Wissenschaft nach Vorschrift
Die Pandemie zeigte, wie explosiv das Verhältnis von Wissenschaft und Politik sein kann. Wie viel Diktat verträgt Forschung? Und wie viel Wahrheit Politik?
Ein Essay von Michael Hagner, 12.06.2021
Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass die legendären Steinhofgründe umgebaut werden, ein von Otto Wagner zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtetes Krankenhausareal im Westen Wiens. 2025 wird die Central European University einziehen und kann sich damit definitiv in Österreich niederlassen. Es ist eine gute Nachricht, dass die Universität auf diesem kulturhistorisch so bedeutenden Gelände eine neue Heimat findet. Und es ist eine schlechte Nachricht, weil mit dem erzwungenen Wegzug aus Ungarn der schlimmste Einbruch, den die akademische Freiheit nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa hinzunehmen hat, besiegelt zu sein scheint.
Die Central European University wurde 1991 in Budapest gegründet, mit finanziellen Mitteln des aus Ungarn stammenden Milliardärs und Philanthropen George Soros. Sie verfolgte das Ziel, mit ihrem geistes- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Spektrum einen zivilisierten Raum zu schaffen, in dem die offene Gesellschaft sich selbst reflektiert, ihre Probleme erforscht, analysiert und in einer liberalen Atmosphäre zur Debatte stellt. In der Aufbruchstimmung nach dem Fall der Berliner Mauer ging es keineswegs um einen Entstehungsort für revolutionäre Umtriebe, sondern um die Realisierung eines Modells, das Soros als Student in den 1950er-Jahren beim liberalen Philosophen Karl Popper an der London School of Economics kennengelernt hatte.
Es war unvermeidlich, dass die lebendige, über die Grenzen Europas hinaus orientierte Universität ein Pfahl im Fleisch des nationalistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán werden würde. Und das keineswegs nur, weil der vom Rechtsaussenpopulisten offen antisemitisch attackierte Soros die Institution weiterhin unterstützte. Ebenso wichtig war der schlichte Umstand, dass die Central European University das tat, was eine moderne Universität gemäss Universitätstheoretikern von Wilhelm von Humboldt bis Jacques Derrida tun soll: einen Raum für freie Forschung und Lehre bilden, in dem um Wahrheit und Erkenntnis gestritten und jede Form von Dogmatismus, Fundamentalismus und Demagogie bekämpft wird. Wenn sich auf diesem Wege Persönlichkeiten entwickeln, die fachliche Kompetenz mit kritischem Denken verbinden, profitieren Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft gleichermassen.
Michael Hagner ist Professor an der ETH Zürich und leitet den Lehrstuhl für Wissenschaftsforschung. Zuletzt ist von ihm erschienen «Foucaults Pendel und wir». Hagner ist promovierter Mediziner und Neurophysiologe. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten zur Geschichte der Hirnforschung.
Die Wissenschaften und ihre Einrichtungen haben sich mithin einem Ethos verschrieben, das nicht auf politische, ökonomische oder religiöse Partikularinteressen gründet. Ihr Ethos basiert auf Normen und Werten, die zu belastbaren Erkenntnissen führen und zumindest im Prinzip für alle Menschen zugänglich sind. Über dieses Ethos ist in den letzten 100 Jahren viel debattiert worden. Doch über die entwickelten Beurteilungskriterien des amerikanischen Soziologen Robert Merton lässt sich zumindest so viel sagen: Es folgen ihnen zwar nicht alle Wissenschaftlerinnen buchstabengetreu, aber praktisch alle sind sich darin einig, dass sie grundsätzlich beherzigenswert sind.
Merton konstruierte das wissenschaftliche Ethos aus vier Elementen: Universalismus, Uneigennützigkeit, Kommunismus und organisierter Skeptizismus.
Universalismus bedeutet, Wahrheitsansprüche und Leistungskriterien unabhängig von Nationalität, Klasse, Religion oder individuellem Charakter zu bewerten.
