Das verlorene Jahrzehnt: Wie die Schweizer Klimapolitik durchstartete – und abstürzte
Die Schweiz galt in den frühen 1990er-Jahren als globale Vorreiterin im Kampf gegen die Klimaerwärmung. Doch diese Zeiten sind vorbei. Was ist geschehen?
Von Elia Blülle, 28.05.2021
«Mit Vollgas in die Klimakatastrophe.» So titelt die Schweizer Politsendung «Rundschau» einen Beitrag, der nicht etwa letzten Mittwoch erschien, sondern zu einer Zeit, in der seriöse Moderatoren noch knallbunte, wild gemusterte Krawatten trugen und die DDR gerade ihr Zeitliches gesegnet hatte: im Oktober 1990.
Der Inhalt der Sendung dürfte aber auch bei jenen ein Déjà-vu auslösen, die erst nach dem Mauerfall geboren sind: «Ob wohl unsere Nachkommen die Alpen nur noch grün und grau erleben?», fragt darin die Sprecherin, während die Kamera über einem kahlen Berggipfel kreist.
Harter Schnitt. Auftritt Klimaforscher Hans Oeschger. Zerknittertes Hemd, abstehende Haare – der Chic eines Mannes, der unter seinem Schreibtisch und am Fuss eines Arbeitsbergs übernachtet hat. Entsprechende Dringlichkeit liegt in seiner Stimme. «Wir müssen unbedingt versuchen, die Emissionen von Treibhausgasen möglichst rasch zu stabilisieren und dann zu senken», sagt der Wissenschaftler. «Zum Warten bleibt keine Zeit.»
30 Jahre alt ist die Sendung, und doch ist sie (von Klamotten, Frisuren und Brillengestellen einmal abgesehen) noch immer hochaktuell. Die Diskussion hat sich kaum verändert. Die wissenschaftlichen Beweise, die verheerenden Prognosen und die möglichen Lösungen – alles lag damals bereits vor.
Hans Oeschger, der zerknitterte Wissenschaftler, war Physiker und ein Pionier – er rekonstruierte mit Eisbohrkernen die Klimageschichte der letzten 150’000 Jahre. Seine Forschung zeigte, dass sich das Klima aufgrund des Treibhauseffektes sprunghaft erwärmt hat. Auch abseits der «Rundschau» forderte er unermüdlich, die Schweiz müsse ihre Emissionen jährlich um 1,5 Prozent absenken und als gutes Beispiel für die restliche Welt vorangehen.
Oeschger starb 1998 an Krebs. Hätten Wirtschaft, Politik und Stimmbürger seinerzeit auf ihn gehört, würde die Schweiz heute dreimal weniger Treibhausgase ausstossen – die Klimaneutralität wäre zum Greifen nahe.
Warum hat sich die Klimadebatte in der Schweiz stattdessen in 30 Jahren kaum bewegt?
I. Ein Land sorgt sich
Drei Jahre bevor Klimaforscher Hans Oeschger in der «Rundschau» auftritt, am Morgen des 25. August 1987, gleicht die Urner Reussebene einem gigantischen Reisfeld – alles steht unter Wasser.
Innerhalb von 48 Stunden ist die Regenmenge eines ganzen Monats auf die Innerschweiz gestürzt. In Gurtnellen verschlingt der Fluss um vier Uhr morgens das Pfarrhaus und Teile der SBB-Gotthardstrecke. 50 Kühe, 110 Ziegen und 650 Schweine ertrinken in den schlammigen Wassermassen.
Im Sommer 1987 erlebt die Schweiz die schlimmsten Unwetter ihrer jüngeren Geschichte. Neben der Reussebene sind auch andere Gebiete schwer betroffen. In Lauterbrunnen donnert eine halbe Million Kubikmeter Berg ins Tal, und im Tessin schleppen Geröllmassen Autos durch die Dörfer, als wären sie Spielzeuge. Neun Menschen sterben. Der Sachschaden: bis zu 1,3 Milliarden.
Kaum ist das Wasser versickert, fragen sich Politikerinnen und Journalisten, ob die Überschwemmungen die ersten Anzeichen der menschengemachten Klimaerwärmung sind, von der Wissenschaftlerinnen seit geraumer Zeit berichten.
Schlägt die Natur nun zurück?
