Unzählige Palästinenser haben ihr Zuhause verloren: eine Strasse in Beit Hanoun im Gazastreifen nach elf Tagen Dauerbeschuss. Fatima Shbair/Getty Images

«Das Haupt­problem in Gaza ist der Wiederaufbau der Menschen»

Matthias Schmale ist Direktor der Uno-Hilfsorganisation für Palästina­flüchtlinge. Im Interview erzählt er, wie Türme vor seinen Augen einstürzten und Zehntausende Menschen in Schulen seiner Organisation flüchteten. Er sagt: «Beide Seiten nehmen den Tod von Zivilisten in Kauf.»

Von Daniel Ryser und Nathalie Schmidhauser, 27.05.2021

Elf Tage lang wurde der Gaza­streifen massiv durch die israelische Armee bombardiert. Es war die Reaktion auf den Raketen­beschuss der palästinensischen Hamas, die damit ihrerseits auf den israelischen Angriff auf Betende in der Al-Aqsa-Moschee reagiert hatte. Über 248 Menschen wurden gemäss dem Gesundheits­ministerium in Gaza getötet, darunter 66 Kinder. Kliniken und Spitäler, Presse­büros, Bücher­läden, Shops, Schulen, Hauptstrassen, Flüchtlings­lager und Wohn­häuser wurden zerstört.

«Wenn es eine Hölle auf Erden gibt, dann ist es das Leben von Kindern im Gaza­streifen», sagte am 20. Mai der General­sekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, vor der Uno-General­versammlung. Tausende wurden obdachlos gemacht, Zehntausende waren gezwungen, Schutz in Schulen, Moscheen und anderen Orten mit wenig Zugang zu Wasser, Nahrung oder Hygiene zu suchen, sagte Guterres.

Die Hamas und andere militante Gruppen feuerten von Gaza aus Tausende von Raketen nach Israel, vor allem in den Süden des Landes und bis nach Tel Aviv. Ein Dutzend Personen wurden dabei getötet, darunter zwei Kinder. Ein grosser Teil dieser Geschosse wurde vom israelischen Raketen­­­­­abwehr­system «Iron Dome» abgefangen. Zudem verfügen die meisten israelischen Wohn­gebäude über Luftschutz­keller und raketen­sichere Räume, in denen Zivilistinnen Schutz finden.

Anders im Gazastreifen: Hier leben knapp 2 Millionen Menschen eng zusammen­gepfercht auf 360 Quadrat­kilometern – es ist eines der dichtestbesiedelten Gebiete der Welt. Seit 14 Jahren befindet sich die kleine Enklave unter einer strikten Wirtschafts­blockade durch Israel und Ägypten – völkerrechtswidrig.

Ich will es genauer wissen: Die Blockade des Gazastreifens

Israel und Ägypten kontrollieren, was und wer nach Gaza rein- und rausgeht, inklusive der Energie­versorgung. Israel kontrolliert ausserdem Gazas Luftraum, die Fischerei­rechte, das Bevölkerungs­register, die Mobilfunk­daten. Die Blockade hat verheerende Folgen für die Bevölkerung: Armut und Arbeits­losigkeit sind weitverbreitet. Die sanitäre Situation ist katastrophal: 96 Prozent von Gazas Grund­wasser ist untrinkbar. Aufgrund der kaputten Infrastruktur fliessen täglich über 100’000 Kubik­meter unbehandeltes Klärwasser ins Mittelmeer. Fast drei Viertel der Strände in Gaza sind verseucht. Ein Drittel aller Haushalte besitzt keinen Zugang zu sanitären Anlagen, inklusive fliessenden Wassers. Strom gibt es nur wenige Stunden pro Tag.

Perspektivlosigkeit, Isolation, Angst und Verzweiflung gehören vor allem unter Gazas jungen Menschen zum Alltag. Bereits 2012 warnte die Uno, Gaza werde 2020 ein «unliveable place» sein, ein unbewohnbarer Ort.