Uneigennützigkeit heisst, nicht zum persönlichen Vorteil, sondern aus Erkenntnisinteressen heraus zu forschen, die möglichst zum Wohle der Menschheit beitragen.
Der missverständliche Begriff Kommunismus besagt nur, sich als Teil einer scientific community zu fühlen und sein Wissen allen Mitgliedern dieser Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, so wie man das auch von allen anderen erwarten darf.
Der organisierte Skeptizismus schliesslich zielt auf ständige kritische Wachsamkeit gegenüber den möglichen Unvollkommenheiten und Verkürzungen des wissenschaftlichen Wissens.
Merton stellte diese Regeln 1942 auf, also mitten im 2. Weltkrieg. Sie sollten Freiheit und Integrität der Wissenschaften garantieren, um einer liberalen, demokratisch verfassten Gesellschaft von grösstmöglichem Nutzen zu sein. Es ging Merton nicht darum, Wissenschaft tout court als demokratische Veranstaltung zu konzipieren, sondern Bedingungen zu identifizieren, unter denen die Wissenschaften sich selbst vor ideologischer Vereinnahmung schützen können. Und das war im Zeitalter der Extreme mit seinen barbarischen Ausschlägen in Richtung Nationalsozialismus und Stalinismus auch bitter notwendig.
Gleichwohl wirken Mertons Indikatoren über ihren historischen Entstehungszusammenhang hinaus wie ein Seismograf, der uns beharrlich mit der Frage konfrontiert, unter welchen Bedingungen die in demokratischen Gesellschaften selbstverständlich verankerte Freiheit der Wissenschaften ermöglicht wird oder auch unter Druck gerät. Dabei sollte sich der Blick sowohl auf die äusseren Einflüsse als auch auf die inneren Konstellationen des akademischen Lebens richten.
Der Druck ist offensichtlich, wenn politische Zwänge in illiberalen Staaten manifest werden. Ganze Wissenschaftszweige können völkisch umgepolt und ideologisch vereinnahmt, Wissenschaftlerinnen aus den Universitäten entlassen und ins Exil getrieben werden – wie es im nationalsozialistischen Deutschland und in der Sowjetunion geschah. Es können auch ganze wissenschaftliche Fachgebiete unterdrückt, Universitäten aus dem Land getrieben oder mit gezielten Massnahmen auf Linie gebracht werden – wie es derzeit in Ungarn geschieht. Und in der Türkei oder in China sieht es nicht besser aus.
Es passt in dieses Bild, wenn Ungarn die erzwungene Emigration der Central European University dadurch kompensiert, dass die Fudan-Universität aus Shanghai einen Ableger in Budapest gründen will. Falls es dazu kommen sollte, würde dort vermutlich State-of-the-Art-Wissenschaft in Forschung und Lehre betrieben werden, die kompetente Studienabgänger hervorbringt und womöglich auch in den globalen Universitätsrankings positiv auffällt. Doch diese Einrichtung wird nichts zu einer liberalen Zivilgesellschaft beitragen, sondern den Interessen autoritärer Ideologien dienen.
Exzellenz im Autoritarismus
Angesichts dieser beklagenswerten Situation sollte man in den liberaleren Regionen Europas zwei Denkfehler nicht begehen, nur weil das Feuer gerade nicht unter dem eigenen Dachstuhl brennt.
Der erste Fehler wäre abzustreiten, dass auch in diktatorischen Staaten exzellente Wissenschaft betrieben wird, wenn die finanziellen und infrastrukturellen Voraussetzungen stimmen. Das war in der Sowjetunion und in Nazi-Deutschland so, das ist heute in China so. Gerade die Volksrepublik hat in den letzten 30 Jahren Hand in Hand mit dem ökonomischen auch einen bemerkenswerten wissenschaftlichen Aufschwung genommen, dessen globale Sichtbarkeit sich freilich auf die sogenannten STEM-Fächer beschränkt (STEM steht für science, technology, engineering, mathematics). Unter diesen Voraussetzungen haben chinesische Pharmafirmen schneller Impfstoffe entwickelt und auf den Markt gebracht als westliche.