Die Überschwemmung der Reuss ist das jüngste Glied in einer Kette von Ereignissen, die den Schweizer Diskurs des ganzen Jahrzehnts prägen. 1979 publizieren US-Klimawissenschaftler den berühmten Charney-Report. Darin steht, dass der Planet sich um 3 Grad erwärmen wird, sollte sich die Kohlendioxidmenge in der Atmosphäre verdoppeln. Gleichzeitig tut sich über der Antarktis ein gewaltiges Ozonloch auf. In Tschernobyl explodiert 1986 ein sowjetischer Nuklearreaktor, und in Basel fliesst im selben Jahr nach dem Brand von Schweizerhalle giftiges Löschwasser in den Rhein – Tausende Fische verenden.
Nie zuvor hat sich die Schweiz so sehr um die Natur und die menschliche Existenz auf dem Planeten gesorgt wie in den Achtzigerjahren: Sie verbietet FCKW-Gase, schützt Moorlandschaften, senkt die Höchstgeschwindigkeiten für Autos und schreibt als erstes europäisches Land einen Katalysator für Neuwagen vor.
Nach den Unwettern von 1987 spricht der Bundesrat 2,5 Millionen Franken, um die Gründe für den Katastrophensommer zu untersuchen. Die in Auftrag gegebene Studie kommt zum Schluss, dass vergleichbare Hochwasser sich häufen könnten. Sicher sei auch, dass eine Klimaerwärmung um 2 bis 3 Grad die Natur bedeutend umgestalten werde: «Die Veränderungen werden weitgehend irreversibel sein.»
Damit ist die Klimaerwärmung endgültig im Schweizer Bewusstsein angekommen.
Zumindest vorübergehend.
II. Die Wissenschaft auf Siegeszug
Ebenfalls im Jahr 1987, wenige Wochen bevor die sintflutartigen Regenfälle auch das Wallis verwüsteten, versammeln sich 55 Forscher im «Grand Hotel» in Gletsch bei Obergoms. Als Physiker Hans Oeschger dort seine Kollegen zur Lancierung eines nationalen Klimaprogramms auffordert, sieht man vom Hotel aus die Gletscherzunge nur noch aus weiter Ferne. Früher ragte sie fast bis zur Terrasse, wie alte Bilder aus dem 19. Jahrhundert zeigen.
Während drei Tagen diskutieren die Forscher über Folgen und Prognosen der Klimaerwärmung. Einige haben ihre eigenen schweren Computer angeschleppt, mit denen sie die Gespräche rapportieren. Sie tauschen Daten aus, diskutieren stundenlang über neuste Forschungsergebnisse und gründen schliesslich das «Forum für Klima und globalen Wandel (Pro Clim)».
Ihr wichtigster Mann, Hans Oeschger, exponiert sich als einer der ersten deutschsprachigen Klimaforscher auch politisch. Er habe Krethi und Plethi von der Notwendigkeit sofortiger Massnahmen zu überzeugen versucht, erinnert sich der mittlerweile emeritierte Geografieprofessor Heinz Wanner. «Hat er dich erwischt, bist du von ihm regelrecht sandgestrahlt worden» – immer habe er dazu die passende Tabelle oder Grafik in der Tasche gehabt.
Oeschger tritt an Hunderten Veranstaltungen auf, spricht vor Service-Clubs und schreibt Artikel für die NZZ, mit denen er auch Wirtschaftsvertreter und Politikerinnen erreichen will.
Und einen Moment lang stösst der Physiker bei Letzteren auf offene Ohren. Im Frühling 1989 beschäftigt sich die CVP als erste bürgerliche Partei mit der «Klimakatastrophe». Die Delegierten verlangen einen Energieartikel «für eine spürbare Reduktion des CO2-Austosses» und weitere Sofortmassnahmen – ohne auf internationale Absprachen zu warten.
CVP-Bundespräsident Arnold Koller verspricht 1990 an der zweiten Weltklimakonferenz in Genf die Einführung einer neuen CO2-Abgabe. «Unsere Experten untersuchen gerade, ob und wie wir unsere Emissionen bis 2025 halbieren können», sagt er. «Wir müssen unsere Verantwortung und Solidarität auf allen Eben wahrnehmen – lokal, national und global.»
