gibt, Lösungen zu präsentieren. Deshalb sagen nun Vertreter aller Parteien und auch der Umweltorganisationen: Jetzt stehen bei der Klimapolitik jene Kräfte in der Pflicht, die das CO2-Gesetz versenkt haben.
Nachfrage also bei SVP-Nationalrat Christian Imark, der die Vorlage an vorderster Front bekämpft hat: Wie sieht der Klimaschutz seiner Partei aus?
«Das ‹Netto-null-Ziel› muss überarbeitet werden», antwortet der Solothurner, ohne eine Sekunde zu zögern. «Sobald wir uns darüber einig sind, können wir das CO2-Gesetz revidieren, effizienter machen und uns überlegen, wie wir für den Franken am meisten CO2 reduzieren.»
Was das konkret heisst, hat Imark bereits im Abstimmungskampf mit seiner klimapolitischen Strategie dargelegt. Der «10-Punkte-Plan» enthält einige interessante Gedanken wie zum Beispiel die Unterstützung von Wasserstoffentwicklung oder die Förderung von synthetischen Treibstoffen.
Verheissungsvolle Technologien – die aber noch weit von ihrer Marktreife entfernt sind und deren tatsächliche Effizienz fraglich ist. So oder so: Es braucht für die rasche Dekarbonisierung breite Investitionen und Anreize – notfalls Regulierungen. Das ist unter Ökonominnen weitgehend unbestritten.
Nationalrat Imark leugnet die Klimakrise nicht mehr, so, wie es teilweise seine Vorgänger getan haben und wie es manche seiner Kollegen in der SVP immer noch tun. Er versteht etwas von der Energie- und Umweltpolitik, erzählt von seiner Wärmepumpe im Keller und den drei Elektrolastwagen, die er für seine Firma gekauft hat. Mit ihm hat die SVP einen glaubwürdigen Politiker gefunden, der weiss, welche Botschaften verfangen. Das hat die Kampagne gegen das CO2-Gesetz eindrücklich bewiesen.
Imark schreckt aber auch nicht davor zurück – entlang der SVP-Rhetorik –, engagierte Forscher wie etwa den ETH-Klimatologen Reto Knutti konsequent als «Pseudowissenschaftler» zu beschimpfen. Und in der Siegeseuphorie sägt Imark in diesen Tagen bereits wieder am Fundament der Klimapolitik. Im Nationalrat will er gemäss eigener Angaben bald mit einem Vorstoss das Klimaziel «netto null 2050» bekämpfen und macht damit klar: Auch nach gewonnener Abstimmung bedeutet Klimapolitik mit der SVP in den allermeisten Fällen Polemik und die Aufrechterhaltung des Status quo.
Doch der Status quo genügt nicht – das ist keine ideologische Beurteilung, sondern ein Fakt: Die Schweiz verfehlte damit 2020 das eigene Klimaziel.
Wie soll es jetzt also weitergehen? Massnahmen – wie etwa neue Lenkungsabgaben auf fossile Energie oder zusätzliche Investitionsfonds – sind nach dem Nein zum CO2-Gesetz definitiv vom Tisch. Nun müssen die Politiker eine neue Vorlage zimmern, wobei ihnen dafür plötzlich nur noch die halbe Werkzeugkiste zur Verfügung steht.
Bis ein neues Gesetz vorliegt, dürfte viel Zeit vergehen. FDP-Ständerat Ruedi Noser rechnet mit vier bis fünf Jahren und mahnt zur Geduld. Was passiere, wenn die Politik überstürze, habe sich beim CO2-Gesetz nun deutlich gezeigt. «Hast du keine Zeit, dann lauf langsam», sagt der Zürcher Politiker.
Ein neues CO2-Gesetz wird die Schweizer Klimapolitik also nicht aus dem Sumpf ziehen. Deshalb hoffen in Bern nun viele Parteien, die Umweltverbände und auch Ständerat Ruedi Noser auf eine Volksinitiative, die alles verändern könnte und den letzten Abstimmungssonntag vergessen liesse.
Eine Initiative stellt die Schicksalsfrage: Paris ja oder nein?
Kaum war am Sonntag das Abstimmungsresultat bekannt, bestellten Hunderte Menschen bei der Gletscherinitiative eine Kampagnenfahne. 25’000 Stück davon wehen bereits an Schweizer Hausfassaden.
Marcel Hänggi war einer der bekanntesten Schweizer Umweltjournalisten, bevor er wenige Monate nach der Pariser Klimakonferenz 2015 die Rolle des Beobachters ablegte und die Gletscherinitiative lancierte. Als im März 2018 erstmals eine Zeitung über das Projekt berichtet habe, hätten es viele als zu extrem empfunden, schreibt Hänggi in seinem Buch zur Initiative: «Auch Leute, die sich seit Jahren für Umweltschutz oder die Energiewende engagieren, reagierten mit Skepsis, weil sie fürchteten, die Volksinitiative könnte kontraproduktiv sein.»
