Was übrig bleibt
Im Krieg um Berg-Karabach hat Aserbaidschan Gebiete zurückerobert, die lange Jahre von Armenien besetzt waren. Nun wollen viele Aserbaidschaner zurück in ihre alte Heimat. Eine Reise durch die Ruinen, entlang von Minenfeldern zu Freundschaftsbrunnen und Granatapfelbäumen.
Eine Reportage von André Widmer (Text) und Roland Schmid (Bilder), 20.05.2021
«Ab hier braucht es keine Maske mehr», sagt der Polizist. Hinter dem Checkpoint bei der aserbaidschanischen Kleinstadt Horadiz beginnt das Niemandsland. Die Polizeisperre ist ein letzter Zwischenstopp, bevor das Auto mit Ülvi Abasgulijew weiterfahren darf, zurück in seine Heimat Cebrail.
Zurück in ein Gebiet, das während fast dreier Jahrzehnte unter armenischer Besatzung stand. In das Land seiner Vorfahren, aus dem Abasgulijew als Jugendlicher im ersten Karabach-Krieg 1993 fliehen musste. Und zurück in versehrte Landstriche, die die hochgerüstete Kriegsmaschinerie Aserbaidschans im zweiten Karabach-Krieg letzten Herbst unter grossen Verlusten auf beiden Seiten zurückeroberte.
Ülvi Abasgulijew, 42, zückt seine Fotokamera. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Frühmorgens ist er in Baku aufgebrochen, die Fahrt hat bis hierhin rund fünf Stunden gedauert. Er ist nervös. 27 Jahre sind vergangen, seit er sein Elternhaus verlassen musste. «Ich habe gestern nicht lange geschlafen», sagt er.
Nur mit einer Spezialbewilligung und begleitet von der Polizei, die uns in einem eigenen Wagen eskortiert, darf er heute in die Heimat fahren. Die Regierung hat im letzten Herbst zurückeroberte Regionen noch nicht freigegeben für unkontrollierte Besuche, geschweige denn für die Rückkehr der mehreren hunderttausend Geflüchteten aus dem Krieg in den 1990er-Jahren.
Ganze Landstriche sind vermint. Fast alle Dörfer und Städte wurden unter der armenischen Besatzung bis auf die Grundmauern der Häuser zerstört und ausgeplündert. Es fehlt an Infrastruktur – abgesehen von einigen wenigen Gebäuden, die armenische Bauern und das Militär bewohnt haben. Es ist praktisch nichts geblieben, was ein zivilisiertes Leben ermöglichen würde.
Entminung, Wiederaufbau, Rückkehr. Es wird noch Jahre dauern, bis ein geregeltes, normales Leben wieder möglich ist. Ülvi Abasgulijew schaut aus dem Auto. Vor seinen Augen und seiner Fotokamera zieht Dorf für Dorf in Ruinen liegend vorbei. Yuxari Maraljan, Şukurbeyli, Emirvarli, Soltanli: Viel mehr als Grundmauern ist von diesen Ortschaften nicht geblieben.
Vor der Fahrt hoch nach Cebrail sehen wir eine der legendären Brücken von Choda Afarin. Dann geht es auf einem Schotterweg weiter zum verlassenen gleichnamigen Dorf. Der Schotter ist das Überbleibsel einer früheren Bahnstrecke, die während der Sowjetzeit entlang der iranischen Grenze führte. Bei Choda Afarin steht noch heute ein verrostetes Lichtsignal. Im Dorf angekommen, geht Abasgulijew den kleinen Fussweg hinab zur mittelalterlichen Brücke. Er erinnert sich, dass er früher in der Nähe den Zug nach Baku genommen hat.
Der neue Krieg um Berg-Karabach und die umliegenden Territorien hat Aserbaidschan und Armenien letzten Herbst einmal mehr in eine Spirale der Gewalt befördert. Die Region ist seit mehr als hundert Jahren umstritten. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Zeiten des russischen Zarenreiches und in den Anfangszeiten der Sowjetunion, kam es zu ethnischen Zusammenstössen.