Hunderte Minister, Journalistinnen und Wissenschaftler aus 173 Ländern hören zu. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die neben Koller auf dem Podium Platz genommen hat, klatscht eifrig in die Hände.
Als konkrete Massnahme will der Bundesrat Heizöl um 9 Rappen und Benzin um 18 Rappen pro Liter verteuern – zugunsten der Krankenkassenprämie und der erneuerbaren Energien. 1997, also sieben Jahre später, sollen die Ansätze sogar noch einmal verdoppelt werden, so die Pläne. Man wolle nun im Bundeshaus «einen Schritt und nicht bloss ein Schrittchen» wagen, frohlockt sogar die NZZ.
Mit der Lenkungsabgabe verfolgt der Bundesrat eine maximal liberale Klimapolitik. Es bezahlt, wer konsumiert. Richtig umgesetzt, würden durch sie alle anderen Massnahmen obsolet. Der Markt spielt seine Wucht aus – ohne Verbote, übermässige Staatsinterventionen und Bürokratie. So die Theorie.
Neben den Linken begrüssen deshalb auch viele wirtschaftsnahe Politikerinnen eine solche Abgabe. Der Bundeshaus-Korrespondent des Fernsehens verkündet in der «Tagesschau», die Parteien würden mitziehen wollen: «Der Bundesrat darf sich gute Chancen ausrechnen.»
Doch als er das sagt, ist der Gegenwind schon längst kein laues Lüftchen mehr.
III. Aus der rechten Ecke qualmt der Widerstand
Ostermundigen bei Bern, 26. Oktober 1991. Die Autopartei feiert im Säli des Restaurants Bären. Die Männer paffen Zigaretten; der Rauch ist so dicht, dass einem selbst Jahre später beim Ansehen der Bilder der beissende Geruch noch in die Nase steigt. Sie tragen Schnurrbart und jene braungrauen Sakkos, die 30 Jahre später in Brockenhäusern ganze Herrenabteilungen vollstopfen werden.
«Ihr Märchen vom Waldsterben und die massiven Benzinpreiserhöhungen öffneten die Überholspuren», bedankt sich Michael Dreher, der stets ironische Chefideologe der Autopartei beim Bundesrat – ausnahmsweise auf Hochdeutsch, weil eine ARD-Fernsehequipe angereist ist. Normalerweise schliesst die Autopartei sämtliche Journalisten von ihren Versammlungen aus. Doch heute ist alles anders: Die Autopartei hat gewonnen.
Bei den Wahlen im Herbst 1991 erhält die Autopartei auf einen Schlag fast gleich viele Stimmen wie die Grünen und demütigt das von ihnen geschmähte «politische Establishment». Die beiden Regierungsparteien CVP und FDP verlieren je 7 Nationalratssitze. Es ist der Anfang des Niedergangs der klassischen bürgerlichen Parteien.
Die Autopartei politisiert nach ihrer Gründung 1985 mit Ausländerfeindlichkeit und rohem Rechtspopulismus. «Linke und Grüne an die Wand nageln und mit dem Flammenwerfer drüber», fordert Michael Dreher. Er hat begriffen: Der neue Spiessbürger fürchtet neben den Sozialistinnen und Migranten nichts mehr als den Verlust seiner motorisierten Freiheit auf vier Rädern.
Und dank des Wirtschaftsbooms nach dem Weltkrieg können sich auch alle eigene Autos leisten. Zwischen 1960 und 1990 versechsfacht sich der Bestand an Personenwagen auf rund 3 Millionen. Mit ihrer Losung «Freie Fahrt für freie Bürger» betreibt die Autopartei rechte Identitätspolitik, lange bevor der Begriff sich etabliert. Sie spricht jene Menschen an, die ihren kleinen Wohlstand durch linke Öko-Hippies und bürgerliche Bildungsbürgerinnen gleichermassen bedroht sehen.
Dann stürzt nach 1991 auch noch die Wirtschaft unvermittelt ab. Viele Menschen verlieren ihren Job. Jetzt die Benzinpreise für den Klimaschutz zu erhöhen, wäre für die (noch) regierenden Mitte-Parteien politischer Selbstmord. Sie krebsen zurück.
