Das Verschwinden der Wirklichkeit

Das Rahmenabkommen ist tot. Erst Corona, nun Europa – warum die vorgeblich «bodenständige» Schweizer Politik höchst unberechenbar geworden ist.

Ein Kommentar von Roger de Weck, 27.05.2021

Zwei Krisen schütteln die Schweiz, und beide Male versagt strecken­weise das politische System. Seit dem Wirrwarr in der Europa­politik und dem Durcheinander in der Pandemie scheint die Öffentlichkeit perplex zu sein. Immer mehr Zeit­genossen zweifeln an der Machtwelt der alten Parteien und Wirtschafts­verbände, die in letzter Zeit nur noch opportunistisch taktieren.

SVP, SP, FDP und Die Mitte: Alle vier Bundesrats­parteien erleiden Wahl­verluste. So suchen sie Zuflucht in einem mehr oder minder penetranten Populismus, der volksnah tut, aber realitäts­fern ist. Der Bundesrat seinerseits ist zerstritten und in Ermangelung eines grünen Mitglieds nicht mehr repräsentativ zusammen­gesetzt. In der heutigen Stimmungs­demokratie folgt er orientierungslos den wechselnden Stimmungen, die Interessen­vertreterinnen mit ihren PR-Strategen schüren.

Der Bundesrat war erst für den Rahmen­vertrag mit der Europäischen Union und nach einer wohlorchestrierten Medien­kampagne der EU-Kritikerinnen klar dagegen. Genauso Economie­suisse. Die vermeintlichen Schweizer Befindlichkeiten zählen mehr als die Fakten.

Kernbereiche der Politik und Volks­wirtschaft machen eine schlechte Figur. Sie sind unwillig, die Entwicklung zu antizipieren. Gouverner, c’est prévoir? Der gemeinsame Schweizer Nenner heute ist die Unberechenbarkeit: der bitterste Vorwurf, den man an eine Regierung richten kann. Langsam verrinnt deshalb der Schweizer Dünkel, wir machten es besser als das Ausland. Weil es schwierig bis genierlich wird, sich auf die Schulter zu klopfen, ist neuerdings ein bagatellisierendes Achsel­zucken angesagt: Ach, alles halb so schlimm!

Bekanntlich ist die kleine eidgenössische Welt stets nachsichtig mit sich selbst, reflexhaft spielt sie jetzt die Konfusion der Politik herunter. Aber das Kleinreden missliebiger Realitäten kann am Schluss viel Geld, Kraft und Ansehen kosten, wie die Schweiz verschiedentlich erfuhr. Das Land musste in Sachen «nachrichten­lose Vermögen», Bank­geheimnis und Fluglärm­vertrag mit Deutschland dafür büssen, dass es die Sach­lage schlicht nicht wahr­haben wollte. Und jetzt droht wieder einmal das Verschwinden der Wirklichkeit aus der Schweizer Politik: «Uns kann doch nichts passieren!» Als wären wir immun, schutz­geimpft gegen Unbilden. Das Réduit-Denken reduziert die Realität.

Dabei müssten zwei äussere Entwicklungen die Eidgenossenschaft aus ihrer Selbst­bezogenheit wach­rütteln: einerseits die immer tiefer greifende Neuordnung Europas durch die EU, gänzlich am Schweizer Zaungast vorbei; andererseits das weltweite Ende der markt­radikalen Jahr­zehnte, von denen die Schweiz profitiert hat.

Seit Corona ist in Europa wie in Amerika Schluss mit Steuer­senkungen, die unseren bürgerlichen Parteien ein Staats­zweck sind, oder beinahe. Das Kräfte­messen zwischen den USA und China bedroht den Frei­handel, ein Lebens­elixier der Export­nation. Statt zu liberalisieren, wollen westliche Regierungen regulieren, intervenieren und die Wirtschaft ökologisch umbauen, während Bundes­bern im Schlepptau der Wirtschaft bleibt. Der Schweiz wird ihr Umfeld ungemütlich.

