Innopolis Adieu
Der Kreml braucht Spezialistinnen für einen innovativen Tech-Sektor. Doch diese brauchen ein Umfeld frei von Repression und Zensur. Eine Reportage aus Russlands techno-utopischem Dorf.
Von Leonid Ragozin (Text), Sarah Fuhrmann (Übersetzung) und Emile Ducke/Rest of World (Bilder), 31.05.2021
Was als Punkt am Horizont auftauchte, verwandelte sich bald in ein kleines autonomes Fahrzeug, das einen von glitzerndem Schnee gesäumten, eisigen Pfad entlangrollte. An der Antenne des Autos flatterte eine rote, von Frost überzogene Flagge, während es über den rutschigen Boden glitt.
Der Rover von Yandex kam mit einer wichtigen Lieferung: Er brachte mir einen Milchkaffee aus einem Café in Innopolis, einer futuristischen Stadt, die für IT-Kräfte in der russischen Republik Tatarstan gebaut wurde. Ein heisses Getränk ist genau das, was man bei minus 19 Grad Celsius braucht; in den östlichen Teilen des europäischen Russlands ist das ziemlich normales Winterwetter.
Der Rover war Teil eines Pilotprojekts für Nahrungsmittellieferungen, einer von sieben seiner Art. Eine bescheidene Flotte, aber genug, um die Bedürfnisse einer der kleinsten Städte Russlands abzudecken, zu deren lokaler Restaurantszene ein schickes italienisches Bistro, ein panasiatisches Mittagslokal, ein Gourmet-Burger-Restaurant und eine Schawarma-Bude gehören. Laut einer Sprecherin für das Programm mit unbemannten Fahrzeugen ist Schawarma die beliebteste Option.
Innopolis wurde 2015 gegründet und besteht aus einer Gruppe ordentlich aussehender, würfelförmiger Hochhäuser, die auf windgepeitschten Hügeln hoch über der Wolga stehen. Das Wahrzeichen ist die Universität der Stadt, an der auf Englisch unterrichtet wird und deren Lehrplan gemeinsam mit der Carnegie Mellon University in Pittsburgh entwickelt wird. Innopolis ist die Heimat von 3800 Menschen, hauptsächlich Studenten, Dozentinnen und Angestellte von über 200 Technologieunternehmen, darunter kaum bekannte Start-ups und Riesenkonzerne wie Yandex, der Mobilfunkbetreiber MTS und die Finanztechnologie-Abteilung der Sberbank. Darüber hinaus pendeln täglich etwa 1400 Menschen in die Stadt, hauptsächlich aus der nahe gelegenen Regionalhauptstadt Kasan. Alle Firmen wurden von der Sonderwirtschaftszone der Stadt angelockt, denn auf Unternehmen, die Funktionäre für innovativ befinden, warten grosszügige Steuererleichterungen.
Innopolis bietet einen Ausblick auf das, was sich die Technokraten in Putins Regime als Vision eines zukünftigen Russlands ausmalen. Weil die Regierung nach Wegen sucht, um das Land weniger abhängig von fossilen Brennstoffen zu machen und den nationalen Technologiesektor auszubauen, werden überall im Land Technikzentren und Start-up-Programme gegründet. Qualifizierte Arbeitskräfte werden händeringend gesucht.
Ebenso wie zwei andere Technologie-Innovationszentren, Skolkowo bei Moskau und Koltsowo in Sibirien, vereint Innopolis die sowjetische Tradition der naukogrady (Wissenschaftsstädte) mit den Anforderungen der Technologie des 21. Jahrhunderts. Anders als zu Sowjetzeiten, als die staatliche Unterstützung der Wissenschaft von den Bedürfnissen des Wettbewerbs im Kalten Krieg diktiert wurde, ist das Ziel heute viel pragmatischer: sicherzustellen, dass Russland nicht zu einem hoffnungslosen Fall wird, falls – oder wenn – erneuerbare Energien das Öl und das Gas von den Märkten der Welt verdrängen.