Der erste armenisch-aserbaidschanische Krieg – während und nach dem Zusammenbruch der UdSSR – endete 1994 mit einem Waffenstillstand und hinterliess 30’000 Tote. Rund 300’000 Armenierinnen (die Zahlen variieren je nach Quelle) flüchteten aus Aserbaidschan. Etwa 684’000 Aserbaidschaner wurden aufgrund der Gebietsgewinne Armeniens zu Binnenflüchtlingen, weitere 185’000 Aserbaidschanerinnen flüchteten aus Armenien. Über 15 Prozent des international anerkannten Territoriums Aserbaidschans wurden armenisch besetzt.
Der Krieg führte zur ethnischen Trennung von Armeniern und Aserbaidschanerinnen, die in beiden Ländern und in Berg-Karabach davor zusammengelebt hatten.
Berg-Karabach, vor dem Krieg mehrheitlich armenisch besiedelt, war nicht die einzige Eroberung Armeniens. Auch die zu über 90 Prozent ethnisch aserbaidschanisch besiedelten Rayons Kelbecer, Laçin, Fuzuli, Kubadli, Zengilan, Ağdam und Cebrail – doppelt so gross wie Berg-Karabach selber – fielen in die Hände der Armenier. Im Rahmen der sogenannten Minsk-Gruppe der OSZE und bei vielen bilateralen Verhandlungen wurde mehr als zwanzig Jahre lang um eine diplomatische Lösung gerungen.
Doch weil beide Seiten auf ihren Maximalforderungen beharrten, kam es zu keiner einvernehmlichen Lösung. Die Armenierinnen bestanden auf Selbstbestimmung und deklarierten eine unabhängige Republik Berg-Karabach, die sie Arzach nennen. Die Aserbaidschaner wiederum forderten die umliegenden Gebiete zurück und boten eine hohe Selbstautonomie innerhalb Aserbaidschans an. Keine der beiden Seiten wollte nachgeben.
Im April 2016 lieferten sich die beiden Länder einen viertägigen Schlagabtausch mit zahlreichen Toten. Das Resultat war ein Geländegewinn Aserbaidschans von wenigen Quadratkilometern. 2018 wurde nach einer friedlichen Revolution und Neuwahlen Nikol Paschinjan Regierungschef von Armenien. Er schlug einen noch raueren Ton an. Die Verhandlungen wurden abgebrochen. 2019 deklarierte Paschinjan die Vereinigung Armeniens mit Berg-Karabach als Ziel.
Im Juli 2020 gab es Zusammenstösse an der Waffenstillstandslinie und an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Und dann schliesslich der zweite Krieg um Berg-Karabach: Er begann am 27. September 2020 und dauerte lediglich 44 Tage. Die technisch unterlegenen Armenier hatten gegen die unter anderem mit israelischen und türkischen Drohnen hochgerüstete aserbaidschanische Armee keine Chance. Nach offiziellen Angaben starben 4000 armenische Soldaten und 2900 aus Aserbaidschan, zudem verloren 150 Zivilistinnen ihr Leben.
Aserbaidschan eroberte einen Grossteil der armenisch besetzten Gebiete zurück; Armenien hält nur noch rund 3700 Quadratkilometer. Dort sind jetzt 2000 russische peacekeepers stationiert, denn der am 9. November vereinbarte Waffenstillstand wurde von Russland vermittelt. Er folgte, kurz nachdem aserbaidschanische Einheiten Şuşa eingenommen hatten. Ein strategisch wichtiger Erfolg, liegt die Ortschaft doch nur wenige Kilometer von Stepanakert, der Hauptstadt Berg-Karabachs, entfernt.
Der Waffenstillstand kam einer Einkesselung der Armenier auf dem Schlachtfeld zuvor. Russland gilt in der Region als Schutzmacht Armeniens.
Wasser vom Brunnen der Freundschaft
Ülvi Abasgulijews Fahrt von der Tiefebene am Fluss Aras hoch nach Cebrail führt vorbei an einem einstigen Schlachtfeld. Nahe der Strasse sind die Überreste eines zerschossenen Panzers, Uniformen und zwei Soldatenschuhe zu sehen. Auf einer Anhöhe steht ein Fernsehturm. «Den besichtigten wir früher als Kinder mal», erinnert sich Abasgulijew. Auf einem Feld stehen mannshohe Buchstaben als Einfahrtszeichen, nach dem neuen Krieg errichtet. «Cebrail» steht da in grossen Lettern. Danach erreichen wir die Stadt – oder was von ihr übrig geblieben ist.