Doch was die Eidgenossenschaft unter den neuen Umständen wollen soll, diese Frage meidet die Politik. Die Schweiz zieht es vor, zu verdauen, statt zu thematisieren – und warum denn nicht? Manchmal taugt das Durchwursteln. Wer freilich «ganz pragmatisch» beziehungs­weise phlegmatisch erst einmal abwartet, dabei auch die EU warten lässt, ist reaktiv statt proaktiv; er handelt im Zweifel zu spät. So haben Europa und Corona die Schweiz eingeholt.

Ausgerechnet die Eidgenossenschaft mit ihrem ausgebauten Gesundheits­wesen beklagt deutlich mehr Covid-19-Tote pro Einwohnerin als ihre Nachbarländer Deutschland und Österreich. Doch war das Sterben bloss in der Weihnachts­zeit ein grösseres Medien­thema. Ziemlich indolent, unempfindlich gegenüber Schmerz hat die veröffentlichte Meinung die Opfer mehr beschwiegen als betrauert. Die sehr realen Corona-Toten gehören nicht zur Schweizer Realität.

Eine andere Spielart dieser Indolenz ist das Nicht­verhältnis der Schweiz zum eigenen Kontinent. Jahrelang sind Bundesrat und Parlament den 27 Mitgliedern der EU ausweichend, ja geradezu nonchalant und allemal unbedarft begegnet. Realistischer und rationaler ist da das Volk, das laut Umfragen den vom Bundesrat verworfenen Rahmen­vertrag befürwortete. Dagegen ignoriert die Grosszahl der Partei- und Nabelschau­politikerinnen die elementare Notwendigkeit vertrauens­voller und berechenbarer Beziehungen zu unserer einzigen Nachbarin EU – ähnlich wie «Querdenker» die Realität negieren.

Die Konfusion, die nach der Absage am Rahmen­vertrag herrscht, ist durchaus auf das ewige EU-Bashing zurückzuführen, völlig an der Wirklichkeit vorbei. Die Europäische Union ist die beste Nachbarin, die wir je hatten in der Schweizer Geschichte. Aber ein Teil des Establishments hat «Brüssel» dermassen dämonisiert, dass die Politik keine grösseren Zugeständnisse mehr an diesen «Übeltäter» anzuempfehlen wagt: Die Schweiz hat sich ihres Handlungs­spielraums beraubt.

So laviert der Bundesrat nur noch, bis hin zum Nein an die EU, gestern Mittwoch. Das öffnet einen immer weiter werdenden Freiraum für Neinsager aller Art. Doch von der Gewerkschafts­bewegung bis zur plutokratischen «Bewegung» EU-skeptischer Milliardäre – niemand hat ernsthafte Alternativen vorgelegt, vom Schweigen der Parteien ganz zu schweigen. Und aussen vor bleibt immerzu die Schweizer Öffentlichkeit.

Auch während der Pandemie hat Bundes­bern selten bekundet, was vorrangig sei und was nachrangig. Legte die Landes­regierung doch noch Indikatoren fest (bei welchen Werten an Lockerungen zu denken sei), hielt sie sich willkürlich das eine Mal daran, das andere Mal überhaupt nicht. In der Corona-Krise hatten wir – so krass wie in der Europa­politik – eine direkte Demokratie der Verbands­präsidenten und Partei­taktiker; sie verweigern sich einer Gesamt­schau und kennen eine einzige Realität: ihre Interessen­lage. Öffentlichkeit und Medien waren da erst recht Nebendarsteller.

Es fällt auf, dass Bundes­bern sowohl in Medien­konferenzen zur Pandemie als auch bei Auftritten zur Europa­politik eine wort­reiche und inhaltslose langue de bois (die hölzerne Amts­sprache) spricht, so auch gestern. Die Obrigkeit weicht allen unbequemen Fragen aus – obwohl sich der Bundesrat gern auf die Öffentlichkeit beruft und die Brüsseler Kommission 2019 brieflich belehrt hatte, hierzulande sei «die Beteiligung der Bevölkerung bei der Festlegung [der bundes­rätlichen] Politik unabdingbar».

Der Kommunikation des Bundesrats haftet etwas Anmassendes an – trotz seinem Bemühen, im europa­politischen Chaos Sachlichkeit und in der Seuche Bonhomie auszustrahlen. Regierung und Verwaltung reden alles und jedes schön. Damit nähren sie ein Gefühl von Unwirklichkeit.