Zwei dieser Impfstoffe wurden kürzlich sogar durch die Weltgesundheitsorganisation zugelassen. Und dennoch besteht die weniger gloriose Seite dieser imponierenden Arbeit darin, dass die in China publizierten Studien zur Wirksamkeit dieser Impfstoffe wenig aussagefähig sind. Das liegt nicht an einer mangelhaften Datenlage, sondern an der strengen Zensur durch die Partei. Kein Statement, kein wissenschaftliches Ergebnis zu Corona, das dem Regime Xi Jinpings nicht genehm ist, darf offiziell verlautbart werden.
Zweifellos ist Wissenschaft unter solchen Bedingungen möglich, aber mit einem höheren Risiko und einer grösseren moralischen Rücksichtslosigkeit verbunden. Ausserdem ist es noch zu früh, um zu sehen, ob eine zentral regulierte und kontrollierte Wissenschaft auf Dauer kreativ und effizient arbeiten kann. Die Freiheit der Forschung ist allemal eingeschränkt, was sich am ehesten bei den politisch brisanten Themen zeigt. Eine Vorlesung zur Geschichte Hongkongs bis hin zur gegenwärtigen Zerstörung demokratischer Prinzipien, eine Geschichte der Uiguren oder eine Geschichte des Gesichts bis hin zur aktuellen Gesichtsüberwachung, wie sie in China mit besonderem Fanatismus betrieben wird, dürfte an den dortigen Universitäten kaum zu finden sein. Wer darüber – zu Recht – entsetzt ist, sollte nicht vergessen, dass Forderungen von der SVP oder der AfD in eine ähnliche Richtung weisen.
Die eine Partei tat sich vor einigen Jahren mit dem Vorschlag hervor, die Geisteswissenschaften an den Schweizer Universitäten zu halbieren. Gestützt durch das nachweislich falsche Argument, dass der Arbeitsmarkt so viele Studienabgängerinnen nicht verdauen könne. Dahinter liess sich jedoch die ungehobelt antiakademische Haltung kaum verbergen, wonach die Geisteswissenschaften ohnehin auf dem linken Spektrum verortet seien, während man mit den Naturwissenschaften schon irgendwie zurechtkomme – es sei denn, es handelt sich gerade um Klimawissenschaftler oder Medizinerinnen, die vor allzu leichtfertigen Lockerungen angesichts der Pandemie warnen. Und die andere Partei fordert genau das für deutsche Universitäten, was in Orbáns Ungarn gerade passiert: die Genderstudies als akademisch verankerte Disziplin auszumerzen.
Ökonomische Zwänge
Der zweite grosse Denkfehler wäre anzunehmen, nur politischer Druck könne die Freiheit der Wissenschaften gefährden. Für gewöhnlich ist man sich schnell einig, dass es der Wissenschaft nicht guttut, wenn sie religiösen Zwecken unterworfen ist (Stichwort: Galileo Galilei), obwohl es in der Vergangenheit auch Beispiele gab, in denen sich Wissen und Glauben sehr gut miteinander vertragen haben. Man ist sich aber viel weniger einig, wenn es um ökonomische Zwecke geht. Das führt zurück zu Robert Merton, der explizit darauf hingewiesen hat, dass der Platz der Wissenschaft in der Gesellschaft auch gefährdet wird, wenn ihr ökonomischer Nutzen im Vordergrund steht. Diese Diagnose trifft nach wie vor zu, auch wenn niemand bestreiten wird, dass die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in verschiedenen Feldern (siehe: Corona-Impfstoff) immer wieder zu bedeutenden Resultaten geführt hat – aber das betrifft eben nur einige, längst nicht alle, wissenschaftlichen Disziplinen.