Und nun die jüngste Welle der Gewalt. Wie sieht die humanitäre Lage momentan im Gaza­streifen aus? Darüber sprachen wir mit Matthias Schmale, seit 2017 Direktor der Uno-Hilfs­organisation für Palästina­flüchtlinge, UNRWA, im Gazastreifen. Das Gespräch fand via Videoanruf aus Gaza-Stadt statt.

Herr Schmale, kürzlich bezeichneten Sie in einem Interview die Situation für die Zivil­bevölkerung in Gaza als «Terror aus der Luft». Können Sie das ausführen?
Nebst den israelischen Luft­angriffen flogen ja von Gaza aus mehr als 4000 Raketen nach Israel: Beides hat man natürlich mitgekriegt. Es war sehr intensiv. Israel hat von Anfang an auch Hochhäuser zerbombt. Am ersten Abend konnte ich von meinem Apartment aus zusehen, wie die Hanadi-Türme gebombt wurden und zusammen­stürzten. Das Gleiche passierte mit anderen Gebäuden, wie beispiels­weise dem Al-Jalaa-Hochhaus, wo al-Jazeera und die Associated Press ihre Büros hatten. Die Zerstörung dieser Hochhäuser geschah mit einer unglaublichen Wucht, einem unglaublichen Krach. Ich war schon ein paar Mal in meinem Leben in Kriegs­situationen, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Es gibt ja immer wieder den Vorwurf, dass die Hamas sich hinter der Zivil­bevölkerung versteckt. Aber Gaza ist eben extrem dicht besiedelt. Wenn so heftig bombardiert wird, dann beeinträchtigt das natürlich die Zivilbevölkerung.

Wie steht es denn um die Zivilbevölkerung?
Viele meiner Mitarbeitenden – UNRWA hat über 12’000 Mitarbeitende in Gaza, und nur zehn davon sind Ausländerinnen – haben mir gesagt, dass es diesmal schlimmer war als im letzten Krieg, 2014. Nicht unbedingt von den Zahlen her, im letzten Krieg starben über 2200 Menschen und mehr Gebäude wurden zerstört. Aber jetzt war es ein konstanter Terror: elf Tage andauernde Beschiessung und Bombardierung. Es gab diesmal auch keine Feuer­pausen. Man wusste nie, wann es wieder losgeht. Damals gab es schon in der ersten Woche Vereinbarungen für Feuer­pausen – in denen die Zivil­bevölkerung beispiels­weise einkaufen gehen konnte. Aber diesmal nicht.

Wiederaufbau: In Gaza Stadt reinigen Freiwillige am Dienstag die Strassen. Majdi Fathi/NurPhoto/Getty Images

Was waren die Folgen?
Dieser ständige Beschuss hat die Zivil­bevölkerung sehr viel stärker psychisch beeinträchtigt als je zuvor. Die Menschen, auch meine Mitarbeitenden, hatten grosse Angst. Und das sind mutige, standhafte Leute. Die ganze Bevölkerung lebte in Furcht. Darum haben auch fast 70’000 Personen in UNRWA-Schulen Zuflucht gesucht. Das waren vor allem Menschen aus dem Norden Gazas, die eine Boden­offensive befürchteten. Es ist zwar nirgends sicher hier, aber UNRWA-Schulen sind sicherer als das eigene Zuhause.

Warum ist das so?
Die Farbe Blau der Uno wirkt nach wie vor. Bei allem, was ich den Israelis und der Hamas vorwerfe: Es ist schon so, dass keine Seite gezielt auf Uno-Gebäude schiesst. Dafür gibt es keine Beweise.

