Nicht von dieser Welt
War der 14. Oktober 2017 ein ziemlich normaler Tag, der wichtigste Tag der Geschichte – oder der Anfang vom Ende der Menschheit? Oder anders gefragt: Was zur Hölle ist Oumuamua?
Von Constantin Seibt, 15.05.2021
Was war das? Im Grunde gibt es drei radikal verschiedene Möglichkeiten:
Die schlechteste Nachricht, die die Menschheit je bekommen hat: mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Todesurteil.
Der Beginn einer kühnen Wette auf eine noch kühnere Zukunft.
Ein Stück Weltraum-Seife.
Aber von Anfang an:
Am 19. Oktober 2017 entdeckte der Astronom Robert Weryk einen winzigen Lichtpunkt, der sich mit bisher ungesehenem Tempo von der Sonne entfernte – mit rund 300’000 Kilometern pro Stunde.
Das bedeutete, dass der Punkt schnell genug war, um der Anziehungskraft der Sonne zu entkommen. Und weiterhin, dass er nie Teil ihres Systems gewesen war.
Dafür sprach auch die Flugbahn. Sie schnitt das scheibenförmige Sonnensystem fast rechtwinklig. Am 9. September kam das Objekt der Sonne am nächsten, am 14. Oktober passierte es – noch unentdeckt – die Erde in nur etwa 24 Millionen Kilometer Abstand und entfernte sich danach eilig in Richtung des Sternbilds Pegasus.
Sämtliche Astronominnen waren sich darin einig, dass Weryk eine Sensation entdeckt hatte: das erste interstellare Objekt.
Damit endete ihre Einigkeit.
Daten
Das Observatorium, in dem Weryk arbeitete, ist eines der besten der Welt. Um die zwei Teleskope so gut wie möglich von Licht- und Luftverschmutzung abzuschirmen, hatte man sie an einem sehr romantischen Ort gebaut: 3000 Meter über dem Meer, in einem erloschenen Vulkankrater in Hawaii, dem Haleakalā.
Deshalb wurde das neu entdeckte Objekt auf Hawaiianisch getauft: Oumuamua – was (je nach Übersetzung) Folgendes bedeutet: «Anführer», «der Allererste, der kommt», «Bote aus der Vergangenheit» oder «ein Späher von weit weg, der uns nun erreicht hat».
Nach Weryks Entdeckung richten sich die Teleskope des Planeten auf Oumuamua. Wegen dessen Geschwindigkeit blieb für Beobachtungen nur eine Woche Zeit. Aber das genügte, genug präzise Daten zu sammeln, um maximale Unklarheit herzustellen.
So unklar, dass ein Harvard-Astronom fluchte: «Oumuamua ist so verwickelt, dass mir lieber wäre, man hätte es nie entdeckt!»
Die Unklarheit begann schon bei der Katalogisierung. Die astronomische Union war gezwungen, das Objekt innert dreier Wochen dreimal neu zu taufen: Zunächst auf «C/2017 U1» – das «C» steht für Komet. Dann korrigierte sie auf «A/2017 U1» – das «A» steht für Asteroid. Schliesslich entschied sich die Behörde am 6. November 2017 für den endgültigen Namen: «1I/2017 U1» oder auch «1I/ʻOumuamua» – wobei das «I» für Interstellar steht.
Der Grund für die Umetikettierungen: Oumuamua tat gleich mehrere Dinge, die keines der zuvor katalogisierten 600’000 Objekte aus dem Sonnensystem je getan hatte.
Und zwar Folgendes:
Beim Wegflug von der Sonne hielt sich Oumuamua nicht an die vorausberechnete Route. Sondern beschleunigte sanft, aber deutlich. So sanft, dass es später auf der Höhe des Jupiters gegenüber der ursprünglichen Berechnung gerade einmal zarte 100’000 Kilometer gewonnen hatte, also etwa eine halbe Stunde früher ankam.
Kein Wunder, wurde Oumuamua deshalb zunächst für einen Kometen gehalten. Denn diese verhalten sich exakt gleich: Sie beschleunigen ebenfalls in Sonnennähe, ebenfalls abnehmend mit dem Quadrat der Entfernung. (Das, weil Kometen schmutzige Schneebälle aus Eis, Stein und Staub sind. Je näher sie der Sonne kommen, desto stärker verdampft das Eis – was ihnen einen Rückstoss gibt.)