Aber diese Anstrengungen werden von einem stärkeren politischen Trend untergraben – jenem der Repression und der erstickenden Zensur. Beide sind nicht gerade hilfreich, um Innovation oder Kreativität zu fördern. Seit Oppositionsführer Alexei Nawalny (der seit viereinhalb Monaten in einem russischen Straflager inhaftiert ist) im August 2020 beinahe tödlich vergiftet wurde und man die Schuld dafür dem russischen Geheimdienst gab, hat das Land eine neue Welle nationaler Proteste erlebt. Diese wurden vor allem von der kreativen Mittelklasse angeführt, ein grosser Teil davon sind IT-Profis. Während diese Mischung aus Intellektuellen, Studierenden, Freischaffenden und Unternehmensangestellten, Technikexpertinnen und unabhängigen Geschäftsinhabern während der ersten Dekade unter Putins Herrschaft noch vom raschen Wirtschaftswachstum profitierte, ist sie jetzt wütend. Über die grassierende Korruption und den ökonomischen Stillstand, die das Land hemmen. Und über das Gefühl, in einer stetig wachsenden Diktatur zu leben.
Trotz der verfahrenen Situation sind sich beide Konfliktparteien einig, dass technologische Modernisierung eine existenzielle Notwendigkeit für das Land darstellt. Der Kampf um die Herzen und den Geist der technologischen Arbeitskräfte ist dabei entscheidend für das Ergebnis. Einer der beliebtesten Slogans, den Nawalny geprägt hat, nimmt Bezug auf das «wunderbare Russland der Zukunft» und beschwört die Vision eines Landes, das frei von Korruption und offen für technologische Innovation ist. Die Sicht des Kremls auf Modernisierung ist eine ganz andere – Innovation mag verlockend sein, aber politische Freiheiten sind definitiv nicht Teil des Plans.
Fahrpläne, Zero Waste und Frischmilch
In der kleinen Stadt wirkt es, als würde jede jeden kennen – wenn nicht persönlich, dann über Innopolis’ unzählige Chatgruppen im Messagingdienst Telegram, die das Gemeinschaftsleben hier bestimmen. Eine der wichtigsten Gruppen ist der örtliche «Concierge-Service», ein Kanal, der den Einwohnerinnen bei Fragen weiterhilft, von Informationen zu kommunalen Fahrplänen bis hin zu Hilfe für Menschen, die sich aus ihrer Wohnung ausgesperrt haben. Auf informeller Ebene gibt es Kanäle, in denen es ums Fischen, um Zero-Waste-Initiativen, Carsharing, Frischmilchlieferungen, Hunde oder Covid-19-Unterstützung geht. «Es ist gut, dass wir endlich laut [über Telegram] reden können», sagt Ruslan Schagaleew, der Bürgermeister der Stadt. «Es war eine schwierige Zeit, als Roskomnadsor [die russische Zensurbehörde] versuchte, es zu verbieten.»
Ich beschloss, die Stadt mithilfe von Innopolis’ Concierge-Service auf Telegram zu erkunden, und bestellte ein Taxi zur Universität. Innopolis ist der erste Ort auf dem europäischen Kontinent, an dem Kundinnen zwischen herkömmlichen Taxis und unbemannten auswählen können, was recht einfach fällt, da Letztere gratis sind. Die Taxis sind auch Teil des Unbemannte-Fahrzeuge-Projekts von Yandex, einer Firma, die Russlands Google, Uber, Amazon und Waymo in einem ist.
Ein paar Minuten später hielt ein mit dem Logo von Yandex versehener Hyundai Sonata mit einem Lidar-Gerät auf dem Dach am Randstein. Der Fahrersitz war leer, aber auf dem Beifahrersitz sass sicherheitshalber ein Ingenieur. Als das Auto losfuhr, bewegte sich das Lenkrad von selbst, als würde es von dem unglückseligen Protagonisten aus H. G. Wells’ «Der Unsichtbare» bedient. Die Fahrt war kurz, denn Innopolis ist winzig, und das Auto bewegte sich vorsichtig, liess sich etwa besonders viel Zeit beim Abbiegen oder um die Spur zu wechseln, wie ein gewissenhafter Schüler bei einer Fahrprüfung.