Der Historiker und ehemalige grüne Zuger Nationalrat Josef Lang sagt, seine Partei habe es damals verpasst, die Kraft der neuen sozialen Bewegungen in politisches Kapital umzusetzen, und habe deshalb verloren. Gleichzeitig seien aber auch die FDP und die CVP nach der Wahl der Autopartei 1991 noch einmal deutlich nach rechts gerückt. «Klimaschutz verlor darauf an Bedeutung.»
Aber nicht nur die Mitte-Parteien – auch die Privatwirtschaft verliert ihr anfänglich noch breit propagiertes Interesse am Klimaschutz.
IV. Die Wirtschaft probt den Brutus
Einen Moment lang sieht alles gut aus: Im Vorfeld des Erdgipfels von Rio de Janeiro 1992 ruft eine Gruppe von Wirtschaftsvertreterinnen das Parlament und den Bundesrat dazu auf, sich international für die Einführung einer CO2-Abgabe einzusetzen. Unternehmen wie Swissair, Migros und Credit Suisse unterzeichnen den Brief – Umweltkosten sollten ihrer Meinung nach künftig in die Produktions- und Konsumpreise einbezogen werden.
Sie schreiben: «Eine solche Aktion würde den Ruf der Schweiz als verantwortungsbewusste Wirtschaftsnation festigen.»
Der Politikwissenschaftler Raymond Clémençon ist von 1989 bis 1994 beim Umweltdepartement für die Auslandgeschäfte verantwortlich. Er erinnert sich, wie er damals als junger Beamter in einer Arbeitsgruppe sitzt – auch die Basler Chemie und andere grosse Akteure sind dabei. Sie ziehen eine CO2-Abgabe – richtig ausgestaltet – in Erwägung. Zumindest behaupten sie das. Doch die Privatwirtschaft sei dem Bundesrat später in den Rücken gefallen, so Clémençon. «Man verbrachte zwei, drei Jahre damit, etwas zu diskutieren, das man nie im Sinn hatte zu unterstützen.»
Die erste Vorlage für eine Lenkungsabgabe stirbt 1994, bevor das Parlament sie beraten kann. Der «Vorort» und die «Wirtschaftsförderung» (die beiden Verbände schlossen sich 2000 zum Wirtschaftsdachverband Economiesuisse zusammen) bekämpfen gemeinsam mit der Auto- und Erdöllobby das CO2-Gesetz in der Vernehmlassung vehement. Und zwar mit Argumenten, die später immer wieder auftauchen sollten: Ein Vorpreschen bei der CO2-Abgabe beschädige die Wettbewerbsfähigkeit, und die Schweiz sei kaum an den globalen Emissionen beteiligt – könne also nichts bewirken.
Der Bundesrat solle deshalb auf die EU-Massnahmen warten und erst dann nachziehen, fordern sie.
Doch was macht die EU?
Die wartet bereits auf die USA und Japan.
Und was machen die USA und Japan?
Die tun gar nichts.
Die politische Ökonomie spricht vom Problem kollektiven Handelns: Einzelne Staaten haben als alleinige Akteure kein ökonomisches Interesse am Klimaschutz – selbst wenn alle davon profitieren würden. Es braucht Vereinbarungen und Vorbilder, die vorangehen: Verantwortung annehmen, anstatt sie abzuschieben.
«Die Schweiz sollte als eines der reichsten Länder zu den Vorreiterinnen gehören. Wenn nicht, muss man sich nicht wundern, wenn alle anderen auch stillstehen», sagt Clémençon, der heute an der University of California, Santa Barbara, internationale Umwelt- und Klimapolitik lehrt. «Mit einer frühen CO2-Abgabe hätte die Schweiz nicht nur die progressiven Kräfte in Europa unterstützt und damit eine internationale Vorreiterrolle in der Klimapolitik eingenommen, sondern auch ihre viel zitierte Solidarität gegenüber den ärmsten Entwicklungsländern verstärkt, die von der Klimakrise am schnellsten betroffen werden, jedoch kaum etwas dazu beigetragen haben. Die Schweiz hat leider an Glaubwürdigkeit verloren.»
Stattdessen entschliesst sich die Schweiz Mitte der 1990er-Jahre für den Stillstand und die Warteschlaufe. Die Vorreiterrolle ist weg. Und neue Akteure treten auf den Plan, die sogar bisherige Anstrengungen um jeden Preis verhindern wollen: Wozu stillstehen, wenn man zwei Schritte zurückgehen kann?
