Die Güte des Multimilliardärs

Ist Bill Gates Monster oder Messias? Heiliger oder Lüstling? Ist er ein Held der Armen – oder ein Lakai der Pharmaindustrie?

Ein Essay von Linsey McGoey (Text), Sarah Fuhrmann (Übersetzung) und Michelle Rohn (Illustration), 03.06.2021

Jahrzehntelang wurde Bill Gates von einem grossen Teil der Welt dafür verehrt, dass er sein riesiges Vermögen weiter­verteilte. In den letzten Wochen aber hat die Ankündigung von Bill und Melindas Scheidung ein anderes Licht auf diesen Mann geworfen. Zusammen mit den jüngsten und ziemlich spektakulären Enthüllungen über sein Verhalten hat dies den Mythos des heiligen Bill gebrochen. Das vermochte bisher noch keine Recherche, noch keine Unter­suchung zu den Methoden der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung.

Plötzlich ist es möglich, wichtige Fragen zu stellen, dieselben Fragen, die noch bis vor kurzem fast schon als Verschwörungs­theorien abgetan wurden.

Es sind Fragen wie diese: Ist es richtig, dass ein einziger Mann so eine enorme Fülle an wirtschaftlicher und politischer Macht ausübt? Warum gehen wir davon aus, dass Menschen, die ihr Vermögen in einer bestimmten Branche gemacht haben – Software zum Beispiel –, damit auch in ganz anderen Feldern kompetent sind, in Fragen der globalen Gesundheit oder Bildung zum Beispiel? Ist Bills Haltung zu intellektuellem Eigentum «monströs», wie sie neulich in einem Medien­bericht bezeichnet wurde, oder ist sie wissenschafts­basiert?

Zur Autorin

Linsey McGoey ist Professorin für Soziologie und Leiterin des Centre for Research in Economic Sociology and Innovation (CRESI) an der Universität von Essex. Sie ist die Autorin von «No Such Thing as a Free Gift» und «The Unknowers: How Strategic Ignorance Rules the World».

Die Kritik an Bill und Melinda ist ausserdem lauter geworden, seit die Rolle der Stiftung bei der Verteilung der Covid-19-Impfung zum Thema wurde.

Da ist zum Beispiel der Fall des Pharma­konzerns Astra Zeneca, der sich im April 2020 mit der Universität Oxford zusammentat, um eine Impfung gegen das Virus auf den Markt zu bringen. Entwickelt hatten die Impfung Oxford-Forschende. Ursprünglich veröffentlichte die Universität eine Mitteilung auf ihrer Webseite, in der sie ankündigte, dass sie ihre «begleitenden Produkte und Dienst­leistungen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie» über «nicht exklusive, gebühren­freie Lizenzen» anbieten würde.

Später aber änderte die Universität ihre Meinung. Und das soll auf Betreiben der Bill & Melinda Gates Foundation geschehen sein, wie die Zeitschrift «Fortune» berichtete. Oxford unterschrieb einen exklusiven Impfstoff­vertrag mit Astra Zeneca, der dem Pharma­konzern die Allein­rechte sicherte – ohne dass dieser im Umkehr­schluss niedrige Preise garantieren musste.

Astra Zeneca versprach zunächst, die Impfung auf einer «profit­freien» Basis in armen Ländern zu verteilen. Aber dieses Versprechen ist nicht rechts­verbindlich: Der Konzern kann sich darüber hinweg­setzen, wann immer es ihm passt. Es gibt bereits Hinweise auf Wucher­preise, die zu vermeiden gewesen wären, hätte sich die Universität Oxford an den ursprünglichen Plan gehalten: der Welt ihren Impfstoff auf Basis von nicht exklusiven Lizenzen zur Verfügung zu stellen.

Viele arme Länder und solche mit mittleren Einkommen bezahlen nun mehr für die Oxford-Astra-Zeneca-Impfung als die EU-Länder: darunter etwa Uganda, Bangladesh und Südafrika. Uganda bezahlt dreimal höhere Preise als die Europäische Union. Statt den Zugang zu lebens­rettenden Impfungen zu verbessern, hat der Deal das Gegen­teil bewirkt. Was die Gates Foundation zwischen Oxford und Astra Zeneca ausgehandelt hat, unterwandert nun das globale Recht auf Gesundheit.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Gates Foundation sich auf die Seite mächtiger Konzerne geschlagen und die Bilanzen westlicher Pharma­unternehmen aufgebessert hat – jeweils zum Nachteil der bedürftigsten Menschen der Welt. Vor ein paar Jahren habe ich ein Buch darüber geschrieben. Es heisst «No Such Thing as a Free Gift» («Gratis­geschenke gibt es nicht»). Es legt die Kern­probleme davon offen, wenn Milliardäre ohne demokratische Kontrolle und mit wirtschaftlichen Interessen­konflikten Wohltäter spielen.