Sie haben den Vorwurf erwähnt, dass die Hamas sich hinter der Zivil­bevölkerung versteckt. Israel wiederum rechtfertigt seine Gewalt­anwendung mit der gezielten Zerstörung von Hamas-Installationen und der Tötung von Hamas-Kämpfern. In einem Interview hatten Sie diesen Narrativen mit zwei konkreten Beispielen widersprochen. Können Sie diese nochmals ausführen?
Ein Beispiel ist die Bombardierung eines Wohn­hauses im Al-Shati-Flüchtlings­lager, auch beach camp genannt. Bei dieser Bombardierung starben zehn Familien­mitglieder, weil Israel eine führende Hamas-Persönlichkeit treffen wollte. Der war aber nicht im Gebäude zum Zeitpunkt des Bombardements. Und deswegen hinterfrage ich diese Narrative. Wenn Israel sagt, dass sie sehr genau und gezielt schiessen und bombardieren und wissen, wer sich wo befindet, wie ist dann dieser Vorfall zu erklären? Ihre Ziel­person war nicht im Gebäude, und sie wussten das nicht? Acht Kinder wurden dabei getötet. Das passt für mich nicht zusammen. In mehreren anderen Fällen haben die Israelis ja sehr gezielt getroffen. Aber in diesem Fall haben sie eine ganze Familie zerbombt, ohne zu wissen, dass der Vater nicht da ist? Da gibt es eine Unstimmigkeit.

Das andere Beispiel?
Das bezieht sich auf einen dreizehn­jährigen Jungen, Hamza hiess er, seine Mutter ist stark sehbehindert und sein Vater seit längerem tot. Er war draussen unterwegs, um etwas zu essen zu finden für die Familie. Auf dem Rückweg haben sie ihn erwischt. Und in diesem Fall kann man einfach nicht behaupten, die Hamas habe sich hinter der Zivil­bevölkerung versteckt. Das war völlig willkürlich. Der Junge war einfach draussen unterwegs. Das hatte mit der Hamas nichts zu tun. Das Ziel, worauf sie gebombt haben, wahrscheinlich schon. Aber mein Punkt ist eben: Das Argument, dass Israel die Zivil­bevölkerung unter allen Umständen schützt, trifft in diesen Fällen einfach nicht zu.

Wie verhält es sich mit der Hamas? Sie schiesst Raketen aus dem dicht besiedelten Gaza­streifen ab – und nimmt so ebenfalls in Kauf, dass die Zivil­bevölkerung getroffen wird.
Man muss Verantwortlichkeit bei allen involvierten Parteien fordern. Insbesondere im Hinblick auf die Zivil­bevölkerung. In Bezug auf die Hamas bedeutet das: Es ist zwar im dicht besiedelten Gaza tatsächlich schwierig oder vielleicht sogar unmöglich, aus rein militärischen Gebieten Raketen abzufeuern. Aber man muss die Frage stellen, ob es im Hinblick auf die Zivil­bevölkerung verantwortbar ist, von wo aus sie schiessen. Hier aus der Umgebung des UNRWA-Komplexes wurden permanent aus dicht besiedelten Wohn­gebieten Raketen abgeschossen. Versteckt man sich damit bewusst hinter der Zivil­bevölkerung? Wenn ich der israelischen Armee vorwerfe, rücksichtslos vorgegangen zu sein, dann gilt das auch für die Hamas. Beide Seiten nehmen den Tod von Zivilisten in Kauf.

Zur Person

UNRWA

Matthias Schmale ist seit 2017 operativer Direktor der UNWRA in Gaza, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen (Uno) für Palästina­flüchtlinge. Zuvor war der deutsche Ökonom unter anderem für das Internationale Rote Kreuz, das Britische Rote Kreuz sowie Save The Children tätig.

Wie beurteilen Sie als UNRWA-Direktor vor Ort die Lage, über die in den vergangenen Wochen von aussen so viel berichtet wurde?
Es wird im Moment in Bezug auf das Westjordan­land viel über den Begriff der Apartheid gestritten: Ist die Situation mit einem Apartheid­regime vergleichbar? Ich selbst bin als Missionars­kind in Botswana geboren und aufgewachsen. Als ich fünf war, zogen wir nach Südafrika, während der Apartheid. Ich war fünfzehn, als wir wieder wegzogen, und ich habe ein paar Erinnerungen daran, was in dieser Zeit passiert ist. An ein Beispiel erinnere ich mich genau: Ich habe einmal erlebt, wie vor unserem Haus – es war ja alles getrennt und wir wohnten in einem weissen Wohn­gebiet – ein Polizei­wagen vorfuhr und Polizisten zwei oder drei schwarze Menschen verprügelten und in den Polizei­wagen warfen. Und wenn ich sehe, was im Westjordan­land permanent abläuft, dann erinnert mich das schon stark an meine Zeit in Südafrika.