Die Kleinstadt mit rund 6000 Einwohnerinnen bildete vor dem ersten Krieg in den 1990er-Jahren den Hauptort des Rayons (Bezirks) Cebrail. Ein ehemaliger Armeestützpunkt Armeniens am Stadtrand, wo in mehrstöckigen Gebäuden die Familien der Soldaten untergebracht waren, ist intakt. Der Rest ist ein Trümmermeer.
Die Einfahrt zur Stadt befindet sich auf einer Anhöhe. Dort steht auch ein öffentlicher Brunnen. Hier hält das Auto. Abasgulijew geht die Stufen zum Brunnen hoch. Mit beiden Händen stützt er sich gegen die Mauer, geht mit seinem Kopf ganz nah ran und küsst den Stein. Dann kniet er nieder, lässt das Wasser in seine Hände plätschern und wäscht sich das Gesicht. Er trinkt. «Das ist Wasser», sagt er.
Abasgulijew geht zurück zum Auto, holt einen Behälter, füllt ihn am Brunnen und verstaut das kostbare Wasser im Kofferraum. Die in Baku zurückgebliebene Familie, die Eltern, die nicht mitkommen konnten, sollen das Wasser aus der Heimat trinken können. «Das ist der Brunnen der Freundschaft», sagt Abasgulijew. Zu Sowjetzeiten floss hier das Wasser aus 15 Hähnen – einem für jede der 15 Sowjetrepubliken. Heute plätschert es nur noch aus einem einzigen Hahn.
Weiter geht die Fahrt, hinein in die Stadt. Die Häuser schmiegten sich früher hier an die Hügel, auf einem befindet sich noch ein Sowjetdenkmal, auf dem die Ziffern «1941–1945» zu sehen sind – dem Grossen Vaterländischen Krieg gewidmet, wie der Kampf der Sowjetunion gegen Deutschland in Russland genannt wird. Damals kämpften Armenier und Aserbaidschaner Seite an Seite gegen die Nazis.
Unten in der Senke befindet sich ein ausgetrockneter Wasserkanal, über den eine Brücke führt. Gleich links davon steht die Ruine von Ülvi Abasgulijews Elternhaus. Der Wagen hält. Abasgulijew steigt aus und bedeckt sein Gesicht mit seinen Handflächen. «Ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses Haus finde», sagt er. 27 Jahre wartete er auf diesen Moment. Tränen fliessen. «Ich kann nicht glauben, dass ich hier stehe.»
Er schaut auf die Reste der Hausmauern. «Wenn man vom Krieg hört, heisst es, das und das wurde eingenommen, aber hier …» Er begutachtet fast jeden Stein, als wollte er noch etwas zwischen den Trümmern finden, irgendetwas, was ihn an seine Kindheit erinnert. «Da oben rechts im zweiten Stock stand ein Klavier, da unten war in einem kleinen Raum ein Fotolabor.»
Die Abasgulijews waren eine vergleichsweise wohlhabende Familie und in Cebrail wohlbekannt. Der Vater führte die Zentralapotheke, die Mutter war die einzige Augenärztin weit und breit in der ländlichen Gegend. «Der Granatapfelbaum dort ist dürr und hat zu wenig Wasser», sagt Abasgulijew.
Wo einst die Küche war, trennt er ein paar hellblaue Kacheln von den Mauerresten ab – Erinnerungsstücke für die Mutter. Er kann nicht genug bekommen von dieser Rückkehr, er fotografiert, schaut umher, erzählt. Da drüben, jenseits der Brücke, sei ein 800-jähriger Baum gestanden. «Der Steinhaufen dort war mal ein riesiges Gebäude des Bürgermeisters.»
Plötzlich tauchen aus einer Seitenstrasse drei blutjunge Soldaten auf mit einem Eselskarren, darauf ein Gerät, das aus der Ferne wie eine Waschmaschine oder eine Küchenkonsole aussieht. Es wird Zeit aufzubrechen, die Fahrt zurück nach Baku ist lang. «Man will es nicht verlassen», sagt Ülvi Abasgulijew mit einem vorläufig letzten Blick auf sein Dorf.