In den letzten beiden Jahrzehnten sind Formeln wie «Akademischer Kapitalismus», «Ökonomisierung der Wissenschaft», «Science-Mart», «Entrepreneurial University», «Commodification of Research», «Consuming Higher Education» oder «Wissen als Ware» zu geflügelten Worten geworden, die auf den Punkt bringen, dass Lehre und Forschung zunehmend unter Bedingungen stattfinden und bewertet werden, die der Unternehmenskultur entlehnt sind. Damit ist nicht gesagt, dass der Umbau von der Universität in eine innovationsgetriebene Kaderschmiede bereits vollzogen wäre. Doch lassen sich eine Reihe von Tendenzen erkennen.
Es gibt nicht wenige Zeitgenossen in allen Teilen der Gesellschaft, die sich die Rolle der Wissenschaften ungefähr so wie einen Lieferdienst vorstellen, der bestellte Menüs kreuz und quer durch die Stadt transportiert. Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft haben ein Problem, und die Wissenschaft liefert. Das kann zu sehr unterschiedlichen Resultaten führen, wie sich jüngst im Fall von Corona gezeigt hat.
Wenn die Wissenschaft in Gestalt der Schweizer Covid-19-Task-Force Erkenntnisse liefert, die den politischen Intentionen zuwiderlaufen, wird sie kurzerhand ignoriert. Wenn die Wissenschaft innerhalb kürzester Zeit einen wirksamen Impfstoff entwickelt, klatschen (fast) alle Beifall angesichts des so zuverlässig arbeitenden Lieferdienstes. Doch gerade weil das in diesem Fall auf atemberaubend gute Weise geklappt hat, wäre es eine gefährliche Illusion, zu glauben, dass das immer so schnell funktioniert. Oder dass die wesentliche Aufgabe der Wissenschaften darin bestünde, auf akut anfallende Probleme oder Fragen stets eine Antwort zu geben.
Stattdessen haben sich alle möglichen Akteure von Politikerinnen bis hin zu Universitätsrektoren die Rede von Wettbewerb, Effizienz, Optimierung, Innovation oder Marktorientierung zu eigen gemacht. In dieser Perspektive geht es nicht mehr um zweckfreie (also nicht dem Zwecke der Religion, des Staates oder der Wirtschaft dienende) Erkenntnis, sondern um ein Wissen, das im globalen Konkurrenzkampf einen wesentlichen Faktor darstellt.
Appelle in diese Richtung sind vielfach aufgeblasene Rhetorik. Doch wenn Universitäten unter dem Druck politischer Erwartungen damit anfangen, Leitbilder, Leistungsaufträge und Zielvereinbarungen zu entwerfen, die auf gesellschaftlich oder unternehmerisch verwertbares Wissen zielen, dann wird die Wissenschaft in der Gesellschaft genau danach bewertet. Das heisst: Sie wird nach quantitativ bestimmbaren Parametern vermessen werden. Ihr Beitrag zur demokratischen Emanzipation beziehungsweise zur argumentativen Wappnung gegen Fundamentalismen aller Art droht dabei in Vergessenheit zu geraten.
Die Transformation des wissenschaftlichen Wissens zu einer quasi-ökonomischen Ressource lässt sich in äusserster Verknappung in vier Schritten rekonstruieren:
Zunächst wurden seit den 1960er-Jahren die Investitionen in Bildung und Wissenschaft signifikant erhöht, wobei alle Bereiche profitierten.
Dann kam es zu einer gezielten Förderung jener Bereiche, von denen man sich die stärksten ökonomischen Effekte versprach. Die massive Förderung der biomedizinischen Wissenschaften seit den 1980er-Jahren war keineswegs nur dadurch motiviert, die Gesundheitssituation der Bevölkerung zu verbessern. Sie hatte mindestens ebenso sehr zum Ziel, neue Märkte zu schaffen, welche die wirtschaftliche Kraft der Industrienationen stärkten.