V. «Klimaerwärmung?» – der Import einer Lüge
«Klimakatastrophe. Was tun wir?», fragt die Fernsehsendung «Arena» im Frühling 1995.
Fünf Jahre sind vergangen, seit der Bundesrat in Genf vor aller Welt an der Klimakonferenz eine CO2-Lenkungsabgabe angekündigt hat. Passiert ist nichts. Jetzt steht die Frage im Raum, wie es weitergeht.
Im Studio treffen die wichtigsten Wirtschaftsvertreter auf Greenpeace und andere Umweltorganisationen. Die Emotionen kochen hoch, und nach gut einer halben Stunde lässt Economiesuisse-Lobbyist und «Energiepapst» Michael Kohn die Stimmung vollends kippen. Der Titel der Sendung sei nicht ganz richtig, skandiert er: «Das Fragezeichen müsste an einem anderen Ort stehen – und zwar hinter der Klimakatastrophe.»
Die Zweifel an den Klimawissenschaften schwappen nach Europa über. In den USA haben Ölkonzerne wie Exxon Mobil und rechtslibertäre Thinktanks bereits in den 1980er-Jahren mit dem Einsatz von zig Millionen Dollar die wissenschaftliche Evidenz unterwandert. Sie säen mit Lügen systematisch Skepsis an den Forschungsergebnissen und verhindern mit massivem Lobbying schlagkräftige Gesetze.
Die daran beteiligten Ölmultis Exxon Mobil, Shell und BP haben alle Ableger in der Schweiz. Ihr politischer Arm, die Erdöl-Vereinigung, mischt sich ab 1990 immer stärker in die politischen Debatten ein. In ihren früheren Mitteilungen zur Schweizer Klimapolitik schreibt die Vereinigung konsequent, dass die durch die CO2-Konzentration ausgelöste globale Erwärmung auch unter Wissenschaftlerinnen «kontrovers» sei. Was nachweislich falsch ist.
Die Erdöl-Vereinigung sei immer mit am Tisch gesessen und habe Verwirrung gestiftet, wenn er von der parlamentarischen Umweltkommission als Experte eingeladen worden sei, erinnert sich der Physiker Christoph Ritz. «Ihre Vertreter haben den Politikern an solchen Sitzungen zum Beispiel erzählt, der momentane CO2-Zuwachs sei im Verhältnis zum natürlichen CO2 sehr gering und deshalb unbedenklich.»
Ritz hat als Geschäftsführer des Netzwerks Pro Clim während 23 Jahren mit Parlamentariertreffen für einen faktenbasierten Klimaschutz lobbyiert und zuvorderst gegen die von Erdölmultis gesäten Zweifel an den Klimawissenschaften gekämpft. Als der MIT-Physiker (und von der Erdölwirtschaft unterstützte) Richard Lindzen in der NZZ die von Menschen gemachte Klimaerwärmung leugnet, organisiert Ritz Lesebriefe namhafter Wissenschaftlerinnen. Treten Forscher mit ähnlichen Thesen an Kongressen in der Schweiz auf, mobilisiert er seine Kolleginnen, um die Fakten vor Ort richtigzustellen.
Der wichtigste Schweizer Erdöllobbyist ist lange Zeit Rolf Hartl. Ein Zürcher Rechtsanwalt, der bis zu seiner Pensionierung 2016 die Erdöl-Vereinigung leitete – 22 Jahre lang. Während seiner Dienstzeit betont er unermüdlich, dass die Erdöl- und Gasfirmen weltweit zu den grössten Investoren im Bereich der erneuerbaren Energie zählten, verspricht Wundertechnologien als Lösung und spielt die Verantwortung der Ölmultis notorisch herunter. «Es ist der Konsument, der durch sein kurz- und langfristiges Verhalten die Energieversorgung steuert», sagt er einmal in einem Interview.
Die ETH-Umwelthistorikerin Monika Gisler hatte exklusiven Zugang zu den Archiven der Erdöl-Vereinigung, weil sie 2011 in deren Auftrag eine Publikation anfertigte. Sie sagt, die Schweizer Erdölwirtschaft sei in der Schweiz bis in die 1990er-Jahre weitgehend unter dem Radar der kritischen Öffentlichkeit geflogen. Der Erdölmarkt war im Vergleich zu anderen Energiemärkten hierzulande kaum reguliert und genoss Freiheiten, die sich die Branche trotz des Aufkommens des Klimaschutzes bewahren wollte.
