Stefanie Sargnagel

Auf Österreichs Bussi-Bussi-Bühne 😘😘

Die Korruptions­staatsanwaltschaft ermittelt gegen die halbe Alpenrepublik – und nun gar gegen Kanzler Sebastian Kurz. Eine Theaterkritik.

Von Solmaz Khorsand, 24.05.2021

Alle Personen in diesem Text sind real. Alle bestreiten alle Vorwürfe. Für alle gilt die Unschulds­vermutung. Das nur vorab. Es empfiehlt sich, vorsichtig zu sein dieser Tage in Österreich. Schliesslich ermittelt die Wirtschafts- und Korruptions­staatsanwaltschaft gegen die halbe Republik. Um genau zu sein: gegen die türkise Reichs­hälfte, also die ÖVP. Der amtierende Finanz­minister, zwei ehemalige Finanz­minister, ein ehemaliger Justiz­minister, Spitzen­beamte und der Manager einer Staats­holding, sie alle stehen auf der Liste.

Seit dem 12. Mai ist diese Liste um eine Person länger: Bundes­kanzler Sebastian Kurz. Die Staats­anwaltschaft ermittelt wegen Falschaussage. Er soll im parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss zur Ibiza-Affäre nicht die Wahrheit gesagt haben. Im Falle einer Anklage droht ihm eine Freiheits­strafe von bis zu drei Jahren.

Kurz selbst sieht das entspannt. Noch am Tag, als die Ermittlung gegen ihn bekannt wird, stellt er sich der Presse, verkündet, «reinen Gewissens» zu sein und definitiv keine Konsequenzen zu ziehen. Komme, was wolle: kein Rücktritt, selbst im Falle einer Anklage. Seine Regierungs­partner, die Grünen, schauen sich das Spektakel von der Seiten­linie an. Sie wollen abwarten, was die Ermittlungen ergeben.

Auch für österreichische Verhältnisse sind das viele firsts: ein amtierender Bundes­kanzler, gegen den wegen Falsch­aussagen ermittelt wird; ein Verfassungs­gericht, das den Bundes­präsidenten anbettelt, den Finanz­minister zu zwingen, einem parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss Akten zu liefern; ein ÖVP-Ausschuss­vorsitzender, der davon fantasiert, die Wahrheits­pflicht just in Untersuchungs­ausschüssen abzuschaffen, weil die Personen darin «eine ungeheure Sorge» hätten, etwas Falsches zu sagen. Und zwischendurch überträgt auch noch der Österreichische Rundfunk (ORF) auf seiner Website zwei Stunden lang live den Parteitag der Jungen ÖVP, wo die ÖVP-Spitze selig in die Kamera lächelt.

Was ist los in Österreich?

Nicht viel, lautet die Antwort abgebrühter Zynikerinnen. Business as usual sozusagen. Nur gerade eben etwas transparenter, sichtbar für die gesamte Welt. Der Schrift­steller Thomas Bernhard hat es eleganter formuliert. Dieses Jahr wäre Österreichs Lieblings-Enfant-terrible 90 Jahre alt geworden. In seinem Skandal­theater­stück «Heldenplatz» (1988) lässt er seinen Protagonisten Professor Robert jene Antwort geben, die unter Umständen erklären könnte, was gerade los ist in Österreich – das, was immer los ist in Österreich:

Österreich selbst ist nichts als eine Bühne, auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist.

Zeit, wieder einmal den Schein­werfer auf diese Bühne zu richten, in vier Erinnerungs­stützen.

I. Backstage: «Die Novomatic zahlt alle»

Für ÖVP-Politiker lässt sich derzeit hauptsächlich eine Bühne ausmachen, auf der Österreich verlottert und vermodert erscheint: und zwar im Parlament, im Untersuchungs­ausschuss zur Ibiza-Affäre. Seit dem 22. Januar 2020 wird jene «bsoffene Gschicht» untersucht, die 2019 die türkis-blaue Koalition von ÖVP und FPÖ zu Fall brachte.