Als er Cebrail das letzte Mal verliess, war er 15-jährig. Dieses mal wird Abasgulijew wohl schneller wieder hier sein. Seine Eltern wollen in die alte Heimat zurückkehren, doch für ihn ist das nicht so einfach. Er hat sich in den letzten Jahren in Baku ein gutes Leben aufgebaut. Der Start war zwar holprig – nach der Flucht lebte die Familie zusammengepfercht in einer kleinen Wohnung, der Vater war lange arbeitslos. Dennoch schaffte es Abasgulijew, internationales Recht zu studieren, auch im Ausland.
Doch immer wieder musste er sich einen neuen Job suchen, im Winter war er selber arbeitslos. Seit kurzem arbeitet er wieder, nun für die Agentur für Beschäftigung beim Sozialschutzministerium. Seine Frau möchte in Baku bleiben, sie kann sich ein Leben in Cebrail nicht vorstellen. Und die Tochter ist in Baku geboren, geht dort zur Schule, hat dort ihre Freundinnen.
Auch wenn Abasgulijew nicht nach Cebrail zurückkehren wird, um zu bleiben – von Wochenendbesuchen wird er sich nicht abbringen lassen, dafür ist die Liebe zur alten Heimat zu gross.
Wiederaufbau auf Minenfeldern
Bevor die Menschen aber dauerhaft zurückkehren können, steht neben dem Wiederaufbau eine weitere Aufgabe an. Entlang der Waffenstillstandslinie aus dem ersten Krieg und in den Kampfgebieten vom letzten Herbst liegen Unmengen von Minen und Blindgängern.
Auf der aserbaidschanischen Seite beschäftigt sich die staatliche Minenräumorganisation Anama mit der Beseitigung der gefährlichen Überbleibsel. Wie aufwendig das ist, zeigt sich an einem Gelände in der Region Fuzuli, wo einst die Frontlinie verlief. An manchen Stellen lagen die Schützengräben der Armenier und Aserbaidschaner gerade mal 50 Meter auseinander, sagt der regionale Feldmanager der Organisation Anama, Habil Babajew. Auf der ehemals armenischen Seite erstrecken sich die Stellungen, Schützengräben und Schutzwälle kaskadenartig über viele Kilometer landeinwärts. «Das war während 27 Jahren die Kontaktlinie», sagt Babajew.
Armenien weigert sich nach wie vor, Aserbaidschan die Minenpläne zu übermitteln. Aber hier beim Dorf Alxanli hat Anama das System des einstigen Kriegsgegners entschlüsselt: Die nach dem früheren armenischen Verteidigungsminister benannte «Ohanian-Linie» erstreckt sich über 34 Kilometer Breite und besteht aus sechs Reihen Minen. Zwischen den Reihen liegen zwei Meter Abstand, zwischen den Minen jeweils ein Meter.
Vergraben wurden sowohl Panzerminen, die bei 150 bis 250 Kilogramm Gewicht explodieren, als auch Personenminen, die bei 5 Kilogramm detonieren. Das erste Ziel der Minenräumer ist es, eine rund 150 Meter breite Schneise freizulegen und zu sichern, damit neue Verbindungsstrassen gebaut werden können.
Die Minenräumer von Anama setzen bei der Entminung neben Menschen und Suchhunden auch sogenannte Bozena-Minenräumungsmaschinen ein. Das stählerne Ungetüm lässt sich fernsteuern und gräbt sich wie eine Art Pflug in den Untergrund. Auch ausgediente Panzer kommen zum Einsatz. Vor dem Ende des zweiten Karabach-Krieges hatte Anama fast 600 Mitarbeitende, der Personalbestand soll in der nahen Zukunft vervielfacht werden.
Das Problem der verminten Landstriche drängt: Seit dem Ende der Kampfhandlungen im letzten Jahr sind in den befreiten Gebieten bereits rund 20 Personen durch Minen ums Leben gekommen, ebenso viele wurden verletzt – darunter neben Zivilistinnen auch vier Anama-Mitarbeitende. Der Chef von Anama, Idris Ismailow, glaubt, dass es Jahre dauern wird, bis die einst besetzten Landstriche sicher sind.