«Die Erdöl-Vereinigung war lange ein gut vernetztes Männerbündnis, mit hervorragenden Kontakten in die grossen Wirtschaftsverbände. Ihre Macht sollte man aber auch nicht überbewerten», sagt Gisler. «Um ihre Interessen durchzusetzen, war die Vereinigung immer auf die Unterstützung anderer Organisationen und der Politik angewiesen.»
Nachdem der erste Versuch für eine Lenkungsabgabe gescheitert ist, bildet die Industrie gemeinsam mit der Erdöllobby eine Front. Und der Ton kippt. Bei den wirtschaftsnahen Parteien ist nicht mehr die Rede vom «eleganten marktwirtschaftlichen Instrument» der Lenkungsabgabe – sondern von einer «nutzlosen Selbstkasteiung» und «verkappten Steuererhöhung».
1995 muss die neue Umweltministerin Ruth Dreifuss in der Folge ihre Strategie wechseln.
Sie lädt Konzernleitungen zu vertraulichen Gesprächen im Bundeshaus ein, und auch die Gas- und Erdölimporteure erhalten Audienzen bei der SP-Bundesrätin. Dreifuss braucht den Kompromiss, ansonsten würden die bürgerlichen Mehrheiten eine Vorlage sofort wieder abschiessen, wertvolle Zeit ginge verloren, die der Bundesrat – und auch die restliche Welt – nicht mehr hat.
Obwohl 1996 noch einmal 200 Wissenschaftlerinnen in einer Erklärung die Schweizer Führungsrolle bei der globalen «notwendigen Neuorientierung» verlangen, wird hinter der verschlossenen Tür schnell klar: Eine CO2-Lenkungsabgabe hat in der Schweiz keine Chance mehr.
Und dann kommt die SVP.
VI: Neue Sorgen braucht das Land
Der jüngste Nationalrat aller Zeiten hat am 22. September 1998 seinen Aufzug thematisch an die Debatte zum CO2-Gesetz angepasst. Toni Brunner tritt mit Krawatte ans Rednerpult – darauf abgedruckt: rote Autos.
«Soll ich (…) meinen Tieren das Rülpsen verbieten oder bei meinen Kühen jedes Jahr einen Abgastest durchführen müssen?», fragt der Jungbauer und spätere SVP-Präsident in die Runde. Einer seiner Kollegen ergänzt, dass die Schweiz unnötigerweise einmal mehr im Umweltbereich eine Vorreiterrolle spielen wolle – mit ungewissen Folgen für die Gesamtwirtschaft.
Die Autopartei hat sich nur kurz in der Politik gehalten und geht Ende der 1990er-Jahre in der SVP auf. Politiker wie der Transportunternehmer Ulrich Giezendanner laufen über – und der milliardenschwere Autoimporteur Walter Frey baut gemeinsam mit Christoph Blocher die SVP um – zu einer Partei, die mit einem radikalen Anti-Klima-Kurs die unmittelbaren Geschäftsinteressen ihrer beiden wichtigsten Geldgeber vertritt.
Keine andere Partei bewirtschaftet die Erzählung des wirtschaftsschädlichen Klimaschutzes so erfolgreich wie die SVP. Als das Parlament das neue CO2-Gesetz berät, hat sich das falsche Narrativ längst durchgesetzt. Das, obwohl die vom Nationalfonds finanzierten Studien für die Einführung einer Lenkungsabgabe «positive Wirtschafts- und Beschäftigungseffekte» prognostizieren. Eine Expertengruppe, bestehend aus zehn Wissenschaftlerinnen, legt der Schweiz sogar einen «klimapolitischen Alleingang» nahe – nicht nur aus ökologischen Überlegungen, sondern vor allem auch, weil sie volkswirtschaftlich davon profitieren würde.
Doch solche Überlegungen haben im Parlament keine Chance. Der damalige Umweltminister Moritz Leuenberger sagt heute, ausschlaggebend für die schwache Klimapolitik sei vor allem auch gewesen, dass die ökologisch denkenden Parteimitglieder in der FDP an Macht verloren hätten. «Die Economiesuisse und der FDP-Wirtschaftsflügel haben am Ende Instrumente wie eine Lenkungsabgabe begraben», so der Alt-Bundesrat.