Der grösste Teil des Geldes der Bill & Melinda Gates Foundation fliesst an westliche Forschende und reiche Pharma­konzerne in den USA und Europa – was die Ungleichheit zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden verschärft.

Wenn es um globale Gesundheit geht, dann hat Bill Gates das «Wohl­tätigkeits»-Modell dem «Gerechtig­keits»-Modell schon lange vorgezogen. So hat er die grossen Pharma­konzerne wiederholt dazu aufgerufen, aus purem Wohlwollen und natürlich freiwillig tiefe Preise für ihre Medikamente zu verrechnen. Er hat nie zugestanden, dass Regierungen tiefere Preise verlangen sollten. Gates hat Pharma­riesen mit nicht rückzahl­baren Zuschüssen überschüttet – und zwar so, dass seine Geschenke steuer­begünstigt waren.

Kurz: Er hat die weltweit profitabelsten Pharma­konzerne reicher gemacht und dabei auch noch Steuern optimiert.

Pharmakonzerne philanthropisch zu unterstützen, ist fragwürdig, gerade wenn exakt dieselben Konzerne bekannt dafür sind, ihre Kunden übers Ohr zu hauen. Zum Beispiel, indem sie stark überhöhte Preise für lebens­rettende Medikamente und Impfungen verlangen. Die amerikanische Kongress­abgeordnete Katie Porter, welche die Wucher­preise der Pharma­branche schon seit langem kritisiert, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die grossen Pharma­konzerne ohnehin nur einen mickrigen Betrag für Forschung und Entwicklung ausgeben und stattdessen lieber den Markt manipulieren.

Wie kann man in der heutigen Zeit nicht erkennen, dass im Geschäfts­modell der Pharma­riesen die Aktionärs­interessen eine höhere Priorität haben als die Patientinnen? Gates scheint hartnäckig – sogar strategisch – blind für diese Tatsache. Er besteht dogmatisch darauf, dass nur die Philanthropie das kaputte System der Welt­gesundheit reparieren kann. Vielleicht, weil er nicht zugeben will, dass sich sein Vermögen mit dem gleichen Modell der monopolistischen Ausbeutung angehäuft hat, das die Pharma­industrie heute in Perfektion betreibt.

Gates’ Ansatz für die Welt­gesundheit und die Entwicklung hilft nicht, die Kosten für verschreibungs­pflichtige Medikamente oder Impfungen zu senken. Diabetes- und Krebsmittel sind in den USA und in anderen Ländern skandalös überteuert. Und in armen Ländern sind die Gesamt­kosten für Impf- und Immunisierungs­programme in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen.

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat auf Folgendes hingewiesen: Während die weltweiten Impf­quoten seit 2000 besser wurden (insgesamt haben sie sich verdoppelt), sind die Kosten für grund­legende Impf­pakete in Entwicklungs­ländern um das 68-Fache gestiegen. Hochgetrieben hat sie ebenjener kommerzielle Ansatz der «Partnerschaft» zwischen öffentlichen Institutionen und Unter­nehmen, für den die Gates Foundation steht.

Heute, da die Nachfrage nach Covid-19-Impfungen das Angebot bei weitem übersteigt, sollte man die Unter­stützung der Gates Foundation für Unter­nehmen wie Astra Zeneca noch nicht einmal «Wohltätigkeit» nennen. Eher ist es Diebstahl. Die Stiftung nutzt ihren wohltätigen Einfluss, um privaten Unter­nehmen dabei zu helfen, den Markt für neue Entdeckungen zu beherrschen – und zugleich einen breiteren öffentlichen Zugang zu verhindern. Es sind die Regierungen, es sind die Steuer­zahlerinnen, die den Grossteil der grund­legenden Impfforschung subventioniert haben, aus welcher die Covid-19-Impfungen hervor­gegangen sind. Und nun beginnen eine Handvoll privater Unter­nehmen, gewaltige Profite einzufahren – während Menschen sinnlos sterben. Das ist Diebstahl. Ausserdem ein Fall von dem, was Friedrich Engels einmal als «sozialen Mord» beschrieben hat, definiert als die Verdrängung von verletzlichen Arbeiterinnen «in eine Lage, in der sie unweigerlich einen zu frühen und unnatürlichen Tod sterben».