Der Wiederanschluss der zurückeroberten Gebiete wird für Aserbaidschan aufwendig und kostspielig. Zugute kommen dem von Präsident Ilham Alijew autoritär regierten Land die immensen Einkünfte aus dem Öl- und Gassektor, die auch halfen, die Armee mit modernster Technologie hochzurüsten.
Und der Wille, die Arbeiten voranzutreiben: Wenige Wochen nach Kriegsende war der Bau der Strasse zwischen der Stadt Terter und der von Aserbaidschan zurückeroberten Ortschaft Sugovuşan (armenisch: Madagiz) schon im vollen Gange. Jetzt wird dort an der Wiederherstellung der Stromversorgung gearbeitet. Bei Fuzuli werden ein Flughafen und eine Stromstation gebaut. Ebenfalls bereits im Bau ist eine je nach Abschnitt vier- bis sechsspurige Strasse von Ahmadbeyli über Fuzuli nach Şuşa. Beim Besuch der Republik gruben sich die Bagger gerade in den Baugrund für den Abschnitt zwischen Kilometer 35 und 51 der total rund 100 Kilometer langen Verbindung.
Die aserbaidschanische Regierung plant, in den Gebieten, die von den armenischen Besatzern zerstört und geplündert wurden, lediglich die regionalen Zentren wiederaufzubauen. «Dies basiert auf dem Konzept von smart cities und smart villages», sagt Hikmet Hacijew, Berater des aserbaidschanischen Präsidenten und Leiter der Präsidialadministration: «Es braucht einen neuen Ansatz.» Die regionalen Zentren sollen eine Grundversorgung mit neuen Wohnhäusern, Schulen und Gesundheitseinrichtungen erhalten. Gebiete wie Ağdam, Fuzuli oder Cebrail könnten längerfristig wieder landwirtschaftlich genutzt werden.
Derzeit klärt die Azerbaijan Diplomatic Academy im Auftrag der aserbaidschanischen Regierung mittels einer Onlineumfrage unter den Vertriebenen ab, ob und wie sie in ihre Heimat zurückkehren möchten. Ülvi Abasgulijew hofft, dass die Rückkehrerinnen nicht in gleichförmige, auf dem Reissbrett designte Häuser ziehen müssen, sondern sich ihre neue Heimat im eigenen Land individuell aufbauen werden können.
Es ist Zeit, zu vertrauen
Während des Krieges im letzten Herbst und der teilweise heftigen Artillerieschläge auch auf bewohnte Gebiete mussten auf beiden Seiten Zehntausende Menschen fliehen. Berichten zufolge befanden sich Ende März noch rund 66’000 der etwa 150’000 Armenierinnen aus Berg-Karabach in einer flüchtlingsähnlichen Situation in Armenien. Auf der gegnerischen Seite waren es schätzungsweise 40’000 Aserbaidschaner – viele davon Flüchtlinge aus dem ersten Krieg in den 1990er-Jahren, die in Dörfern und Städten nahe der Waffenstillstandslinie angesiedelt wurden und vor den jüngsten Kämpfen fliehen mussten.
Auf beiden Seiten konnten in der Zwischenzeit viele der Geflüchteten wieder zurückkehren. Doch nicht alle. So verliessen armenische Siedler die einst von Aserbaidschan besiedelten Dörfer wieder, in die sie nach dem ersten Krieg gezogen waren und die nun im zweiten Krieg zurückerobert wurden. Zudem eroberte Aserbaidschan auch einige grössere Ortschaften, die schon vor dem ersten Krieg hauptsächlich armenisch besiedelt waren. Insgesamt dürften Tausende Armenierinnen die Ortschaften verlassen haben.
Einer, der sich vorstellen kann, wieder mit Armeniern zusammenzuleben, ist Xaliq Hümbetow. Er steht in Sugovuşan, in der Nähe eines Stausees. Seit dem Ende des Krieges hat er das Dorf schon einige Male besuchen können, in dem er vor dem ersten Krieg als Aserbaidschaner einer ethnischen Minderheit angehörte. Noch funktioniert die Stromversorgung nicht, aber die rund 12 Kilometer lange Strasse von Terter hierher ist bereits im Eilverfahren geteert worden.