Die Gletscherinitiative möchte den Klimaschutz in der Verfassung verankern und fossile Energieträger spätestens ab 2050 verbieten. In ein bis zwei Jahren soll sie zur Abstimmung kommen. Noch in diesem Monat wird der Bundesrat seinen definitiven Gegenvorschlag präsentieren, der voraussichtlich ein grundsätzliches Verbot von Benzin und Erdöl ausschliessen wird.
Hinter der Initiative steckt ein Trägerverein mit rund 2500 Mitgliedern, die sämtliche Entscheide basisdemokratisch fällen. Im Gegensatz zur verkorksten Kampagne zum CO2-Gesetz will die Gletscherinitiative eine Bewegung anstossen, die das Anliegen von unten mitträgt. Zehn bezahlte Campaignerinnen bereiten im Hintergrund bereits den Abstimmungskampf vor – darunter auch der erfolgreiche Basler Politstratege Daniel Graf, der im Februar die Volksabstimmung zur E-ID mit über 64,4 Prozent gewonnen hat.
Die Gletscherinitiative werde heute von fast niemandem mehr als zu radikal bezeichnet, sagt Marcel Hänggi. Wie umfassend die Sympathien für das Projekt ausfallen, zeigt auch die Vernehmlassung zum Gegenvorschlag. Darin lehnt zum Beispiel der tendenziell bürgerliche Regierungsrat des Kantons Appenzell Ausserrhoden den bundesrätlichen Gegenvorschlag ab und unterstützt stattdessen die Volksinitiative. So was kommt extrem selten vor.
Auch der Schweizer Alpen-Club (SAC) mit seinen 150’000 Mitgliedern unterstützt die Initiative – letztmals hat sich der mehrheitlich unpolitische Verein vor 47 Jahren in einen Abstimmungskampf eingemischt, als er sich für die «Initiative zur Förderung der schweizerischen Fuss- und Wanderwege» aussprach.
«Wir fragen die Schweizer Bürger nun, ob sie sich zu den Pariser Klimazielen bekennen oder nicht», sagt FDP-Ständerat Ruedi Noser. «Sagt das Volk Ja, haben wir eine neue und deutliche demokratische Legitimation für mehr Klimaschutz.»
Trotzdem fragt man sich nach dem letzten Sonntag, ob sich beim Stimmvolk dafür überhaupt Mehrheiten finden lassen: Hat die Ablehnung des CO2-Gesetzes der Gletscherinitiative geschadet?
Hänggi erinnert sich, wie er als Journalist 2009 die Klimakonferenz in Kopenhagen begleitet hat, die ausser einem deprimierenden Minimalkonsens nichts zustande gebracht habe. Damals sei er frustriert gewesen, aber dieses Scheitern habe erst den Weg bereitet für das historische Pariser Abkommen.
«Vielleicht war das CO2-Gesetz unser Kopenhagen», sagt Hänggi. «Eine Chance für die Gletscherinitiative, die viele Menschen mobilisiert, eine positive Dynamik auslöst und die kritische Masse vereint.»
Trotzdem warnt er vor Bequemlichkeit. Die sechs Jahre Verzögerung zwischen Kopenhagen und Paris seien eine Katastrophe gewesen für das Klima. Die Gletscherinitiative muss noch vom Parlament beraten werden, die Mehrheit der Bürgerinnen und vor allem auch die Mehrheit der Kantone überzeugen. Bis dann ein möglicher Verfassungsartikel tatsächlich wirke, würden mehrere Jahre vergehen.
Kommt hinzu: Eine Annahme der Initiative ist alles andere als sicher. Schafft sie es nicht, die vielen Landkantone zu überzeugen, wird sie wie die beliebte Konzernverantwortungsinitiative am Ständemehr scheitern.
Allein auf die Gletscherinitiative zu hoffen, reicht also nicht.
Jetzt übernehmen Kantone und Gemeinden
Diese Woche hat der Nationalrat beschlossen, die Förderlücke bei erneuerbaren Energien zu schliessen. Neue Windenergie-, Kleinwasserkraft-, Biogas-, Geothermie- und Fotovoltaikanlagen will er ab 2023 mit einmaligen Investitionsbeiträgen fördern. Zudem will Bundesrätin Sommaruga noch vor den Sommerferien die Revision des Energiegesetzes verabschieden, die sie wahrscheinlich mit dem revidierten Stromversorgungsgesetz verknüpft.
Die Vorlage soll die 2017 angenommene Energiestrategie umsetzen und vor allem den bislang zögerlichen Ausbau der Fotovoltaik massiv beschleunigen. «Wir haben beim Klima und bei der Energie im Moment ein extrem dichtes Politikprogramm», sagt WWF-Klimaexperte Patrick Hofstetter und betont, dass Klimapolitik nicht nur in Bern stattfinde.