Die immer schon problembehaftete Unterscheidung zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung wurde so sehr aufgeweicht, dass die Grundlagenforschung auf einmal als ideologisch aufgeladene Schimäre dastand, der eine immer geringere Daseinsberechtigung zugebilligt wurde.
Mit der Marginalisierung dieser traditionellen Unterscheidung wurde der Boden für eine neue Differenzierung bereitet: jene von innovationsrelevantem und innovationsirrelevantem Wissen, begleitet von einer forcierten Delegitimierung des letzteren.
Auf die Konsequenzen dieser Transformation für die Forschung selbst einzugehen, würde hier zu weit führen. Aber im Hinblick auf den Dialog der Wissenschaften mit Politik und Gesellschaft besteht ein wesentlicher Effekt darin, dass er zunehmend über Corporate Communication abgewickelt wird.
Berner Maulkorb-Vorwurf
1935 teilte der polnische Bakteriologe und Wissenschaftssoziologe Ludwik Fleck die Kommunikation der Wissenschaften ein in eine esoterische, auf den kleinen Kreis von Spezialistinnen zielende, und eine exoterische, an Laien gerichtete. Er wies darauf hin, dass erstere tentativer, kontroverser und ergebnisoffener verläuft als letztere. Die exoterische Kommunikation ist tendenziell eher dogmatisch, um die Wahrheits- und Konsensansprüche der Wissenschaften zu demonstrieren. Allerdings hätte er sich wohl im Traum nicht vorgestellt, dass sich diese dereinst am Leitbild der Unternehmenspraktiken orientieren würde. Niemand sollte sich wundern, wenn die Wissenschaften dann letztlich nach Kriterien beurteilt werden, die für die Medien, die Celebrity Culture oder eben die Wirtschaft gelten.
Eine solche Verkennung der universitären Identität kann am Beispiel der Universität Bern studiert werden, die kürzlich Leitlinien für Meinungsäusserungen ihrer wissenschaftlichen Angehörigen in der Öffentlichkeit vorgelegt hat. Dieses Papier besteht aus einem ganzen Katalog von Anweisungen und Vorgaben, die sich kaum anders denn als Regulierung und Überwachung der exoterischen Kommunikation im Sinne Flecks verstehen lassen. Kaum überraschend hat dieser Vorstoss der Universitätsleitung für einige Irritation gesorgt. Es wurde sogar der Vorwurf laut, hier solle den wissenschaftlichen Angehörigen der Universität ein Maulkorb verpasst und die Wissenschaftsfreiheit beschnitten werden. Auch wenn sich die Gemüter inzwischen wieder beruhigt zu haben scheinen, ist es aufschlussreich, einen zweiten Blick auf diese Leitlinien zu werfen.
Dabei ist es zunächst einmal nicht so entscheidend, dass die Universität mit den Aktivitäten ihrer Mitarbeitenden auf den sozialen Netzwerken unzufrieden ist, obwohl das nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Es ist nämlich noch gar nicht so lange her, dass Wissenschaftlerinnen von ihren Institutionen und auch von der Politik regelrecht ermutigt wurden, sich in den sozialen Netzwerken zu äussern, weil man der Ansicht war, dass dadurch die Sichtbarkeit der Institution in der medialen Öffentlichkeit erhöht werde. Das passiert auch, aber wohl nicht ganz in der erwünschten Weise. Das kann selbstverständlich auch daran liegen, dass nicht alle Angehörigen der Universität wissen, welche Diskussionen auf Twitter auszufechten sind und welche besser nicht. Aber darum geht es hier nicht.
Entscheidender – und im Hinblick auf die unternehmerische Universität exemplarisch – ist an diesen Berner Leitlinien, dass sie einen Keil zwischen ihre Angehörigen und die Interessen der Universität selbst treiben. Es wird gewollt oder ungewollt eine Situation des Misstrauens geschaffen.