Hümbetow wartet eigentlich nur noch auf das Okay der Behörden, dass er in sein Heimatdorf zurückkehren darf. Doch ihm ist etwas mulmig zumute: «Armenische Terroristen», sagt er und zeigt auf einen Hügelzug, etwa vier Kilometer Luftlinie entfernt. Dort, hoch über dem Dorf, verläuft jetzt die neue Waffenstillstandslinie, und die Armenier sollen dort eine Stellung eingerichtet haben, nicht weit von der aserbaidschanischen Position. Derzeit schweigen die Waffen.
«Ich selbst bin nicht ängstlich, aber wegen der Kinder …», sagt Xaliq Hümbetow und stockt. Eigentlich möchte er hierher zurückkehren, seine Kinder in seinem Heimatdorf aufwachsen sehen. Hümbetow findet, gerade jetzt sollten es Armenierinnen und Aserbaidschaner wieder miteinander versuchen. Es brauche Frieden. Auch wenn es schmerzhaft sei, jetzt, Monate nach dem Krieg, der alte Wunden aufgerissen und neue geschaffen hat. «Ich denke, es ist die richtige Zeit dafür. Das ist meine persönliche Meinung», sagt er. Und: «Wir sollten ihnen vertrauen – wenn sie uns vertrauen würden.»
Xaliq Hümbetow hat Glück, er kann in ein intaktes Haus zurückkehren. Armenier seien hier eingezogen, hätten es sogar ausgebaut. Nur die Farbe einer Seitentür gefällt ihm nicht. Er erinnert sich, dass seine Nachbarn früher Armenierinnen gewesen seien. Ein paar hundert Meter vom Haus entfernt steht eine kleine armenische Kirche aus dem 19. Jahrhundert. Sugovuşan ist zwar vom Krieg gezeichnet, aber viele Häuser sind bewohnbar. Selbst der Kindergarten und die Schule stehen noch – wenn auch die Fassade mit Schrapnellspuren übersät ist.
Sein Vater habe vor dem ersten Krieg Schafe, Pferde und Kühe besessen, erzählt Hümbetow. Doch plötzlich seien bärtige, bewaffnete Männer im Dorf aufgetaucht. 1993 – damals war er 14-jährig – musste Hümbetow vor der Einnahme der Ortschaft durch armenische Einheiten flüchten. Seine Eltern leben mittlerweile nicht mehr. Seit einigen Jahren wohnt er mit seiner jungen Familie in einer Flüchtlingssiedlung nahe der Stadt Terter.
Während des Krieges letzten Herbst verharrten er und ein paar weitere Männer während der Artilleriegefechte im Nordwesten der damaligen Frontlinie in den Schutzräumen der Siedlung.
Viele der 34 mehrstöckigen Wohngebäude wurden damals von Granateneinschlägen in Mitleidenschaft gezogen, und noch sind nicht alle Schäden behoben, doch viele der 1100 Einwohnerinnen der Überbauung sind mittlerweile zurückgekehrt. Der Kontrast zwischen dem Wohngebäude in der Flüchtlingssiedlung bei Terter und dem Haus am Stausee in Sugovuşan könnte trotz der wenigen Kilometer Luftlinie nicht grösser sein.
Xaliq Hümbetow stellt sich vor, wie sein Leben in Sugovuşan einst sein könnte: «Ich möchte ein Restaurant betreiben, Touristen könnten kommen.» Doch bei allen Gedanken an seine Zukunft und die seiner Familie denkt er auch an die armenischen Bewohner, die bis vor kurzem hier sesshaft waren und nun vermutlich in Flüchtlingsunterkünften leben müssen. «Hier hatten sie Häuser, und nun leben sie in Schulgebäuden. Krieg ist nicht gut.»
Mitarbeit: Oktay Namazov
Hinweis: In einer ersten Version enthielt der Beitrag eine Karte, die mehr verwirrte als orientierte. Wir haben sie vorerst entfernt.
André Widmer (1973) schreibt als freier Journalist seit Jahren über Konflikte im postsowjetischen Raum und recherchiert vor Ort. 2018 erschien sein Buch «Ostukraine - Europas vergessener Krieg» im Rotpunktverlag.
Der Fotograf Roland Schmid (1966) findet seine Geschichten seit über 30 Jahren hauptsächlich hinter dem einstigen Eisernen Vorhang. Dieses Jahr erhielt er den 2. Preis in der Kategorie «General News, Stories» beim World Press Photo Award.