Nur fehlte bei Oumuamua das Merkmal aller Kometen: der Schweif. Die Instrumente fanden keine Spur von austretenden Gasen. Also wurde es zu einem Asteroiden umetikettiert. (Ein trockener Brocken Stein oder Metall, der durchs All rast.)
Doch dazu passte wiederum die für Kometen typische Beschleunigung nicht. Also erfand die astronomische Union mit diplomatischem Geschick die neue Kategorie «Interstellar».
Zusätzlich verhielt sich der winzige Lichtpunkt irritierend exzentrisch. Zum Ersten war er für ein winziges Objekt viel zu hell – seine Oberfläche reflektierte das Licht zehnmal stärker als alle bisher beobachteten Asteroiden oder Kometen. Zum Zweiten nahm die Helligkeit in einem Zyklus von 8 Stunden erst um den Faktor 10 ab und dann wieder zu.
Erste Computersimulationen ergaben, dass Oumuamua also auch eine für Weltraumtrümmer einzigartige Form haben musste: eine etwa 800 Meter lange, rötlich-schwarze Zigarre, die auf- und abwippend um zwei Achsen gleichzeitig rotierte. Jemand in der Nasa zeichnete ein Bild, das sofort um die Welt ging.
Misstrauische Köpfe brauchten nicht lange, um festzustellen, dass Oumuamuas Flugbahn eine weitere exzentrische Eigenschaft hatte. Es war eine fast perfekte Route, beinahe so, als habe jemand geplant, alle vier inneren Planeten des Sonnensystems zu beobachten. Nicht zuletzt die Erde, der sich Oumuamua auf ein Viertel ihres Abstands zur Sonne näherte. Jede nur halb brauchbare Kamera hätte das künstliche Licht auf der Nachtseite fotografieren können.
Kein Wunder, richteten die Wissenschaftler von Seti, die normalerweise den Himmel nach ausserirdischen Funksprüchen abhörten, ihren Wald von Radioteleskopen auf den verdächtigen Eindringling. Doch Oumuamua blieb stumm.
All diese Theorien
Mit der Zeit erschienen die ersten Erklärungsversuche:
Die vietnamesisch-amerikanische Forscherin Jane Luu vermutete, dass Oumuamua im Prinzip eine Art Staubwusel war: ein lang gestrecktes Häufchen von losem kosmischem Schmutz, das nur durch statische Elektrizität zusammengehalten wurde.
Etwas Ähnliches vermutete Amaya Moro-Martín vom Space Telescope Science Institute in Baltimore: ein poröser Teppich, fast zweidimensional, gewebt aus einer fraktalen Struktur von Eis und Staub.
Darryl Seligman und Greg Laughlin von den Universitäten Chicago und Yale dagegen berechneten, dass es sich bei Oumuamua um einen beinahe lupenreinen Eisberg aus gefrorenem Wasserstoff handeln könnte. Ein kosmischer Eisberg würde nicht nur die Beschleunigung erklären, sondern auch die Abwesenheit des Schweifs – weil reiner Wasserstoff für weit entfernte Instrumente so gut wie unsichtbar ist.
Yun Zhang vom Observatoire de la Côte d’Azur und Douglas Lin von der UC Santa Cruz entdeckten mithilfe von Computersimulationen, dass eine Zigarre dann ein plausibler Trümmer eines Asteroiden sein kann, wenn dieser zu nah an seinem Heimatstern (wahrscheinlich einem Weissen Zwerg) vorbeiflog und dabei durch die Gravitationskräfte zerrissen wurde.
Fast alle Autorinnen führten an, ein grosser Vorzug ihrer Theorie sei, dass Oumuamua damit endlich natürlich erklärt werde – und nicht mithilfe von Ausserirdischen.
Das richtete sich gegen den Harvard-Professor Avi Loeb, der zum Entsetzen seiner Kollegen mit seinem Assistenten Shmuel Bialy ein mit Formeln und Tabellen vollgestopftes Papier geschrieben hatte, in dem er die These aufstellte, dass die wahrscheinlichste Hypothese bei Berücksichtigung aller bekannten Daten sei, dass Oumuamua ein etwa 500 Millionen Jahre altes Stück Weltraumschrott sei.