Finden Sie es also berechtigt, dass in einem kürzlich publizierten Bericht von Human Rights Watch dem Staat Israel das international definierte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Apartheid, vorgeworfen wird? Oder die ähnlichen Vorwürfe von B’Tselem, einer israelischen NGO?
Israel sowie ein Teil der internationalen Gemeinschaft lehnen diesen Vorwurf ab. Aber Israel muss sich schon die Frage stellen oder gefallen lassen, ob es nicht wie das südafrikanische Apartheid­regime eine Zweiklassen­gesellschaft geschaffen hat, mit völlig unterschiedlichen Rechten für verschiedene Bevölkerungs­gruppen. Deswegen war dieser Krieg jetzt vielleicht auch so bemerkens­wert: Denn es ging nicht nur um Gaza. Es war eine Reaktion auf das, was in der Al-Aqsa-Moschee passiert ist, was in Sheikh Jarrah passiert ist und was in Israel läuft, sprich die handgreiflichen Auseinander­setzungen zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung. Durch all diese Entwicklungen ist das Gefühl entstanden, dass es um Palästina als Ganzes geht.

Wie sieht die Situation denn in Gaza aus, wo Sie arbeiten? Würden Sie sagen, dass das, was Sie dort täglich erleben, einer Apartheid entspricht?
Hier im Gaza­streifen ist die Situation anders als im Westjordan­land, weil die Israelis in Gaza selbst nicht präsent sind. Aber zu Apartheids­zeiten gab es die sogenannten Bantustans, also Gebiete, die den Schwarzen übergeben worden waren zur Eigen­verantwortung und Eigen­regierung. Aber letztlich wurde alles total vom weissen Südafrika, vom Apartheid­regime, kontrolliert. Sie kontrollierten, was rein- und rausging. Und für mich ist Gaza genau das Gleiche. Es ist wie ein Bantustan. Man kann einfach nicht behaupten, das sei ein unabhängig regiertes Gebiet. Ich beispiels­weise kann hier nur arbeiten mit einer Genehmigung der israelischen Regierung. Das ist keine Souveränität, wenn alles davon abhängig ist, was jemand anders erlaubt. Die jetzige Diskussion zur Apartheid­frage ist für mich letztlich eine akademische Diskussion. Ein Teil meiner Erlebnisse hier sind auf jeden Fall vergleichbar mit dem, was zu Apartheids­zeiten in Südafrika passiert ist.

Lassen wir diese Diskussion mal beiseite und fokussieren auf die derzeitige Lage: Gaza befindet sich seit vierzehn Jahren unter einer strikten Wirtschafts­blockade. Gleichzeitig kam es über diese Zeit zu vier grossen Kriegen zwischen der Hamas und Israel. Heute sind 80 Prozent der Bevölkerung abhängig von humanitärer Hilfe. Bereits 2012 hat die Uno gewarnt, dass Gaza in 2020 unliveable – also unbewohnbar – sein wird. Was heisst das?
Im letzten Jahr wurde mir diese Frage öfter gestellt. Ja, was heisst unbewohnbar? Ich glaube, für viele Individuen ist Gaza seit Jahren unliveable. Es gibt hier eine Arbeitslosen­rate von über 50 Prozent. Für junge Menschen beträgt sie gar 75 Prozent, für Frauen 80 Prozent. Was ist an so einer Situation lebens­wert? Wenn man quasi in einem Freiluft­gefängnis lebt, keine Arbeits­möglichkeit hat und es auch keine Aussicht darauf gibt, dass sich demnächst etwas ändern wird – dann ist Gaza für viele kein Ort, an dem man in Würde leben kann. Die UNRWA betreibt hier 22 Kliniken, und wir führen pro Quartal über eine Million Konsultationen durch. Mein Personal sagt mir immer: Ein Drittel der Erstdiagnosen sind psychische Probleme.