«Wegen des rauen Wetters ist Innopolis ideal, um Tests durchzuführen», sagt Marat Mannanow, ein Ingenieur von Yandex, der die örtliche Flotte aus Taxis und Rovern betreut. «Es ist entweder eiskalt, neblig oder verschneit – es gibt keinen besseren Ort, um die Automatik auszutesten.» Studien haben bestätigt, dass die in Kalifornien hergestellten Lidar-Geräte ausfallen, wenn die Temperatur unter minus 20 Grad Celsius sinkt, sodass menschliche Fahrer übernehmen müssen. Deshalb hat Yandex eine neue Generation von kältesicheren Geräten bestellt. (Ein anderes Problem in Innopolis sind Hasen, die immer wieder die Strassen bevölkern, aber bisher haben die Lidars ohne Probleme auf sie reagiert.)
Mannanow sagt, seit der Einführung im Jahr 2018 habe die Flotte der unbemannten Fahrzeuge 10’000 Fahrten ohne Unfälle gemeistert. Wenn doch Probleme auftraten, dann waren sie Mannanow zufolge meistens auf den nicht menschlich gesetzestreuen Charakter der Roboter zurückzuführen. Wenn zum Beispiel ein Schneepflug die Strasse blockiert, wartet ein unbemanntes Taxi einfach, anstatt über das Trottoir zu fahren, um am Fahrzeug vorbeizukommen.
Ein Mikrokosmos der demokratischen Defizite
Bürgermeister Schagaleew wurde diesen Frühling 41 Jahre alt. Bevor er in den Staatsdienst wechselte, machte der ausgebildete Ingenieur Karriere in der russischen Technologiebranche. In seinem alten Leben half er mit, Yota aufzubauen – einen russischen Mobilfunkanbieter –, und er arbeitete mit dessen Gründer (Denis Swerdlow, dem früheren Vizeminister für Kommunikation) an elektrischen Fahrzeugen.
Sie gingen getrennte Wege, als Swerdlow seine Geschäfte in den Westen verlegte und Arrival gründete, eine Elektrotransporter-Firma, die zu einem Prestigeprojekt wurde – Linkedin stufte die Firma als das branchenführende Start-up in Grossbritannien im Jahr 2020 ein. Anlass für diesen Schritt waren laut Schagaleew die Sanktionen des Westens als Reaktion auf die militärischen Angriffe des Kreml in der Ukraine. Es zeigt, wie sehr der Modernisierungswunsch der russischen Wirtschaft mit dem Hang des Kremls zu Isolationismus und Konflikt kollidiert.
Russlands Mangel an qualifizierten Arbeitskräften im Technologiesektor ist zum Teil Schuld der Politik, aber laut Schagaleew auch ein Resultat des Bildungssystems, das mit dem halsbrecherischen Tempo des technologischen Fortschritts nicht Schritt halten kann. Dazu kommt die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. «IT-Profis können arbeiten, wo sie wollen», sagt Schagaleew. «Deshalb müssen wir uns mit dem Rest der Welt messen.»
Der Bürgermeister ist der Regierung gegenüber loyal. Aber die Herausforderungen, denen das Land gegenübersteht, wenn es darum geht, Nachwuchs zu halten, sieht er pragmatisch. «Technologie duldet keine Grenzen, und Experten tendieren grossteils Richtung Westen», sagt er. Eine von Innopolis in Auftrag gegebene Studie, auf die der Bürgermeister verweist, kommt zum Schluss, dass 61 Prozent der russischen IT-Expertinnen bereits einmal in Erwägung zogen, das Land zu verlassen. Schagaleew schätzt, dass in Russland etwa eine Million ausgebildete Programmierer fehlen.
Darauf angesprochen, wie das Anziehen der Daumenschrauben, das gerade in Russland geschieht, zusammenpasst mit dem Ziel, die Abwanderung von Arbeitskräften zu verhindern, seufzt Schagaleew. «Es ist zumindest nicht zuträglich.» Innovation, gibt er zu bedenken, könne nur in einer Atmosphäre der offenen Diskussion stattfinden, die widerstreitende Ansichten zulässt. «Man kann einer Person nicht sagen: Denk dies und denk nicht jenes», sagt er. «Meinungsvielfalt ist immer wichtig.»
