Russkaja!
Der Eurovision Song Contest wird gern als purer Trash verschrien. Aber hier werden nationale und europäische Identitäten verhandelt. Diesmal zum Beispiel: Was heisst es, wenn Russland mit einer Sängerin tadschikischer Abstammung antritt, die sich für feministische und queere Anliegen einsetzt?
Von Leandra Bias, 21.05.2021
Mit einem Schlag öffnet sich das Ungetüm von traditionellem, wild gemustertem Gewand, in dem die Künstlerin steckt. Hervor tanzt eine Frau im knallroten Overall, sie singt: «Worauf wartest du? Steh auf und geh voran!»
Der Song «Russian Woman» der Künstlerin Manizha ist der diesjährige Beitrag von Russland am Eurovision Song Contest (ESC). Und er ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Denn Manizha kontert mit ihrem Auftritt Stereotype und weit verbreitete Erwartungen an die Frauen in Russland. Ihre Figur? Nicht diejenige eines Fotomodells. Ihre Art? Definitiv nicht leise und unterwürfig.
Sie stampft, ballt die Faust, stellt ihr wuchtiges Selbstbewusstsein zur Schau. Die Botschaft? Wartet nicht länger auf den rettenden Prinzen, machts selber.
Wegen seiner gesellschaftskritischen Sprengkraft hat das Lied im Land hohe Wellen geschlagen. Parlamentarierinnen haben Untersuchungen zum Wahlverfahren angeordnet, Organisationen haben Anzeige erstattet, Regierungsvertreter den Rückzug vom Song-Contest verlangt. Hass im Netz.
Wie ist es möglich, dass ein scheinbar kitschiger und oberflächlicher Gesangswettbewerb solche Wut auslöst, solche Kontroversen?
Wer gehört zu «Europa»?
Was steckt hinter dem Eurovision Song Contest, der in der Schweiz von vielen belächelt wird, aber auch eine loyale Fangemeinde hat? Kitsch, ja, das ist er. Ein Randphänomen? Nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist er vor allem auch: Geopolitik. Die Veranstaltung war schon immer zutiefst politisch (und damit sind nicht die Allianzen unter den einzelnen Ländern bei der Abstimmung gemeint).
Der Song-Contest ist das Baby des kriegsgebeutelten Europas der Fünfzigerjahre. Die Europäische Rundfunkunion, der mehrheitlich öffentlich-rechtliche Sender angehören, beschloss: Neben Sportanlässen braucht es auch eine kulturelle Veranstaltung – um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. So fand der Wettbewerb 1956 zum ersten Mal statt. Und zwar im Kursaal in Lugano mit gerade einmal sieben Teilnehmern. Mit Lys Assia gewann das erste und bisher letzte Mal eine gebürtige Schweizerin.
Unmittelbar nach dem Kalten Krieg ging es abermals um Einheit – und um die symbolische Integration neuer Staaten in Europa. Neu traten auch die Staaten des früheren Warschauer Pakts sowie die Nachfolgestaaten Jugoslawiens mit an. Spätestens seit diesem Moment gilt der ESC als geopolitischer Untersuchungsort für die Forschung. Schliesslich erlauben die dreiminütigen Auftritte nicht nur jeweils allen Nationen, wortwörtlich im Rampenlicht zu glänzen. Sondern sie können zeigen, was dieser imaginäre Raum Europa für sie bedeutet – und wie sie dazu stehen.
Wo Zugehörigkeiten verhandelt werden
Zur selben Zeit wurde die grosse Bühne auch immer öfter für gesellschaftspolitisch progressive Statements zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt genutzt. So nahm mit Paul Oscar, der mit «Minn hinsti dans» für Island antrat, 1997 zum ersten Mal ein offen schwuler Mann teil. Und im Jahr darauf die erste Transfrau, Dana International, die für Israel sang. Dadurch wurde der Wettbewerb besonders in der queeren Szene beliebt, weil er Vielfalt sichtbar machte.
Weil auf seiner Bühne verhandelt werden konnte, was in manchen Ländern unsagbar war.