Lesen Sie das Kleingedruckte
Was macht eine Universität aus? Eine Gemeinschaft der Forscher beziehungsweise Dozentinnen, der Studenten und natürlich auch jener, die den Betrieb Tag für Tag ermöglichen. Ohne all diese Angehörigen ist die Universität – nichts. Wie aber können dann die Interessen der Universität von denjenigen verschieden sein, die sie verkörpern? Genau das wird in den ersten beiden Sätzen des Papiers der Universität Bern nahegelegt:
Die Publikation von Forschungsergebnissen gehört zu den wichtigsten Aufgaben wissenschaftlicher Tätigkeit. Sie erfolgt in erster Linie durch die Forschenden im Rahmen von wissenschaftlichen Zeitschriften und Foren. Sodann hat die Universität auch einen gesellschaftlichen Auftrag; sie informiert in geeigneter Weise die Öffentlichkeit.
Gewiss, aber wer steht für den gesellschaftlichen Auftrag der Universität ein? Und wer befindet über die geeignete Weise der Kommunikation mit der Öffentlichkeit? Es mag Wissenschaftlerinnen geben, die sich für diese Fragen nicht interessieren oder damit überfordert sind. Und die sollte man einfach in Ruhe lassen. Andere Wissenschaftler halten das jedoch für einen wichtigen Bestandteil ihres Berufs, und das ist völlig legitim. Es mag durchaus einige wenige geben, die ihren privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit missbrauchen, doch damit muss ebenso verfahren werden wie mit anderen Formen akademischen Fehlverhaltens. Wie dem auch sei, eins jedenfalls ist klar: Es sind weder die Universitätsleitungen noch die Kommunikations- und Marketingabteilungen und auch nicht die Rechtsabteilungen der Universitäten, die über diese Fragen zu bestimmen haben.
Über die Kommunikation von Wissenschaft im öffentlichen Raum haben in erster Linie die Wissenschaftlerinnen selbst zu entscheiden, auch wenn das notorisch schwierig ist – und in Vergangenheit und Gegenwart zu vielen Enttäuschungen geführt hat. Wohl auch aus diesem Grund haben Kommunikations- und Marketingabteilungen der Universitäten dieses Geschäft in den letzten Jahren mehr und mehr an sich gezogen, weil Universitätsleitungen offensichtlich von der Vermutung ausgehen, dass die Kommunikation mit der Öffentlichkeit Bestandteil des Branding ist, das der Institution ihr öffentliches Ansehen sichert. Nur: Es wäre erst einmal der Beweis anzutreten, dass der immer grössere Einfluss dieser Abteilungen das Ansehen der Universitäten und der Wissenschaften in der Öffentlichkeit verbessert hat. Womöglich ist auch das Gegenteil eingetreten.
Wenn eine Universität jenen misstraut, die sie verkörpern, versucht sie Riegel vorzuschieben – die natürlich nicht mit den Massnahmen Orbáns und Erdoğans in einem Atemzug zu nennen sind. Und doch: Man unterscheidet zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit, was im Prinzip völlig richtig ist, aber auf das Kleingedruckte kommt es an. So heisst es:
ln Homepages der Universität dürfen private lnhalte und Links auf private Homepages grundsätzlich nur dann enthalten sein, wenn sie einen Bezug zur universitären Funktion aufweisen; keinen hinreichenden Bezug zur universitären Funktion haben beispielsweise Beiträge zu (universitäts)politischen Themen.
Die Wissenschaftsfreiheit wäre demnach mit der universitären Funktion legiert, alles andere ist Meinungsfreiheit – und die freie Meinung darf ein Universitätsangestellter nur als Privatperson äussern.
Nun gehören universitätspolitische Themen mindestens seit der Aufklärung zum Kerngeschäft von Universitätsangehörigen. War Immanuel Kants durchaus politische Schrift «Der Streit der Fakultäten» nun seine Privatmeinung oder eine Stellungnahme des berühmten Königsberger Philosophieprofessors? Dürfen sich zur Covid-Pandemie und den politischen Massnahmen des Bundes nur Epidemiologen, Virologinnen und Intensivmediziner in «universitärer Funktion» äussern oder auch Philosophinnen und Sozialwissenschaftler, die in der Regel nicht direkt zu Infektionskrankheiten geforscht haben?