Im heimlich auf Ibiza aufgezeichneten Video versprach der spätere FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache noch vor seiner Regierungs­beteiligung mit der ÖVP einer vermeintlichen Investorin aus Russland lukrative Staats­aufträge, wenn sie seiner Partei zum Wahlsieg verhelfen würde. Er prahlte damit, wie sich in Österreich das Gesetz zur Partei­finanzierung geschickt umgehen lasse und Spender und Parteien ganz unkompliziert zueinander­finden würden. Als Beispiel nannte er zahlreiche prominente Geldgeber, darunter den Glücksspiel­konzern Novomatic. Sein Ausspruch «Die Novomatic zahlt alle» liess vermuten, dass sich das Unternehmen Einfluss in der Politik erkaufe. Und zwar nicht nur bei der FPÖ. Die Novomatic weist alle Vorwürfe zurück.

Im «Untersuchungs­ausschuss betreffend mutmassliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundes­regierung» gehen die Abgeordneten seit über einem Jahr der Frage nach, ob und wie Spenderinnen Einfluss auf die Gesetz­gebung der ÖVP-FPÖ-Koalition genommen haben. Am 15. Juli ist Schluss. Um den Ausschuss zu verlängern, bräuchte es eine parlamentarische Mehrheit, also die gesamte Opposition mit den Stimmen der Grünen etwa, jener Partei, die einst mit «sauberer» Politik Wahl­kampf betrieben hat. Doch die haben bereits abgewunken. Sie würden einer Verlängerung nicht zustimmen, man könne ja den Ausschuss neu einberufen, alle Akten vernichten und von vorne beginnen. Ein klarer Liebes­beweis für den Koalitions­partner ÖVP. Denn die hat kein Interesse an einer Verlängerung.

Als «Tribunal» und «Steuergeld­verschwendung» bezeichnen ÖVP-Politiker den U-Ausschuss. Landwirtschafts­ministerin Elisabeth Köstinger spricht von einer «Löwinger-Bühne», ein österreichischer Ausdruck für ein Bauern­theater, einschlägig bekannt für seichte Schenkelklopf-Unterhaltung.

Die Gründe für diese türkise Antipathie sind schnell ausgemacht: Die ÖVP steht mittlerweile im Zentrum der Untersuchungen. Der einstige Junior­partner FPÖ scheint fast vergessen. Alles dreht sich nur noch um die Kanzler­partei – obwohl sie anfangs alles daransetzte, genau das zu verhindern. Gemeinsam mit den Grünen versuchte die ÖVP, die Aufarbeitung des Ibiza-Skandals ausschliesslich auf die Fehl­tritte der FPÖ zu begrenzen, auf ihre Netzwerke, ihre Vettern­wirtschaft, ihre dubiosen Deals.

Immerhin gab es dahingehend bereits Ermittlungen seitens der Korruptions­behörden, etwa rund um die Bestellung eines – aus Sicht eines damals konsultierten Personal­beraters – unqualifizierten FPÖ-Bezirks­politikers zum Finanz­direktor der Casinos Austria, eines teilstaatlichen Unternehmens, an dem die Novomatic bis vor wenigen Monaten noch Anteile hielt und bei dem sie im Aufsichtsrat sass. Die Wirtschafts- und Korruptions­staatsanwaltschaft (WKStA) prüft, ob der FPÖ-Mann seinen Job der Patronage der Novomatic zu verdanken hat, weil ihr die FPÖ Glücksspiel­lizenzen in Aussicht gestellt hatte. Alle Beschuldigten bestreiten die Vorwürfe.

Wieso nicht genau hier weiter­stochern im U-Ausschuss? Der FPÖ-Dunst­kreis gibt doch genug her für Überprüfungen! Und überhaupt: Schliesslich waren es doch zwei verschwitzte FPÖ-Politiker, die einer angeblichen Oligarchen­nichte auf Ibiza das Blaue vom Himmel versprochen haben, nicht die Slim-Fit-Buben rund um Kurz. Wieso es nicht dabei belassen? Alles andere wäre doch nur zu breit, zu ungenau, zu unseriös, argumentierte die aktuelle Regierung.