Gleichstellung und LGBT-Rechte wurden im Rahmen des Eurovision Song Contest – genau wie in der EU-Erweiterung – zu zentralen Indikatoren, mit denen Länder zeigen konnten, wie europäisch sie sind. So verfestigte sich das Selbstbild des europäischen – und homophilen – Westens. Und Geschlechtergerechtigkeit wurde zum Symbol von Toleranz und Fortschrittlichkeit.
Wo Zugehörigkeiten verhandelt werden, kommt es selbstverständlich auch regelmässig zu Auseinandersetzungen. So auch dieses Jahr: Belarus wurde nicht zugelassen, weil das Lied sich offen über die Protestbewegung im Land lustig machte. In Zypern wiederum erzürnte man sich am Lied «El Diablo» – es sei satanistisch und bringe damit Schande über das Land.
Kein anderer Beitrag aber löste mehr Aufruhr und internationale Aufmerksamkeit aus als derjenige der russischen Teilnehmerin. Warum?
Weil Manizha mit ihrem Auftritt gleich zwei neuralgische Punkte trifft: Russlands Fremdenfeindlichkeit und Russlands Antifeminismus.
Eine unzureichende Slawin
Manizha stammt ursprünglich aus Tadschikistan. Während des Bürgerkriegs in den Neunzigerjahren flüchtete sie – wie so viele andere Tadschiken – nach Russland. Dort begann sie ihre Karriere. Im Musikbusiness zeigte sich bald der innerrussische Rassismus. Ihr wurde klargemacht, sie müsse sich russifizieren, um Erfolg zu haben. Mit anderen Worten: Sie solle die Haut aufhellen, akzentfreies Russisch sprechen und auf jegliche Folklore verzichten. Das tat sie auch. Bis sie eines Tages merkte, dass sie sich selber völlig ausgelöscht hatte.
Sie beschloss: Zurück auf Feld eins. Nach einem Aufenthalt in London kehrte sie zurück nach Russland. Der Plan: Es nochmals als Künstlerin zu versuchen – aber diesmal ohne Produzenten im Rücken. Sie gründete ihr eigenes Label, veröffentlichte ihre Songs im Internet, auf Instagram. Und betonte diesmal ihre tadschikischen Wurzeln, machte sie gar zum zentralen Teil ihrer eigenen Marke. Ihr Lied «Nedoslawjanka» handelt davon, wie sie sich von ihrem Minderwertigkeitskomplex als Tadschikin befreite – und damit vom Gefühl, eine unzureichende Slawin zu sein.
Auch in ihrem Eurovision-Beitrag «Russian Woman» spielt die 29-jährige Manizha bewusst mit Symbolen, die auf ihre zentralasiatische und muslimische Herkunft verweisen. Ihr Haarschmuck ist angelehnt an den ruimol, die ortsübliche Kopfbedeckung für Frauen. Das schwere Kostüm, das sie zu Beginn der Performance trägt, ist hingegen ein Patchwork aus Stofffetzen verschiedener traditioneller Trachten aus dem ganzen Land. Sie wurden ihr zugesandt, nachdem sie alle Frauen in Russland dazu aufgerufen hatte. Damit wolle sie die multikulturelle Vielfalt im Land unterstreichen, sagt sie.
Mehr als 39 Prozent der Russinnen stimmten Anfang März für Manizhas Song, als im Staatsfernsehen die Eurovision-Teilnahme des Landes ausgefochten wurde. Doch tags darauf wurde sie mit hasserfüllten Nachrichten zugemüllt. Dieser grundlose Hass habe sie erschüttert, erzählte Manizha gegenüber der BBC.
Die meisten Nachrichten bezogen sich auf ihre Herkunft: Eine Tadschikin als Vertretung Russlands? Unwürdig!
Hier zeigt sich das historische Erbe der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Josef Stalin, ehemaliger sowjetischer Experte für die sogenannte «Nationalitätenfrage» und späterer Diktator, beschloss unter Wladimir Iljitsch Lenin: Im sowjetischen Völkerbund sollten die einzelnen Republiken «sozialistisch im Inhalt und national in der Form sein». Das führte unter anderem zu ethnischen Säuberungen von Polen, Deutschen und Finninnen, um homogene nationale Einheiten zu erstellen. Aber auch zur Massendeportation von ethnischen Minderheiten in Grenzregionen der Sowjetunion. So wurden beispielsweise Koreanerinnen und Krimtataren aufgrund ihrer angeblichen Komplizenschaft mit Japan respektive Nazideutschland rund um den Zweiten Weltkrieg gewaltvoll entwurzelt.