Was sind die konkreten Probleme im Alltag?
Vor allem während der Corona-Krise im letzten Jahr wurde noch offensichtlicher, dass die Hälfte der Bevölkerung von Tages­löhnen abhängig ist. Taxi fahren, Zigaretten verkaufen – jetzt Masken verkaufen. Für die Hälfte der Menschen hier ist das Leben ein Dauer-Überlebens­kampf. Sie müssen sich in einer Wirtschaft, die am Zusammen­brechen ist, über Wasser zu halten versuchen. Sie müssen tagtäglich kämpfen, um genügend Essen auf den Tisch zu bekommen. Ist das ein lebens­wertes Leben?

Ein intakter Spiegel und ein paar Plastikstühle müssen vorerst reichen: Barber Shop in den Ruinen von Gaza-Stadt. Mohammed Abed/AFP

Wie sieht es mit der Infrastruktur aus, mit Strom und Wasser?
Vor drei Jahren gab es nur vier Stunden Strom pro Tag. Dann wurde das, aufgrund von Diesel­spenden aus Katar, auf zehn Stunden hochgeschraubt. Aber die Situation ist unberechenbar. Ausserdem wissen die Menschen nie, wann der Strom zu ihnen kommt. Wenn man abends nach Hause kommt, weiss man nicht, ob der Kühl­schrank den ganzen Tag über aus war und das Essen vergammelt ist. Dann die Wasser­versorgung: Über 80 Prozent der Bevölkerung erhalten kein sauberes Trinkwasser aus ihrem Wasser­hahn. Sie müssen es also kaufen, was teuer ist. Das Abwasser­system ist in einem absolut desolaten Zustand. Jeden Tag läuft das Äquivalent von 43 Olympia-Schwimm­bädern an ungeklärtem Abwasser ins offene Mittelmeer. An vielen Orten in Gaza stinkt es grauenhaft. Die Konsequenzen für die Umwelt und die öffentliche Gesundheit sind dramatisch.

Warum ist Gaza trotz allem noch nicht zusammengebrochen?
Erstens gibt es hier auch Strukturen, die gut funktionieren. Und es gibt Solidarität. Hier liegen nicht wie in anderen Ländern Menschen auf der Strasse und verhungern. Zurzeit ist die Situation desaströs, aber zu normalen Zeiten kann man hier auch ganz normal ins Restaurant gehen. Denn es gibt eine Mittelschicht, die den Rest der Bevölkerung teilweise mitzieht. Diese Mittelschicht profitiert teils von der Tunnel­wirtschaft der Hamas.

Und zweitens?
Ein zweiter Grund sind Geld­rücksendungen aus dem Ausland. Ich kenne kaum jemanden hier, der nicht irgendwo einen Verwandten in der Welt sitzen hat, der Geld zurückschickt. Drittens: das autokratische System. Das ist kein Kompliment an die Hamas, aber durch ihre autoritären Methoden halten sie Gaza irgendwie schon auch davon ab, zusammen­zubrechen. Der vierte Grund ist die humanitäre Hilfe. Was wir und andere Organisationen hier machen, ist präventive humanitäre Hilfe: den Kollaps verhindern.

Zur humanitären Dauer­krise kam letztes Jahr noch die Corona-Pandemie hinzu. Wie sieht es in Gaza aus mit Corona? Der Chefarzt des Shifa-Spitals, Abu al-Ouf, der zuständig war für das Management der Corona-Krise, wurde während dieses Krieges zusammen mit zwölf Familien­mitgliedern in seinem Haus von einer Bombe getötet.
Nur weil Gaza von der Hamas kontrolliert wird, ist nicht alles automatisch schlecht. Es gibt Leute in der Verwaltung – wie Abu al-Ouf –, die letztlich einfach einen guten Job machen wollen oder wollten. So erlebe ich das vor Ort. Muss man bei einem autoritären Regime davon ausgehen, dass alle Beamten und Staats­diener das gleiche Gedanken­gut haben? Ich habe diesen Arzt nicht persönlich gekannt, aber ich kenne andere Personen des Shifa-Spitals oder auch Personen im Gesundheits­ministerium, inklusive des stellvertretenden Gesundheits­ministers, die Mitglieder der Hamas sind. Diese haben aus meiner Sicht im gesamten letzten Jahr versucht, eine ernsthafte Arbeit zu machen, was die Corona-Krise betrifft. Natürlich gibt es auch die politische Führung der Hamas. Die wiederum hat gesagt: Wir haben unter dieser Besatzung sowieso nichts zu verlieren, die Bevölkerung kann dann quasi auch an Corona sterben und wir machen Israel dafür verantwortlich. Das ist wirklich zynisch. Aber es gibt eben auch andere – innerhalb der Hamas-Bewegung und der Verwaltung –, die versucht haben, ihre Bevölkerung vernünftig zu unterstützen.