Denn ein Bundesrat, der sich treiben lässt, kommuniziert lieber vage. Und die teilnahmslos werdende Öffentlichkeit lässt sich die fusselige Informations­politik bieten, ohne bislang aufzumucken: Je mehr Inkohärenz der Politik, desto mehr Indolenz der Gesellschaft. Im neuen Schweizer Wirrwarr erlahmen die erkenntnis­orientierten Diskussionen. Eine lernfähige Demokratie sieht anders aus.

In der Krise mit der Europäischen Union profitiert die Regierung vom Nationalismus jener Meinungs­macherinnen, die immerzu die EU als Unter­drückerin und die Schweiz als Geprellte darstellen – obwohl keine Volks­wirtschaft so sehr vom europäischen Markt profitiert wie unsere. Die EU, was sie auch immer tut, ist arrogant; und der Bundesrat, was er auch immer verbockt, sollte endlich präpotent auftreten: Das ist die Schweizer Arbeits­hypothese. Wir Nutz­niesser der EU wähnen uns dauernd übervorteilt.

Anscheinend dient solche Inkohärenz der nationalen Kohäsion. Und die Indolenz hilft, einer überfälligen Selbst­vergewisserung auszuweichen. Es lebt sich ermüdend komfortabel in einem öffentlichen Raum allseits geteilter Unlogik.

Die internationalistische Sozial­demokratie frönt jetzt dem Links­nationalismus, sie verteufelt die fremden Richter der EU nach Art der SVP. Und Die Mitte verliess beizeiten diese Position, indem sie vorneweg den Rahmen­vertrag ablehnte, statt Mass und Mitte zu wahren, also Vor- und Nachteile sowie Alternativen abzuwägen. Erst machte man das Abkommen mies, auf dass es leider Gottes «nicht mehrheits­fähig» werde.

Auf dem anderen Felde, nämlich Corona, forderte die FDP den Verbleib des World Economic Forums in Davos und ein vorschnelles Aufheben von Notmassnahmen, was die Topmanager aus aller Welt abschrecken musste. Erst verlangte der Freisinn verlässliche Schwellen­werte im Hinblick auf Lockerungen, dann pochte er auf Lockerungen völlig ungeachtet ebendieser Schwellen­werte. Die staats­kritischen Liberalen empörten sich am lautesten, dass der Staat in die Produktion von Impf­stoff nicht einsteigen wollte.

Aber egal, eine Überdosis Widersinn schläfert die Öffentlichkeit ein. Der Philosoph Jürgen Habermas erörterte schon 1962 den «Struktur­wandel der Öffentlichkeit»: Die Ballung von Geld, Macht und Medien in wenigen Händen entwerte die öffentliche Meinung, während die von Spin-Doctors gesteuerte Meinung überwiege. Solche «Schein­öffentlichkeit» marginalisiere die Öffentlichkeit mündiger Bürgerinnen.

In Politik und Wirtschaft sind es nicht nur populistische Kräfte, die sich ihre Wirklichkeit wahrlügen. Und so stumpft die Öffentlichkeit ab. Inkohärenz und Indolenz sind helvetisch-milde Formen einer Realitäts­flucht. Wird denn diese Öffentlichkeit eines Tages aufarbeiten, wieso die Schweiz dermassen viele Corona-Tote hinnahm – obwohl hierzulande die Bürger angeblich viel mehr gelten als woanders? Werden der Heiligen­schein einer tugend­haften Schweiz und das Feind­bild einer tückischen EU recht­zeitig ausgemustert? Werden wir wieder partner­fähig, sowohl in Europa als auch unter uns vorgeblichen «Eidgenossinnen»? Bleibt Durch­wursteln das grosse Schweizer Projekt?

Die Durcheinander­schweiz verliert nicht nur den Realitäts­sinn, sondern in Europa auch an Gewicht und in der Heimat an Sympathie bei achsel­zuckenden Bürgern, die sich dem eigenen Land still entfremden: Halb so schlimm? Nein, doppelt so schade.

Viele im Land spüren, dass die Schweiz auch schon sympathischer war.