Im Rahmen dieser sowjetischen Minderheitenpolitik hatten die Völker Zentralasiens aus Moskauer Perspektive stets einen minderwertigen Status. Es war klar, dass in der offiziellen «Völkerfreundschaft» eines das anführende Staatsvolk war: das russische.
Dieses Machtverhältnis zeigt sich heute noch. Noch immer trifft man auf russischen Baustellen, in Küchen und Haushalten vor allem Arbeiterinnen aus Zentralasien, die meistens völlig ohne Rechtsschutz ausgebeutet werden und unter desaströsen Umständen wohnen. Sie gehören denn auch zu den am härtesten Betroffenen der Covid-19-Pandemie in Russland.
Kann so was Russland vertreten?
Und nun also kommt diese junge Tadschikin und will Russland auf europäischer Bühne repräsentieren. Manizha hat für die russische Übersetzung ihres Liedes bewusst die Bezeichnung russkaja und nicht rossiskaja gewählt. Auf Deutsch gibt es kein entsprechendes Wort – am ehesten lässt sich die Übersetzung mit den Begriffen «Eidgenossin» und «Schweizerin» vergleichen. Im Russischen steht rossiskaja für eine Zugehörigkeit zur russischen Staatsbürgerschaft unabhängig von der Ethnizität, während russkaja nur für ethnische Russinnen gebraucht wird. Mit dieser Wortwahl sagt sie klar: Ich gehöre zu euch – und beanspruche den Begriff russkaja auch für Menschen wie mich.
Für viele war das ein Affront. Die Künstlerin konterte mit Humor: In einem satirischen Youtube-Video mit dem Titel «Kann so was Russland vertreten?» gibt sie sich als Moderatorin, die mit einem Pseudowissenschaftler ihr eigenes Skelett untersucht und herausfindet: Manizha ist nicht nur keine Russin, sie ist noch nicht einmal ein Mensch.
Doch die Künstlerin wurde nicht nur wegen ihrer Herkunft zur Zielscheibe, sondern auch wegen ihrer feministischen Botschaft. Während die Onlinehetze auf ihre Wurzeln abzielt, hat sich die russische Politik auf den Inhalt ihres Liedes eingeschossen.
Der Drahtseilakt
Der Song thematisiert häusliche Gewalt, wenn Manizha singt, eine «kaputte Familie» könne sie «nicht kaputtmachen». Und die toxischen Erwartungen, denen Russinnen ausgesetzt sind («Du willst nicht? Du musst!»), die auf ihren Körper reduziert werden («Trag doch kürzer, trag doch länger!»).
Dem setzt Manizha die Stärke der Russinnen entgegen. Im Refrain singt sie – auf Englisch – davon, dass russische Frauen wissen sollten, dass sie stark genug seien, um «von der Wand abzuprallen und weiterzumachen». Und dann singt sie: «Merkt euch gut: Ich liebe mich teuflisch.» Es ist eine Hommage an die Selbstbefreiung und den Selbstrespekt – in einer Gesellschaft, deren starre Geschlechterbilder oft zu Unterdrückung führen.
Das mag platt wirken oder zu kurz greifen. Doch in einem Land, das im Jahr 2017 häusliche Gewalt wieder vollständig entkriminalisiert hat und seit der Guerillaaktion der feministischen Punkband Pussy Riot vor neun Jahren die religiösen Gefühle Gläubiger gesetzlich schützt, hat das Sprengkraft. Dazu kommt, dass sich Manizha mehrmals öffentlich für LGBT-Rechte eingesetzt hat. Das ist in Russland nicht nur provokativ, sondern seit dem Erlass eines Gesetzes, das «homosexuelle Propaganda» verbietet, auch ein juristischer Drahtseilakt.