Im Oktober 2020 forderten Südafrika und Indien formell die Aussetzung von Patenten, um eine globalere Produktion der Covid-19-Impfungen zu ermöglichen. Expertinnen bei der WHO und anderswo unter­stützten die Forderung, überzeugt, dass es die weltweite Impfstoff­­produktion ankurbeln würde.

Bill Gates aber griff letzten Monat in einem Interview mit dem britischen Sender Sky News die Idee persönlich an. Melinda Gates verteidigte im Januar in einem Interview mit der «Washington Post» die Unter­stützung ihrer Stiftung für das Freundschafts­geschäft zwischen Astra Zeneca und der Universität Oxford. Es ist also nicht nur Bill Gates, der markt­basierte, industrie­freundliche Entwicklungs­ansätze unterstützt. Auch Melinda Gates verfolgt schon lange dieselbe technokratische, unter­nehmerische, markt­ergebene Philosophie. Und mit «unternehmerisch» meine ich zum Beispiel, dass ausgebeutete Frauen weltweit schon selber schauen sollen, wie sie aus der Armut kommen; dass dabei die kapitalistische Ausbeutung dieser Frauen verschleiert wird, dass man es so aussehen lässt, als wäre globale «Entwicklung» so einfach wie die Teilnahme an einem Girl-Power-Business­seminar im Internet.

Anfang Mai verkündete US-Präsident Joe Biden, dass die USA den Patent-Vorschlag nun unterstützen würden. Daraufhin machte die Bill & Melinda Gates Foundation endlich eine Kehrt­wende und gab bekannt, dass auch sie nun die Idee einer «begrenzten» Aussetzung unterstütze. Besser spät als nie. Aber eigentlich sollte doch eine Organisation, die «jedes Leben gleichwertig» nennt, nicht unter den Aller­letzten sein, die sich noch gegen die völlig nachvoll­ziehbare Idee von mehr Impf­gerechtigkeit sperren. Gegen eine Idee, die bereits rund 100 arme Staaten und Schwellen­­länder unter­stützten, als die Gates-Stiftung endlich auch mit an Bord kam.

Bill Gates hat bis heute nicht persönlich eingeräumt, dass die Aussetzung der Patente ein notwendiger Schritt nach vorn wäre, um die globale Produktion der Impfstoffe zu fördern. Seine Sturheit in dieser Frage führt direkt zu einer noch grösseren Frage: Auf wessen Seite steht er denn? Steht er auf der Seite von Anführern wie WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, die öffentlich für die Aussetzung geworben haben und die Gesundheit als universelles Menschen­recht ansehen? Oder geht es Bill Gates vor allem um sich selbst – und die Interessen von Big Business?

Es ist unmöglich, diese Frage mit Sicherheit zu beantworten. Keiner von uns kann Bills Gedanken lesen.

Aber Enthüllungen, die auf die Ankündigung seiner Scheidung von Melinda folgten, haben beunruhigende Hinweise auf seinen Charakter gegeben – und auf seinen fast grössen­wahnsinnigen Wunsch nach weltweiter Bewunderung. Die «New York Times» berichtete über Beispiele von Misswirtschaft und über die Behandlung von Angestellten durch Bill Gates, darunter eine Affäre mit einer Unter­gebenen, die zu seinem erzwungenen Ausscheiden aus dem Microsoft-Verwaltungsrat führte. Die Zeitung berichtete ausserdem, dass zwei Frauen behaupten, er habe ihnen gegenüber Versuche sexueller Annäherungen unternommen, während sie seine Angestellten waren; in einem Fall bei Microsoft und im anderen bei der Gates-Stiftung.

Warum kam sein unfreiwilliger Austritt aus dem Vorstand nicht früher ans Licht? Warum hat sich die Presse nicht früher und stärker damit beschäftigt, worauf Aktivistinnen für Welt­gesundheit seit Jahrzehnten hinwiesen: dass er zu eng mit den Pharma­riesen verbandelt ist und darum wahrscheinlich auch befangen, wenn er über Medikamenten­patente spricht?