So sehr Innopolis für Russlands technologischen Fortschritt steht, so sehr ist es doch auch ein Mikrokosmos der demokratischen Defizite im Land. Die Beschränkungen der politischen Freiheit sind schon in die Gestaltung der Stadt eingeschrieben. Weil der Grossteil der Menschen in Innopolis zur Miete wohnt, gelten sie nicht als dauerhafte Einwohnerinnen und können aufgrund eines nationalen Gesetzes nicht bei Kommunalwahlen abstimmen. Deshalb dürfen bei Lokalwahlen gerade mal 300 Menschen ihre Stimme abgeben – etwa rund 8 Prozent der Gesamtbevölkerung von Innopolis.
Diese Regelung mag im Grossteil Russlands, wo die überwiegende Mehrheit der Menschen Wohneigentum besitzt, nicht für Unmut sorgen. In Innopolis aber ärgert es die Einwohner, die wollen, dass ihre Stimme gehört wird. Eine Reihe von Umfragen des Lewada-Zentrums, die in den letzten Monaten durchgeführt wurden, zeigt, dass junge Menschen und aktive Telegram-Nutzerinnen – also beides demografische Gruppen, die sich stark mit der Bevölkerung von Innopolis decken – doppelt so häufig Sympathien für die von Nawalny geführten Proteste hegen wie der durchschnittliche Russe. Die Bewegung ist immer noch eine Minderheit, aber sie wächst langsam.
Wie mit dem Hammer auf den Kopf
Der Entzug des Wahlrechts ist einer der Gründe, warum Stas und Sasha Litwinow darüber nachdenken, ins Ausland zu ziehen. Stas, ein Softwareentwickler, lebte bereits vor der Gründung in der Gegend von Innopolis, neun Monate verbrachte er als Austauschstudent der Universität Innopolis im amerikanischen Pittsburgh. Auf der einen Seite gefällt es dem jungen Paar, in einem, wie sie es nennen, «Dorf der ersten Welt» zu leben. Sie loben die Erreichbarkeit des Bürgermeisters, den sie beim Vornamen nennen, und erzählen, dass Probleme der Bürgerinnen normalerweise effizient gelöst werden. Ihnen gefällt auch die idyllische Gegend rings um die Stadt: Einwohner lassen ihre Hunde in den Feldern vor der Stadt laufen, und an heissen Tagen fährt die Bevölkerung mit dem Fahrrad zum Sandstrand an der Swijaga. Im Winter ist man in zehn Minuten mit einem Gratisshuttle in einem modernen Skiort.
Aber mit der Zeit ist ihre Enttäuschung über die russische Politik gewachsen und erreichte letztes Jahr einen kritischen Punkt, als Russland ein Referendum zu mehreren Verfassungsänderungen abhielt, darunter jene, die Putin erlauben, bis 2036 an der Macht zu bleiben. Die Litwinows hatten erwartet, dass sich ein Grossteil ihrer Mitbürgerinnen gegen die Änderungen aussprechen würde und waren entgeistert, als sich die Ergebnisse nicht sonderlich vom Durchschnitt der Region Tatarstan unterschieden. Rund 67 Prozent der Menschen in der Stadt hatten für die Änderungen gestimmt. Sasha erzählt, dass sie, als sie vorschlug, eine Onlineabstimmung in der Telegram-Gruppe der Stadt abzuhalten, eine Woche aus dem Kanal verbannt wurde. Stas schrieb schliesslich ein satirisches Theaterstück über die Ereignisse und veröffentlichte es auf Facebook.
Nawalnys Vergiftung, weniger als zwei Monate später, liess sie noch hoffnungsloser werden. Im Januar erlebte Sasha, wie zwei Oppositionsproteste in Kasan, die zu den grössten gehörten, die seit 1990 in Tatarstan stattgefunden hatten, niedergeschlagen wurden. Die Erfahrung erschütterte sie zutiefst: «Es fühlt sich an, wie in einem Computerspiel zu leben, bei dem einen jemand mit dem Hammer auf den Kopf schlägt, sobald man ihn aus dem Loch steckt.»