Alien
Loeb berief sich dabei auf Sherlock Holmes: «Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, egal wie unwahrscheinlich es ist.»
Um alles Unmögliche zu eliminieren, drehte Loeb allen anderen Erklärungsversuchen den Hals um.
Zum ersten wies er – zu Recht – darauf hin, dass sämtliche Autorinnen als «natürliche» Erklärung auf eine Lösung kamen, die noch nie zuvor in der Natur beobachtet worden war. Zu den 600’000 bisher im Sonnensystem katalogisierten Objekten gehören weder ein galaktischer Staubwusel noch ein fraktaler Teppich noch ein zigarrenförmiger Trümmer noch ein Klumpen pures Wasserstoffeis.
Die Erklärungen waren, doppelte Loeb nach, nicht nur in der Natur, sondern sogar in der Theorie unmöglich: Die Wusel zu wenig stabil, das Wasserstoffeis wäre auf der Milliarden Jahre dauernden Reise von seinem einzig möglichen Entstehungsort, einer ultrakalten Gaswolke, schon spätestens nach 10 Millionen Jahren geschmolzen.
Dazu erklärte selbst auf dem Reissbrett keine der Annahmen alle Phänomene: die Zigarrentheorie etwa nicht die Beschleunigung, die Eistheorie nicht, wie Oumuamua trotz ausströmenden Gasen mindestens eine Woche lang stoisch die achtstündige Rotationsperiode beibehalten hatte.
Das Schockierende war, dass Avi Loeb nicht irgendwer, sondern einer der führenden Köpfe seiner Branche ist: Professor für theoretische Astrophysik in Harvard – und dort der am längsten amtierende Vorsteher für den Fachbereich Astronomie.
Und nicht zuletzt war Loeb einer der produktivsten Autoren seines Fachs: 800 wissenschaftliche Aufsätze, am häufigsten zu seinem Spezialgebiet, der Dämmerung im Universum, das 100 bis 200 Millionen Jahre stockdunkel war, bis die ersten Sterne geboren wurden. Aber daneben hatte Loeb auch Hunderte Papiere zu Themen veröffentlicht, die das Weltall furchterregend, spektakulär und verstandessprengend machen: massive schwarze Löcher, Gammablitze, hyperschnelle Sterne (mit fast Lichtgeschwindigkeit), die Entstehung von Supererden, mögliche Biomarker auf Exoplaneten, der künftige Zusammenstoss von Andromeda-Galaxie und Milchstrasse. Dazu hatte Loeb eine Menge praktischer Methoden entwickelt: Seine berühmteste war die – 2019 ausgeführte – Idee, wie man von der Erde aus den Schatten eines Schwarzen Lochs fotografieren könnte.
Schon seit langem hat Loeb eine Ader für Exzentrik: Er ist begeisterter Unterstützer des Seti-Programms zum Abhorchen des Himmels nach den Signalen von Ausserirdischen. Und wurde 2016 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der «Starshot»-Initiative des russischen Internet-Milliardärs Juri Milner, der 100 Millionen Dollar gespendet hatte – mit dem Ziel, noch zu Lebenszeiten Milners eine Sonde zum nächsten, fast 4,3 Lichtjahre entfernten Stern Alpha Centauri zu schicken.
Der Plan dafür ist, einen Minicomputer an einem Lichtsegel zu befestigen und dieses mit einem ultrastarken Laser innert zweier Minuten auf ein Fünftel der Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen.
Kein Wunder, kam Loeb auf die Idee, seine Berechnungen zu Lichtsegeln aus dem Computer zu recyceln. Und sie zusammen mit seinem Assistenten Bialy für Oumuamua durchzurechnen.
Und alles passte – die taumelnde Rotation, die extreme Reflexion, der periodische Helligkeitswechsel und die sanfte Beschleunigung, angetrieben durch den Strahlendruck der Sonne. Das unter der Bedingung, dass es ein im Minimum 20 Meter breites, ultraleichtes Lichtsegel von höchstens 1 Millimeter Dicke war.