«In meiner 15-jährigen Amtszeit erlebte ich in der Klima- und Energiepolitik oft Meinungsumschwünge, weil kurzfristige ökonomische Interessen plötzlich eine wichtigere Rolle spielten. Der Gegenvorschlag zum Solar-Rappen wurde 2000 zum Beispiel von denselben Parlamentariern, die ihn formuliert hatten, in der Volksabstimmung mit dem Hinweis auf eine kommende CO2-Abgabe bekämpft – und als die CO2-Abgabe zur Beratung kam, wurde sie wiederum von denselben Parlamentarierinnen bekämpft.»
Der ehemalige Leiter des DRS2-Kulturprogramms und spätere, mittlerweile pensionierte WWF-Geschäftsführer Hans-Peter Fricker sagt, als Ur-Freisinniger könne man doch eine Lenkungsabgabe nicht als staatlichen Zwang oder zusätzliche Steuer verteufeln. «Ökologie kriegt man nur hin, wenn man entsprechende Anreize schafft», so das langjährige FDP-Mitglied. Er habe genau das immer und immer wieder zu vermitteln versucht: «Der WWF muss sich nicht vorwerfen lassen, er hätte quantitativ zu wenig getan. Wir haben extra Leute angestellt, an Hunderten von Podien teilgenommen, eigene Studien und Vorlagen ausgearbeitet. Vielleicht hätte ich der FDP und der CVP noch konsequenter erklären müssen, was ein wirksamer Klimaschutz mit ihren fundamentalen Grundwerten zu tun hat.»
Im Oktober 1999 beschliesst die Bundesversammlung nach einer 10-jährigen Beratung das CO2-Gesetz. Demnach darf das Parlament verbindliche Lenkungsabgaben auf Treib- und Brennstoffe nur dann erheben, wenn die verschiedenen Sektoren ihre Emissionsziele mit freiwilligen Massnahmen nicht erreichen sollten.
Das erste Schweizer Klimagesetz ist also mehr Drohung als Gesetz.
Zwei Wochen später gewinnt die SVP bei den eidgenössischen Parlamentswahlen 15 Sitze im Nationalrat. Das heisst: Innert 8 Jahren hat die Blocher-Partei ihre Wähleranteile verdoppelt. Ein gewaltiger Rechtsrutsch. Und statt der Ökologie bestimmen neu Migration und Sozialabbau die Politik – statt um die Natur sollen sich die Schweizerinnen lieber Sorgen um «kriminelle Ausländer» und «Scheininvalide» machen.
Damit endet das verlorene Klima-Jahrzehnt. Mit der Aussicht, dass die Schweiz sich in der Ökologie kaum mehr bewegen wird.
Epilog
Die heutige Schweizer Klimapolitik genügt nicht – das ist keine ideologische Beurteilung, sondern ein Fakt: Die Schweiz verfehlte 2020 das eigene Klimaziel. Gemäss dem Kyoto-Protokoll wäre eine Reduktion von 20 Prozent gegenüber 1990 nötig gewesen – stattdessen waren es nur 14 Prozent.
Nach der Jahrtausendwende wird schnell klar, dass die freiwilligen Massnahmen besonders bei den fossilen Treibstoffen nicht ausreichen. Als die gesetzlich vorgesehene Einführung einer CO2-Abgabe von bis zu 50 Rappen pro Liter droht, schlägt die Erdöl- und Autolobby mit Unterstützung der FDP einen Klimarappen auf Treibstoffe vor. Dessen Einnahmen sollten Reduktionsprojekte im Ausland finanzieren.
Das wissenschaftliche Beratungsorgan des Bundes für Fragen der Klimaänderung schreitet ein. In einem Bericht schreibt das Gremium, eine CO2-Abgabe hätte eine «viel grössere Lenkungswirkung auf die CO2-Emissionen im Inland als der Klimarappen» – über 100 Wissenschaftlerinnen schliessen sich den Empfehlungen an.