Doch die Opposition liess nicht locker. Sie verlangte mehr. Und der Verfassungs­gerichts­hof gab ihr recht. Von Bestechlichkeit über Posten­schacher bis hin zu Ämter­patronage in der türkis-blauen Regierung sollte alles im U-Ausschuss aufs Tapet.

Ein Untersuchungs­ausschuss ist das schärfste Instrument der parlamentarischen Kontrolle. Hier überprüfen die Abgeordneten die Arbeit der Regierung und klären, ob ihre Mitglieder strafbare Handlungen begangen haben. Verurteilt wird hier niemand, schliesslich handelt es sich nicht um ein Gericht. Es geht um politische, nicht um rechtliche Kontrolle. Doch ähnlich wie vor Gericht gilt auch hier die Wahrheits­pflicht. Wer sich nicht daran hält, dem drohen im Falle einer Anklage bis zu drei Jahre Haft.

Bei Bundes­kanzler Sebastian Kurz könnte das bald der Fall sein. Die Korruptions­staats­anwaltschaft geht dem Verdacht nach, dass Kurz und sein Kabinetts­chef bei ihren Befragungen im Untersuchungs­ausschuss im Juni 2020 mehrfach die Unwahrheit gesagt haben. Das Thema: der Kanzler-Vertraute Thomas Schmid, Alleinvorstand der Österreichischen Beteiligungs AG (Öbag). Oder, wie es die Tages­zeitung «Presse» formulierte, der Karrierist, der Kurz die Karriere kosten könnte.

II.­Das Casting: «Kriegst eh alles was du willst»

Es muss bitter sein, wenn am Ende der Karriere eines Karrieristen nur eine Sache übrig bleibt, an die sich die Leute erinnern werden: Muskel-Emojis. Dieses Schicksal könnte Thomas Schmid ereilen. Und es dürfte gerade die geringste seiner Sorgen sein, obgleich das am meisten an seinem Ego kratzen wird.

Einst Kabinettschef und General­sekretär ÖVP-geführter Finanz­ministerien, ist Schmid seit April 2019 Alleinvorstand der Öbag. Die Staats­holding verwaltet die Anteile der Republik an börsen­notierten Unternehmen wie der OMV, der Telekom Austria, der Post und der Casinos Austria – ein Vermögen von knapp 27 Milliarden Euro.

In ihrer aktuellen Form ist die Öbag noch sehr jung. Erst 2018 wurde die einstige staatliche Beteiligungs­gesellschaft, Öbib, in eine völlig neu strukturierte Aktien­gesellschaft umgebaut. Um sich dort den lukrativen Posten als Alleinvorstand zu sichern, liess Thomas Schmid, studierter Jurist und Politik­wissenschaftler, als Schatten­minister aus dem Finanz­ministerium ungehemmt die Muskeln spielen:

Thomas Schmid: (…) bitte mach mich nicht zu einem Vorstand ohne Mandate. Das wäre ja wie Wiener Stadtrat ohne Portfolio.

Sebastian Kurz: Kriegst eh alles was du willst 😘😘😘

Thomas Schmid: Ich bin so glücklich :-))), ich liebe meinen Kanzler 👍👍💪💪

Chatprotokolle, die der Korruptions­staatsanwaltschaft vorliegen, dokumentieren, wie sich Schmid seinen Traum­job zusammen­geschustert haben soll, von der Bestellung des Aufsichts­rats über die exakt auf ihn abgestimmte Ausschreibung bis hin zur Frage, wer sich um sein Motivations­schreiben kümmert. Ein österreichischer Leistungs­träger par excellence.

Die Staatsanwaltschaft beschäftigt sich seit Monaten mit Thomas Schmid. Im Zuge der Ermittlungen rund um den Posten­schacher in der Casinos-Affäre, kam es auch bei ihm Ende 2019 zu einer Haus­durchsuchung. Auf seinem sicher­gestellten Smartphone, dessen Nachrichten er gelöscht hatte, konnten Forensikerinnen 300’000 Nachrichten wieder­herstellen, darunter auch jene zwischen ihm und Bundes­kanzler Kurz sowie Finanz­minister Gernot Blümel.