Obwohl den Verschwörungs­theorien um Gates’ Plan, die Welt­bevölkerung mithilfe von Mikrochips gefügig zu machen, jegliche Basis in der Realität fehlt, ist es wohl trotzdem wahr, dass das wachsende öffentliche Misstrauen ihm gegenüber etwas Wahrem entspringt. Und zwar der Erkenntnis, dass zu viel konzentrierter Reichtum die Prinzipien der Demokratie und der Gleichheit vor dem Gesetz bedroht – weil er um Menschen wie Bill Gates eine Aura der Unantast­barkeit entstehen lässt.

Bill Gates mag wie ein Heiliger gewirkt haben, während er durch die Welt tingelte und mit Geschenken um sich warf wie ein Ganzjahres-Weihnachts­mann in Chino­hosen. Aber sein öffentliches Image verdeckte offenbar auch bittere Wahrheiten darüber, wie er seine Macht missbrauchte.

Dass er dieses Image so lange halten konnte, das sagt auch Beunruhigendes über unsere Gesellschaften aus, die Männern und Frauen wie ihm ihre Grossartigkeit so unkritisch abkaufen. Wir müssen einer Tatsache ins Auge sehen: Wir scheinen unsere Hoffnungen auf eine gerechtere Welt allzu gerne auf einzelne Erlöser­figuren zu projizieren. In kapitalistischen Gesellschaften werden die Super­reichen viel zu oft mit der gleichen Verehrung und Ehrfurcht behandelt, die man in religiöseren Zeiten und in religiösen Gegenden Heiligen entgegen­brachte. Oder Blau­blütern, da, wo die Königinnen, Kaiser und Fürsten unangefochten herrschten.

Wir hängen gemeinsam an der Hoffnung, dass einige Menschen inhärent «ausser­gewöhnlich» sind, dass sie die nötigen Fähigkeiten haben, um die Menschheit zu befreien, uns in eine zivilisiertere Zukunft zu führen, von menschlicher Gier oder Unter­drückung zu befreien.

Ironischerweise sind diese Menschen oft tatsächlich ausser­gewöhnlich, aber nicht so, wie es ihre Jünger hoffen. Sie sind stattdessen ausser­gewöhnlich begabt darin, ihr eigen­nütziges Streben nach Macht für andere als segensreich erscheinen zu lassen.

In einem wissenschaftlichen Artikel haben mein Mitautor Darren Thiel und ich ein neues Konzept ins Spiel gebracht, um dieses Nehmen durch Geben zu beschreiben: «charismatische Gewalt». Damit meinen wir, dass das Verteilen von Geschenken in der Grössen­ordnung einer Gates-Stiftung von vielen Menschen als ein fast heiliger Akt gesehen wird, der Liebe und Ergebenheit verdient. Doch diese Ergebenheit kann dunkle und sogar gewaltsame Auswirkungen haben (man denke an das zuvor erwähnte Problem des «sozialen Mordes»). Es kann tiefliegendere Strukturen von ökonomischer Ungleichheit und Ausbeutung etablieren, kann sie stärken und legitimieren.

2015 veröffentlichte ich mein Buch über die Gates-Stiftung. Ich schrieb damals, dass das globale Patent­system kaputt sei – es ist immer noch kaputt. Die Covid-19-Pandemie hat seine Schwächen offengelegt. Aber mein eigentlicher Punkt geht noch weiter: Big Philanthropy – Bill und Melinda Gates’ Vision von Wohltätigkeit – bedroht die Demokratie als Ganzes. Sie gibt einer kleinen, exklusiven Gruppe von eigen­nützigen, super­reichen Männern und Frauen zu viel Macht über den politischen Prozess.

Wir brauchen keine Wohltätigkeits­könige oder -königinnen. Wir brauchen keine selbst ernannte Adels­klasse, die der Öffentlichkeit finanzielle Krümel hinwirft und im Gegenzug dafür die Bewunderung und Unter­würfigkeit der Presse erwartet. Was wir brauchen, ist ökonomische Gerechtigkeit. Und ein Ende der Herrschaft durch Philanthropie.

«The billionaire philanthropy scam»: Follow this link for the original English version of the text.