Vor knapp einem Monat haben sich die drei wichtigsten EU-Institutionen – der Europäische Rat, das EU-Parlament und die EU-Kommission – nach harten Verhandlungen auf ein erstes europäisches Klimagesetz geeinigt. Es verfügt, dass die Union bis 2050 klimaneutral werden muss und bis 2030 mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 ausstossen soll.
«Die damit verbundenen neuen europäischen Klimadirektiven werden wir teilweise übernehmen wollen», ist Hofstetter überzeugt.
Der WWF-Lobbyist bedauert zwar das Nein vom Wochenende, versteht es aber auch als Auftrag an die kantonale und kommunale Politik, jetzt Verantwortung zu übernehmen und die nötigen übergeordneten Kompetenzen einzufordern. Drei Viertel der Schweizer Bevölkerung leben in Städten und der Agglomeration. Urbane Gegenden erbringen 84 Prozent der Wirtschaftsleistung und verursachen auch die meisten Treibhausgase. Die Abstimmung vom Sonntag, aber auch verschiedene Beschlüsse in Städten wie Basel, Bern und Zürich zeigen: In urbanen Gebieten finden sich Mehrheiten für einen wirklich tief greifenden Klimaschutz.
Die Stadt Zürich will bis 2040 klimaneutral werden, eine hängige Volksinitiative mit guten Chancen fordert im Kanton Basel-Stadt netto null bis 2030. Aber auch in grossen konservativen Kantonen wie etwa dem Kanton Aargau könnte eine Mehrheit mit der ebenfalls hängigen Klimaschutzinitiative der SP und der Grünen kantonale Fördermassnahmen für energetische Gebäudesanierungen und Innovationen herbeiführen.
Der Zürcher Regierungsrat Martin Neukom schreibt auf seinem Blog, er wolle mit dem neuen kantonalen Energiegesetz ohne Lenkungsabgaben, sondern mit Vorschriften zum Heizungsersatz und finanzieller Unterstützung verhindern, dass seine Vorlage im November abgelehnt werde. Hohe Kosten für die Hauseigentümer würden mit zusätzlichen Regelungen vermieden.
Kommt die Vorlage im Kanton Zürich durch, könnte sie zum Vorbild für andere Kantone, aber auch für eine gesamtschweizerische Lösung werden.
Während die nationale Klimapolitik brach liegt, können die Kantone, Städte und Gemeinden nun den Stillstand verhindern. Gleichzeitig kündigen die SP und die Grünen eine weitere Volksinitiative an, mit der sie die Geldströme auf dem Finanzplatz in Einklang mit den Pariser Klimazielen bringen wollen. Zusätzlich beschlossen die Jungen Grünen diese Woche ihre Umweltverantwortungsinitiative. Die Partei fordert, die Wirtschaft solle nur noch so viele Ressourcen verwenden dürfen, dass die Belastungsgrenzen der Natur nicht überschritten werden.
In den nächsten Jahren werden sich die Schweizerinnen und Schweizer also immer wieder zu Lösungsvorschlägen für die Klimakrise äussern müssen.
Im besten Fall dringt der Klimaschutz nun tiefer in die Politik ein und erfasst Bereiche, die bisher geschont wurden. Auf Bundesebene zum Beispiel wollen nun fast alle Parteien die Klimapolitik stärker in den einzelnen Sektoren verankern. «Wir müssen neben einem sozialen Investitionsprogramm –analog dem European Green Deal – auch schärfere Vorschriften in der Verkehrs-, Landwirtschafts- und Energiepolitik aufgleisen», sagt SP-Nationalrätin Gabriela Suter. «Die schäumenden Bäche als Folge der Wasserverschmutzung haben wir vor 50 Jahren auch nur mit Investitionen in Kläranlagen und mit Vorschriften wieder sauber bekommen.»
Im schlechtesten Fall aber blockiert das Nein zum CO2-Gesetz neue, breite Koalitionen. Parteien und Verbände verstricken sich aus Angst vor der SVP wieder in Machtkämpfe und distanzieren sich von inhaltlichen Diskussionen. Resignation und Fatalismus wären Gift für mehr Klimaschutz.
Das CO2-Gesetz war ein ungeliebter Minimalkompromiss. Kompliziert. Überladen. Halbherzig. Die Tragik: Es war der beste Minimalkompromiss, den die Schweizer Politik in den letzten 30 Jahren zustande gebracht hat.
Sein Niedergang zerstört wertvolle Zeit, setzt aber auch neue Kräfte frei – eine gute Umgebung für Innovation und neue Ideen. Sobald das Protokoll nicht mehr hilft, braucht es Risiko, Mut. Damit könnte die Schweizer Klimapolitik nach dem Abstimmungsdebakel immer noch sicher, wenn auch schwer beschädigt zu Boden gebracht werden. Die Landung wird rumplig.