Trotz der Bedenken der eigenen Expertinnen unterzeichnet das Umweltdepartement im August 2005 eine Vereinbarung mit der Stiftung Klimarappen – Rolf Hartl von der Erdöl-Vereinigung übernimmt die Stiftungsleitung. Jene Organisation also, die jeglichen Klimaschutz während 15 Jahren bekämpft hat, betreibt nun plötzlich Klimaschutz – um tatsächlich effektive Massnahmen wie Lenkungsabgaben zu verhindern.
Frei nach dem Motto: Wenn plötzlich alle Leute in die Kirche gehen, wird der Teufel Pfarrer.
Das Resultat: Kein anderer Bereich verfehlt heute seine Emissionsziele so stark wie der Strassenverkehr. Im Vergleich zu 1990 ist der CO2-Austoss von Autos, Lastwagen und Motorrädern in der Schweiz sogar leicht angestiegen.
Angesichts der Relevanz des Problems sei die Rede vom «Politikversagen» gerechtfertigt, schreiben der Historiker Ueli Haefeli und der Politikwissenschaftler Tobias Arnold in einem Artikel über die Schweizer Verkehrsgeschichte. «Der Energieverbrauch des Verkehrs wurde nie zu einem Politikum ersten Ranges, trotz des an sich hohen gesellschaftlichen Stellenwerts.»
Doch es wäre zu leicht, alleine der Erdöllobby die Schuld für den Schlamassel zuzuschieben. Sie hatte Helfer: bürgerliche Parteien, die ihren ökologischen Kompass von Machterhalt motiviert irgendwann im Rechtsrutsch weggelegt haben – und nicht zuletzt auch die Schweizer Stimmbürger. Sie schmetterten Energievorlagen ab, die vieles verändert hätten. Als im Jahr 2000 drei verschiedene Initiativen die Einführung einer Lenkungsabgabe auf nicht erneuerbare Energien forderten, scheiterten alle an der Urne.
Was muss nun geschehen, damit sich die Fehler aus den vergangenen 30 Jahren nicht wiederholen?
In jenem alten «Rundschau»-Beitrag, der kurz nach dem Mauerfall ausgestrahlt wurde, trat neben dem Klimawissenschaftler Hans Oeschger auch der damalige Umweltminister und Bundesrat Flavio Cotti auf.
Der Tessiner CVP-Politiker verspricht in der Sendung und an sämtlichen internationalen Klimakonferenzen rasche Schweizer Massnahmen für eine Energiewende. Er appelliert an die Verantwortung der Industrieländer und reist schliesslich sogar in die USA, um die Umweltberater von Präsident Georg Bush («der grösste Sieg der Erdöllobby») von ihren starren Positionen abzubringen.
Der «Ankündigungsminister», wie die Presse ihn später spöttelnd bezeichnet, stirbt im Dezember 2020 an den Folgen einer Corona-Infektion. Er wird nicht mehr erleben, wie die Schweiz am 13. Juni über das neue CO2-Gesetz abstimmen wird, das er einst mitbegründet hat.
Im Falle einer Annahme wird der Bundesrat künftig einen Liter Heizöl mit einer Lenkungsabgabe von bis zu 50 Rappen belegen können. Treibstoffimporteure müssten ab 2025 mindestens einen Fünftel des CO2-Ausstosses mit ausländischen Projekten kompensieren – eine Lenkungsabgabe auf Benzin, wie sie 1990 noch geplant war, ist weiterhin nicht vorgesehen.
Die SVP, einige Freisinnige und die Erdöllobby bekämpfen das CO2-Gesetz mit denselben Argumenten wie vor 30 Jahren: zu teuer, bringt nichts und schadet der Wirtschaft.
Teile der Klimastreikbewegung lehnen das Gesetz ab, weil es zu schwach sei – zu spät, zu wenig.
Klar ist: Das neue CO2-Gesetz würde die Schweiz klimapolitisch wieder auf jenen Kurs bringen, den sie vor über 30 Jahren einmal eingeschlagen hatte. Die Vorreiterrolle holt sie sich auch mit dieser Vorlage nicht zurück – nur eine massive Reduktion im Verkehrsbereich, der einen Grossteil der Emissionen verantwortet, würde den Weg zur Klimaneutralität effektiv beschleunigen.
Die Worte von Flavio Cotti aus dem Jahr 1990 hallen heute noch nach.
«In Gottes Namen», sagt der Bundesrat damals in der Rundschau. «Wir müssen jetzt zu harten Mitteln greifen.»