Schlachtplatz Gender
Seit dem Beginn von Präsident Wladimir Putins dritter Amtszeit im Jahr 2012 grenzt sich Russland als «souveräne Demokratie» gegenüber dem als imperialistisch verschrienen Westen ab. Die Losung lautet: Wir entscheiden über unsere eigenen Werte, über russische Werte. Als Schlachtfeld dafür müssen die Gleichstellung der Geschlechter und die sexuelle Vielfalt herhalten. Im Kampf gegen die sogenannte Gender-Ideologie wird die Souveränität Russlands verhandelt. Dahinter verbirgt sich ein autoritäres Regime, das sich mit dieser Kampfansage auch gleich der Pfeiler einer liberalen Demokratie entledigt, die sie als westlich delegitimiert.
Ein Befreiungsschlag, wie ihn Manizha zelebriert, steht damit diametral zur offiziellen Politik. Schliesslich kommen der russischen Frau eigentlich ganz andere Rollen zu: allen voran jene der unterwürfigen Mutter der Nation.
Manizha legt sich mit ihrem tanzbaren, eingängigen Eurovision-Beitrag also mit fast allen an. Und findet sich als Folge davon nicht nur in einem Gesangswettbewerb wieder, sondern in einem Kampf an allen Fronten. Ein Veteranenverein legte Beschwerde gegen das Lied ein, weil es angeblich die Würde der Russinnen beleidige und die nationale Harmonie verletze. Ähnlich argumentierte die Union der orthodoxen Frauen, die sogleich den Rückzug der Künstlerin forderte. Die orthodoxe Kirche betonte, viele Frauen seien von der Performance verstört. Die Vorsitzende des Föderationsrats, das dritthöchste Amt in Russland, sowie eine Abgeordnete der grossen Kammer der Duma kritisierten das Lied und verlangten vom öffentlichen Rundfunk Erklärungen zum Ablauf der Abstimmung.
Als politischer Höhepunkt forderte die Leiterin der Duma-Kulturkommission, Jelena Drapeko, schliesslich, Russland solle zukünftig nicht mehr am Song-Contest teilnehmen. Während es der Hälfte der breiten Bevölkerung egal ist, wer unter russischer Flagge auftritt, ist für die Duma-Abgeordnete klar, dass der Wettbewerb «Werte fördert, die Russland nicht als seine eigenen ansieht – LGBT-Werte».
Geschickt aus der Schusslinie navigiert
Wer mag sich noch an die Homoerotik der Mädchengruppe Tatu im Jahr 2003 erinnern? Ein solcher Auftritt wäre heute in Russland nicht mehr möglich. Selbst wenn er auch damals – obwohl im Westen so interpretiert – kein Zeichen für die Akzeptanz der LGBT-Community war. Schliesslich war immer klar, dass mit dem Akt vor allem auf männliche Lesbenfantasien abgezielt wurde.
Insofern erstaunt es auch weniger, dass eine der beiden ehemaligen Bandmitglieder, Julia Wolkowa, für Putins Regierungspartei «Einiges Russland» bei den Parlamentswahlen kommenden Herbst antreten wird. Und das ausgerechnet in Iwanowo, der Stadt, wo eines der letzten Zentren für Geschlechterforschung 2016 geschlossen wurde.
Und Manizha? Sie navigiert sich auch aus der Schusslinie: Ihre Botschaft bezeichnet sie lieber als human statt feministisch. Sie wolle mit ihrem Auftritt Europa ein anderes Gesicht Russlands zeigen. Es sei durchaus auch ein tolerantes Land. Ein Land, das Migrantinnen aufgenommen habe und starke Frauen habe. Damit schafft sie den Spagat zwischen Kritik üben und Stolz schüren – eine Neuinterpretation des russischen Patriotismus.
Der Eurovision Song Contest mag vieles sein: Schlagerparade, Glitzershow, Kitschkanone. Aber am Ende heisst es immer auch: «Douze points pour la géopolitique!»
Mitarbeit: Ekaterina Filep Frolova
Leandra Bias ist Politikwissenschaftlerin und hat an der Universität Oxford zu Feminismus und Autoritarismus mit Fokus auf das ehemals sozialistische Europa promoviert. Bei der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace forscht sie an dieser Schnittstelle weiter und arbeitet zudem als Genderexpertin. Zu ihren Spezialgebieten schreibt sie regelmässig in Schweizer Medien, in der Republik zuletzt zu Belarus.