Sie habe an den Kundgebungen teilgenommen, um ihre zunehmenden existenziellen Sorgen zu überwinden: «Ich bin dort hingegangen, weil es mir Angst macht, in Russland zu leben. Ich habe Angst, Kinder zu bekommen, hier krank zu werden, vor dem, was mit meinen Eltern geschehen könnte, Angst, wenn Polizisten vorbeilaufen.» Als Nawalnys Organisation Unterstützer dazu aufrief, am Valentinstag um 20 Uhr auf die Strasse zu gehen und die Taschenlampen an ihren Handys anzustellen, folgte Sasha dem Aufruf. Sie marschierte gemeinsam mit anderen Regimekritikerinnen aus Innopolis, an die 50 Menschen.
Erfolgreiche Technologieunternehmer und riesige Konzerne stehen vor dem gleichen Dilemma wie Sasha und Stas. Sie müssen entweder einen faustischen Pakt mit dem Regime schliessen und versuchen, das Beste aus Putins autoritärer Modernisierung herauszuholen, oder Russland für immer verlassen. Der Konzern Yandex, der Pilotprogramme in Innopolis durchführt und auch in Moskau Projekte mit fahrerlosen Autos und kurierlosen Lebensmittellieferungen betreibt, ist ein gutes Beispiel für diese Dynamik.
Nachdem sich Yandex als Nummer eins unter den Suchmaschinen im Land etabliert hatte, entwickelte der Konzern eine digitale Infrastruktur, die für viele Russen unentbehrlich geworden ist. Dazu gehören Navigationsapps und Lieferdienste, die das Konsumverhalten der Menschen hier revolutionierten – gerade auf dem Höhepunkt des strengen Coronavirus-Lockdowns im letzten Frühling. Als es verboten war, sich ausserhalb der eigenen vier Wände zu bewegen, wurden Yandex’ schnelle und pünktliche Lieferdienste ein Rettungsanker für viele Russinnen. Und im Gegenzug profitierte die Firma von der Krise. Ihr Umsatz stieg um 24 Prozent im Vergleich zum Jahr davor und der Nettogewinn um satte 116 Prozent.
Gleichzeitig muss die Firma mit dem Dilemma arbeiten, sich vor dem Staat zu schützen und doch mit ihm zu kollaborieren. Schon vor 2020 wurden mehrere Yandex-Dienste juristisch dazu gezwungen, Informationen über Kunden an die staatlichen Sicherheitsorgane weiterzugeben. Diese Entwicklung wurde im Zusammenhang mit dem Fall eines Enthüllungsjournalisten bekannt, der im Juni 2019 wegen des Vorwurfs des Drogenhandels verhaftet wurde. Dass die Anklage schliesslich fallen gelassen und stattdessen die Polizei strafrechtlich verfolgt wurde, weil sie ihm Drogen untergeschoben hatte, war ein seltener Gewinn für die Zivilbevölkerung. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Polizisten Daten über die Bewegungen des Journalisten von Yandex’ Taxidienst erfragt und erhalten hatten – ein Schritt, den Yandex damit rechtfertigte, dass die Zusammenarbeit mit Gesetzeshütern Leben retten könne.
Die Firma hat es grösstenteils geschafft, sich ihre Freiheit zu bewahren. Ein Hinweis darauf ist zum Beispiel, dass Roman «Kukutz» Iwanow, der Leiter von Yandex’ Desktopbrowser-Projekt, letzten Herbst ganz offen dabei half, Nawalnys Behandlung in einer deutschen Klinik nach dessen Vergiftung zu bezahlen. Aber sollten sich die Bedingungen im Land weiter verschlechtern, dürften sowohl Unternehmerinnen als auch Ingenieure letztlich ins Silicon Valley abwandern oder in kleinere Technologieoasen in den benachbarten baltischen Staaten.
Die Litwinows wappnen sich jetzt für ihre mögliche bevorstehende Abreise aus Russland. Sie wollen ihren Hund und ihre vier Katzen mit Chips versehen lassen und Dokumente für sie besorgen, um jederzeit abreisen zu können. Als selbst ernannte Idealisten haben sie beschlossen, dass die Technologieutopie von Innopolis nicht mehr mit ihren Überzeugungen übereinstimmt. Und mit Stas’ beeindruckendem Lebenslauf besteht kein Zweifel, dass sie sich ihren Lebensunterhalt werden verdienen können – wo immer sie schliesslich landen.
Leonid Ragozin ist freier Journalist und lebt in Riga. Dieser Beitrag erschien im April 2021 in «Rest of World».