Etwa so:
Die Frage, die sich die Welt danach stellte, war die: Hatte Loeb, weil beschäftigt mit Lichtsegeln, deshalb überall Lichtsegel gesehen? Oder hatte er, weil beschäftigt mit Lichtsegeln, deshalb das Lichtsegel gesehen?
Wie auch immer: Loeb kam zum Schluss, dass die bisher wahrscheinlichste Hypothese im Fall Oumuamua war: ein längst ausrangiertes, spottbilliges Stück Weltraumtechnik, das vor etwa 500 Millionen Jahren von wahrscheinlich längst verschollenen Herstellerinnen in Massenproduktion gebaut worden war.
Kurz: eine Art weggeworfene Plastikflasche am Strand.
Das Papier erschien am 26. Oktober 2018 auf einer wissenschaftlichen Vorpublikationsseite im Netz. Am nächsten Tag stand die Weltpresse in Professor Loebs Vorgarten.
Die Wette
Die Kollegen schüttelten sich angewidert. (Hier ein schönes Beispielvideo.) Und zitierten Sätze wie: «Der wichtigste Grundsatz in der Astronomie ist doch: Es waren nie die Ausserirdischen.»
Doch Avi Loeb doppelte diesen Januar mit einem schwungvoll geschriebenen Buch mit dem Titel «Ausserirdisch. Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten» nach. Es zerfällt in etwa fünf Teile:
Die melancholische und charmante Beschreibung des eigenen Lebens als Ergebnis von wenigen eigenen und vielen fremden Entscheidungen: etwa der seines Grossvaters, der die Weitsicht hatte, 1936 aus Nazideutschland nach Palästina auszureisen. Oder seine dem Zufall geschuldete Karriere, die damit begann, dass Loeb, der eigentlich Philosophie studieren wollte, in seinem israelischen Militärdienst in die Abteilung für Waffenentwicklung versetzt wurde, sich dort für ultraheisses Plasma (übrigens dem statistisch häufigsten Zustand von Materie in diesem Universum) zu interessieren begann – und von einem Professor in Harvard zu seiner Überraschung ein fünfjähriges Stipendium angeboten bekam, unter der Bedingung, dass er Astrophysik studieren würde. Was er tat – ohne damals auch nur Bescheid zu wissen, wie die Sonne funktionierte.
Der Verteidigung der Neugier in den Wissenschaften: Loeb spricht sich für kurze, interessante Papiere und einen nüchternen, poetischen Blick aus – für die akribische Recherche aller Daten und die Bereitschaft, sich durch Anomalien darin jederzeit überraschen zu lassen. Anstatt wie es derzeit Mode ist, immer komplexere mehrdimensionale String- oder Paralleluniversumsmodelle durchzurechnen, die nur noch mit Mathematik, aber nichts mehr mit dem beobachtbaren Universum zu tun haben. Und er verzweifelt daran, dass seine Studentinnen ihm antworten: Schön, Professor Loeb, Ihre Ideen können Sie sich nur leisten, weil Sie bereits Institutsleiter in Harvard sind. Wären Sie das nicht, hätten Sie keine Chance mehr, es wieder zu werden. (Der klassische Fall eines Boomers, der die Welt der Millennials nicht mehr versteht.)
Zu Oumuamua bringt Loeb eine interessante Zusatzthese: Verblüffenderweise befand sich Oumuamua vor der Begegnung mit unserem Sonnensystem in der Ruheposition – es flog exakt im durchschnittlichen Tempo der umliegenden Sterne durch den Raum. Was nur sehr junge Sterne tun und überhaupt nur einer von 500. (Die Sonne beispielsweise nicht – man könnte sagen, dass nicht Oumuamua das Sonnensystem gekreuzt hat, sondern das Sonnensystem mit über 20 Kilometern pro Sekunde auf Oumuamua geprallt ist.) Kurz, Loeb äussert die Vermutung, dass ein derart im Raum positioniertes Objekt zumindest auf der Erde eine klare Funktion hätte: als Boje. (Oder vielleicht auch: als Alarmanlage.)