Diese Nachrichten geben Einblicke in das System Kurz, wie es funktioniert, wie es Leistung definiert, Kritiker einschüchtert und vor allem, wie es kommuniziert. So lässt sich Emoji für Emoji nachverfolgen, wie Schmid sein Sprung aus der zweiten Reihe der Politik in die erste der staatsnahen Wirtschaft gelungen ist – mithilfe seiner ÖVP-Seilschaften, die von allem nichts gewusst haben wollen.

Genau das könnte Kurz nun auf die Anklage­bank bringen. Im Untersuchungs­ausschuss verneinte er am 24. Juni 2020 unter Wahrheits­pflicht, mit der Bestellung seines Vertrauten Schmid zum Öbag-Allein­vorstand etwas zu tun gehabt zu haben. Ebenso behauptete er, nicht mit der Zusammen­setzung des Öbag-Aufsichts­rats, der Schmid später wählen sollte, befasst gewesen zu sein. Seine Einbindung in die Personalie Schmid sei lediglich die eines passiven bystander gewesen, er sei «irgendwann davon informiert» worden, dass sich Schmid bewerben wolle, doch er könne sich nicht daran erinnern, sich je für ihn eingesetzt zu haben. Die Entscheidung habe der Aufsichts­rat getroffen, und auf diesen habe er keinen Einfluss genommen. Die Emoji-Chats sprechen eine andere Sprache. Sie legen den Verdacht nahe, dass Kurz entgegen seiner Aussage sehr wohl involviert war. Und zwar massgeblich.

Dass Anklage gegen ihn erhoben wird, davon geht Sebastian Kurz aus. Grosse Sorgen bereitet ihm das nicht. Wenn Kurz eine Sache kann, dann ein Parallel­universum herbei­kommunizieren, in dem ein klares Freund-Feind-Schema ihn zum Helden macht und alle anderen zum Gegner.

Das hat er 2019 schon einmal getan, als das Parlament nach der Ibiza-Affäre seiner Regierung das Misstrauen ausgesprochen hatte und er als erster österreichischer Regierungs­chef aus diesem Grund das Feld räumen musste. Kurz sah sich als Opfer und quittierte den Entscheid mit den Worten: «Das Parlament hat bestimmt, das Volk wird entscheiden.» Das bringt seine Wert­schätzung gegenüber der Institution gut auf den Punkt. Und das Volk entschied in seinem Sinne: Der geschasste Kanzler gewann die Wahl mit 37,46 Prozent. Das Opfer siegte.

Nun erlebt Österreich ein Déjà-vu. Wieder führt das Opfer, dem übel mitgespielt wird, das Wort: «Meine Mutter ist extrem traurig und besorgt. Sie sagt, sie hätte sich für mich etwas anderes gewünscht als die Politik und diesen Umgang», erzählt Kurz im Boulevard­medium «Krone».

Auch im Fernsehinterview in den Abend­nachrichten hält er mit seinen Emotionen nicht hinter dem Berg. Er bittet den Moderator Armin Wolf, sich doch einmal in ihn einzufühlen, wie es sei in so einem Untersuchungs­ausschuss mit seiner «aufgeheizten Stimmung», wie da mit Unterstellungen und Untergriffen gearbeitet werde, wie jedes Detail, jede «semantische Feinheit» dafür genutzt werde, eine Falsch­aussage herbeizureden, ihm die Worte im Mund zu verdrehen. Ihm, der nichts Falsches gesagt habe, schon gar nicht vorsätzlich.

Und er geht einen Schritt weiter: «Was ist denn das Ziel von all dem?», fragt er den Moderator rhetorisch: «Das Ziel hinter all dem ist: Kurz muss weg. Seitdem ich Bundes­kanzler bin, wird versucht, zunächst mit Demonstrationen, danach mit der Abwahl im Parlament, jetzt mit ständigen Anzeigen, irgendwie mich aus dem Amt zu befördern.»

Für einen Moment könnte man meinen, hier dem Nerven­zusammenbruch eines Spitzen­politikers beizuwohnen, wie er seinen ganz persönlichen Verfolgungs­wahn mit seinen Lands­leuten im Fernsehen teilt. Doch weit gefehlt. Die Verschwörungs­erzählung hat Kalkül. Im Abgang vergisst Kurz nicht zu erwähnen, dass er mit seinem Team schon zwei Wahlen gewonnen hat. Vorsicht also. Wer ihn «anpatzt», kann nur verlieren, so die Botschaft.