Wie ist die Pandemie-Lage in Gaza im Moment?
Vor der letzten Eskalation waren wir am Anfang des Endes der zweiten Welle. Jetzt aber gab es während zehn Tagen keine Impfungen und keine Tests. Viele Leute haben sich während des Kriegs auf engstem Raum zusammen­gedrängt. Jetzt müssen wir sehen, wie sich das weiter­entwickelt. Was wir schon jetzt wissen: Das zentrale Covid-19-Test-Labor ist durch eine Bombe, die nebenan einschlug, beschädigt worden. Seit Tagen wird deshalb in Gaza nicht auf Covid-19 getestet.

Seit Freitag vergangener Woche gibt es einen Waffen­stillstand. Und nun?
In der Hoffnung, dass der Waffen­stillstand hält, müssen wir erst mal eine Schaden­erfassung machen. Auch davon, was von der Gesundheits­struktur zerbombt wurde. Wir wissen, dass siebzehn Gesundheits­zentren beschädigt wurden und nicht voll funktions­fähig sind, darunter eine Trauma­klinik von der NGO Ärzte ohne Grenzen. Dann braucht es eine vernünftige Planung, eine Kosten­aufstellung und natürlich Geld. Infrastruktur kann man wieder herstellen und Gebäude wieder aufbauen.

Aber?
Alle Kinder in Gaza, die über vierzehn Jahre alt sind, haben bereits vier Kriege miterlebt. Das hinterlässt Spuren. Wenn man mitten in der Nacht praktisch aus dem Bett fällt, weil es dermassen kracht und scheppert und das ganze Gebäude sich wie während eines Erdbebens hin und her bewegt – dann hat das psychische Folgen. Bei Kindern, aber auch bei Eltern und anderen Erwachsenen. Das Haupt­problem in Gaza ist nicht der Wiederaufbau von Gebäuden und Strassen, sondern der Wieder­aufbau der Menschen. Es geht darum, ihnen zu helfen, damit sie irgendwie mit den Geschehnissen umgehen können. Das ist das Wichtigste.

Und auf der politischen Ebene?
Vor drei Wochen gab es hier so ein bisschen eine Aufbruch­stimmung im Hinblick auf die palästinensischen Wahlen. Über 90 Prozent der wahl­berechtigten Bevölkerung hat sich registriert. Davon waren viele Junge, viele Erst­wählerinnen. Und ich habe viele getroffen, die gesagt haben: «Das wird wahrscheinlich keinen besonders guten Ausgang nehmen, weil wir die Wahl haben zwischen Halunken und Halunken.» Aber trotz allem gab es vielen eine Perspektive. In ein Wahl­lokal gehen und eine Stimme abgeben zu können – das war wichtig. Es braucht einen Neuanfang im Sinne eines neuen politischen Prozesses. Damit vor allem die jüngere, aber generell die ganze Bevölkerung das Gefühl bekommt, dass sich eine Perspektive eröffnet.

Wie geht es jetzt weiter?
Wenn wir als inter­nationale Gemeinschaft der palästinensischen Bevölkerung – und zwar nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordan­land und Ostjerusalem – nicht bald das Gefühl geben, dass die Situation sich verbessert, dass es eine gerechte Lösung gibt, eine Alternative zum Status quo – dann stehen wir bald wieder vor der gleichen Situation.

Zur Autorin

Nathalie Schmidhauser arbeitet als freie Journalistin. Sie hat viele Jahre in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens gelebt und gearbeitet, unter anderem für das EDA und von 2014 bis 2017 für die UNRWA im Gazastreifen. Sie publizierte zu schiitischen Milizen im Irak und spricht Arabisch.