Wenn sich eine renommierte Historikerin wie Ute Frevert an der Ad-hoc-Stellungnahme der Wissenschaftsakademie Leopoldina im Dezember 2020 beteiligte, die einen harten Lockdown über Weihnachten empfahl, tat sie das als Privatperson, als Leopoldina-Mitglied oder als Max-Planck-Direktorin? Könnte es vielleicht sein, dass allein eine solche Frage aufzuwerfen ein beschränktes Verständnis von akademischer Freiheit verrät, es sei denn, es ginge um offensichtliche Interessenkonflikte? Aufschlussreich wäre die Frage, ob die Historikerin hier als Expertin oder als Kritikerin tätig geworden ist. Beides sind wichtige, wenn auch unterschiedliche Rollen im öffentlichen Auftreten von Wissenschaft, aber das ist eine andere Diskussion.
Vorsicht vor Corporate Identity
Es geht in die gleiche Richtung einer universitären Selbstdemontage, wenn eine Universitätsleitung ihre Wissenschaftlerinnen auffordert:
Meinungsäusserungen, insbesondere zu sensiblen Themen, sollen in einer Organisationseinheit in einem Mindestmass aufeinander abgestimmt werden.
Wiederum fragt sich: Wer hat darüber zu befinden, was ein «sensibles Thema» ist? Und selbst wenn man sich über solche Themen einigt: Wieso sollte eine Universitätsleitung oder irgendeine «Organisationseinheit» dazu eine kompetentere, besser begründete Ansicht vertreten als ein anderes Mitglied der Universität? Und was sollte die Funktion der Absprachen sein? Dass jede öffentliche Aussage juristisch wasserdicht oder so aufgeweicht wird, dass sie jegliche Trennschärfe und Pointierung verliert? Das kann in sehr seltenen Fällen durchaus angezeigt sein, aber es darf nicht zur Massgabe für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft werden.
Die Würde einer Universität besteht gerade darin, dass sie keine einheitliche Position erzwingt, sondern die Unterschiedlichkeit der Perspektiven begründet artikuliert, intern und auch in der Öffentlichkeit. Das ermöglicht Erkenntnisfortschritt, verhindert Dogmatismus und ist zudem ein Stück gelebte Demokratie. Darin unterscheidet sich die Universität grundlegend von wirtschaftlichen Unternehmen. Doch um diese Haltung glaubwürdig zu leben, braucht es eine Atmosphäre des Vertrauens, die mehr an den Prinzipien von Merton oder Fleck als an der unternehmerischen Corporate Identity orientiert ist.
Man muss das Berner Reglement nicht überbewerten. Es gehört nicht in die Kategorie eines doktrinären Überwachungsregimes wie in China, es entspricht nicht der Strategie von verabscheuungswürdigen Potentaten wie Orbán oder Erdoğan, die ihre Universitäten Drohungen, Denkverboten und Sanktionen unterwerfen und damit ihre besten Köpfe vertreiben. Doch das suspendiert nicht von der Notwendigkeit, den Blick auch nach innen zu wenden. In seiner sprachlichen und gedanklichen Haltung ist das Reglement typisch für eine Universität, die sich als Unternehmen versteht und in dieser Logik ihre Angehörigen als Angestellte sieht, die sich der von den CEOs und ihren Vertrauten definierten Unternehmenskultur zu fügen haben. Eine solche Ansicht, egal wo sie vertreten wird, betrifft die Interessen der Universität in einer Demokratie auf ganz grundsätzliche Weise. Es sollte in aller Öffentlichkeit darüber diskutiert werden.
In einer früheren Version haben wir beim Akronym STEM das «M» der Medizin zugeschrieben, richtig ist die Mathematik. Wir bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.