Nicht umsonst ziert sich selbst die Opposition derzeit, nach Neuwahlen zu rufen. Sebastian Kurz ist längst im Wahlkampf­modus, einige würden behaupten, er kenne nichts anderes. Er weiss, wie er sprechen muss, um bei den Wählerinnen den «Jetzt erst recht»-Reflex auszulösen. Da kann ihm der Rechts­staat noch so viele Knüppel in den Weg legen. Je mehr, umso besser.

Je mehr Drachen, umso tapferer der Ritter in glänzender Rüstung.

III. Die Crew: «Ich bin ein überzeugter Demokrat»

Gernot Blümel ist ein Pionier des österreichischen Rechts­staats. Viele Premieren hat die Republik dem Finanz­minister und Kurz-Intimus zu verdanken. Blümel ist der erste amtierende Finanz­minister Österreichs, bei dem eine Haus­durchsuchung durchgeführt worden ist, weil gegen ihn ermittelt wird. Er ist der erste, gegen den das Verfassungs­gericht eine «Exekution», eine Zwangs­vollstreckung, beim Bundes­präsidenten beantragt hat. Und er ist der erste Finanz­minister, gegen den die Opposition – geeint – eine Minister­anklage einbringt.

«Ich bin ein überzeugter Demokrat und Patriot, ich bin auf die österreichische Bundes­verfassung angelobt und bin ihr und den Institutionen zutiefst verpflichtet», erklärt er sich im Fernseh­interview, «wenn hier in den vergangenen Tagen ein anderer Eindruck entstanden sein sollte, dann tut mir das wirklich leid, und dafür möchte ich mich aufrichtig entschuldigen.»

Das war, unmittelbar nachdem ihn Bundes­präsident Alexander Van der Bellen angerufen hatte, jetzt doch bitte endlich die Akten an den Ibiza-Untersuchungs­ausschuss zu liefern, wie es das Verfassungs­gericht schon zwei Monate zuvor angeordnet hatte. Blümel hatte dem U-Ausschuss die Daten verweigert mit dem Hinweis, die Geheimnisse Dritter schützen zu wollen. Im Extrem­fall hätte Van der Bellen sogar mit dem Bundes­heer bei Blümel aufkreuzen können. Blümel parierte schliesslich. Auf seine Weise.

Das Finanz­ministerium lieferte dem U-Ausschuss 204 Ordner mit 65’000 beidseitig bedruckten Seiten, ohne Inhalts­verzeichnis, ohne die Möglichkeit, nach Stichworten zu suchen – und klassifiziert als geheim. Das bedeutet, die Abgeordneten dürfen die Unterlagen nur in einem gesicherten Raum einsehen und keine Kopien machen. Knapp eine Woche und eine Empörungs­welle später schickte das Finanz­ministerium einen USB-Stick nach.

Blümel ist kein Fan des Ausschusses. Wie auch. Er macht darin keine gute Figur. 86 Mal hat er sich bei seiner ersten Befragung im Sommer 2020 nicht erinnern können, und er gab unter anderem zu Protokoll, keinen Laptop zu besitzen. Ein paar Monate später ging der nicht existente Laptop kurz vor der Haus­durchsuchung mit seiner Lebens­gefährtin spazieren.

Gegen Blümel laufen Ermittlungen wegen Bestechungs­verdachts rund um eine Handy­nachricht aus dem Jahr 2017. Der damalige Novomatic-Chef Harald Neumann hatte den heutigen Finanz­minister Blümel – damals noch Wiener ÖVP-Chef – um «einen kurzen Termin» beim damaligen Aussen­minister Kurz gebeten. Dieser bereitete sich zu dem Zeitpunkt auf das «Projekt Ballhaus­platz», seinen Sprung ins Bundes­kanzler­amt, vor.

Neumann hatte Gesprächs­bedarf, «erstens wegen Spende und zweitens bezüglich eines Problems, das wir in Italien haben». Der Glücksspiel­konzern hätte dem italienischen Fiskus zwischen 40 und 60 Millionen Euro Steuern nachzahlen müssen. Noch am selben Tag bat Blümel per Kurznachricht den damaligen General­sekretär im Finanz­ministerium, Muskel-Emoji-Mann Thomas Schmid, den Novomatic-Chef einmal anzurufen. «Tu es für mich 😘.» Eine Partei­spende für Hilfe­leistungen? Blümel verneint. Es sei üblich, österreichischen Unternehmen im Ausland aus der Patsche zu helfen, wenn sie rufen.

Und die SMS? Keine Staats­affäre. Nur ein wenig «salopp» formuliert.

IV. Das Publikum: «Alles wurscht»

Salopp, so lässt sich das Verhältnis der ÖVP zum Rechtsstaat zusammen­fassen. Ein «Fremdwort» sei er für die türkise Partei, befindet der Verfassungs­jurist Heinz Mayer. Im Gespräch mit dem «Standard» stellt er der Kanzler­partei ein vernichtendes Urteil aus. Ihr Umgang mit dem Höchst­gericht sei der «erste Schritt zum Staats­streich». Und auf die Frage, ob die Kanzler­partei nicht fürchte, in der Gunst ihrer Wählerinnen und Wähler zu fallen, sagt er: «Ich nehme an, die ÖVP geht davon aus, dass ihren Wählern alles wurscht ist.»

Damit hat die Partei recht. Vier Tage nachdem Bundes­kanzler Kurz bekannt gab, dass die Staats­anwaltschaft gegen ihn ermittle, wurden die ersten Umfragen veröffentlicht. Wäre am nächsten Sonntag Wahl, welche Partei würden Sie wählen? Unangefochten an der Spitze mit 34 Prozent steht die ÖVP. Für wen würden Sie stimmen, wenn man den Bundes­kanzler direkt wählen könnte? 29 Prozent sagen Sebastian Kurz, weit vor der zweit­platzierten SPÖ-Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner, die auf 15 Prozent kommt.

Das österreichische Wahlvolk ist eben kulant. Ein paar Skandale hält man hierzulande schon aus. Schon 2011 wurde gegen einen Bundes­kanzler ermittelt. Damals hiess der Werner Faymann, SPÖ-Chef, dem vorgeworfen wurde, in seiner Zeit als Infrastruktur­minister den Österreichischen Bundes­bahnen nahegelegt zu haben, Inserate in Höhe von 500’000 Euro in Boulevard­medien zu schalten. Die Staats­anwaltschaft ermittelte wegen des Verdachts des Amts­missbrauchs und der Untreue. Zwei Jahre später wurden die Ermittlungen eingestellt. Und Faymann gewann die Wahl mit der SPÖ als stimmen­stärkster Partei.

Ja, solche Ermittlungen tun den Österreicherinnen nicht weh. Ebenso wenig das angeschlagene Verhältnis der Staats­spitze zur Justiz. Etwa wenn Bundes­kanzler Kurz seine eigene Korruptions­behörde infrage stellt, indem er sich in einem offenen Brief der Korruptions­anwaltschaft als Zeuge anbietet, um «fehlerhafte Fakten sowie die falschen Annahmen» rund um seinen Finanz­minister aus der Welt zu schaffen. Auch das erschüttert nicht das Vertrauen des Wahlvolks in das demokratische Grund­verständnis des Regierungschefs.

Bleibt nur eine Frage: Warum?

Vielleicht hat auch dafür Professor Robert aus Thomas Bernhards «Helden­platz» eine elegante Erklärung, für diese «verlotterte» Bühne Österreich, «eine in sich selber verhasste Statisterie von sechseinhalb Millionen Allein­gelassenen, sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige, die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem Regisseur schreien». Derzeit, so scheint es, haben sie ihren Regisseur gefunden, und sie lassen ihn so schnell nicht gehen.

Professor Robert prophezeit, wo diese Sehnsucht auf lange Sicht endet: «Der Regisseur wird kommen und wird sie endgültig in den Abgrund hinunterstossen.»