Loebs wichtigstes philosophisches Anliegen lehnt sich an die berühmte Wette des französischen Mathematikers Blaise Pascal an, eines Pioniers der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Es lohne sich, schrieb Pascal, so zu leben, als würde Gott existieren. Tut er das nicht, hat man zwar auf ein paar Vergnügungen verzichtet. Existiert er aber, gewinnt man den Hauptpreis: eine Ewigkeit im Himmel. Und man verhindert das Schlimmste: eine Ewigkeit in der Hölle.
Deshalb, so Loeb, lohnt es sich auch – trotz ihrer letztlichen Unbeweisbarkeit – auf die These eines ausserirdischen Ursprungs von Oumuamua zu setzen: Man gewinnt dadurch die Möglichkeit, die Menschheit, ihre Ziele, ihre Technologien ganz neu zu denken. Und dadurch auf produktive Ideen zu kommen, etwa zu neuen Wissenschaftszweigen wie etwa Astroarchäologie; zu neuen Technologien wie etwa dem Lichtsegel; zu neuen Überlebenstechniken wie dem Massenversand von Miniraumschiffen mit Erbgut. Und man bekäme nicht zuletzt einen wacheren Blick für die Gefahren der Zivilisation – auch hoch entwickelte Technologie schützt nicht vor dem Aussterben.
Der leere Himmel
Beim letzten Thema ist Professor Loeb ungewöhnlich optimistisch – als würde die Warnung bereits vor der Katastrophe schützen. Der Mainstream der philosophisch interessierten Astronomen sieht die Sache anders: Die Entdeckung von Mikroben – vielleicht auf dem Mars oder in der Atmosphäre der Venus – wäre für die Menschheit eine schlimme Nachricht. Die Entdeckung von höher entwickeltem Leben wie Mehrzellern oder sogar komplexeren Tieren wäre eine noch üblere Botschaft. Und das Auffinden von ausserirdischen Artefakten wäre so gut wie ein Todesurteil.
Das aus einem logischen Grund – dem Fermi-Paradox. 1950 unterbrach der Atomphysiker und Nobelpreisträger Enrico Fermi ein Mittagessen in der Universitätskantine, zeigte nach oben und fragte: «Wo sind sie alle?»
Das war eine teuflisch gute Frage. Das Universum ist nun 13,8 Milliarden Jahre alt. Die Anzahl der Sterne allein im sichtbaren Universum beträgt etwa 70’000’000’000’000’000’000’000 – 70 Trilliarden. (Angeblich mehr, als es Sandkörner auf der Erde gibt, das haben zumindest australische Astronomen so berechnet, es gibt Gegenstimmen.) Allein in der Milchstrasse befinden sich zwischen 100 und 300 Milliarden Sterne – also zwischen 100 und 1000 Milliarden Planeten. Sollte nur ein winziger Prozentsatz davon tauglich sein, kommt man auf 100 Millionen bis 1 Milliarde bewohnbare Planeten.
Kurz: Der Astronom Carl Sagan hatte recht, als er sagte: «Wenn wir die Einzigen im Universum sind, ist das eine ziemliche Platzverschwendung.»
Denn wenn das Leben nur einigermassen verbreitet ist, müsste es in den knapp 9 Milliarden Jahren vor der Existenz der Erde genug Chancen und Zeit gegeben haben, dass sich die Zivilisation und die Technologie so weit hätten entwickeln müssen, dass interstellare Raumfahrt möglich sein müsste.
Und trotzdem ist der Himmel vollkommen leer – ohne das geringste Zeichen von Leben, nicht einmal von einer einzigen Bakterie.
Fermi hat recht: Warum zum Teufel ist da niemand?
Die bestechendste Erklärung lieferte 1998 der Physiker und Ökonom Robin Hanson mit seiner Theorie des grossen Filters. Hanson schrieb, dass offensichtlich etwas die Entwicklung zu einer im grossen Stil den Weltraum bereisenden Spezies bis jetzt verhindert hat – weil zumindest eine Stufe des Wegs dorthin derart schwer ist, dass fast alle daran scheitern.
Der grosse Filter kann an sehr vielen Orten sitzen. Etwa
bei der Bildung eines geeigneten Planeten (der nicht nur bewohnbar sein muss, sondern – was verblüffend viel Glück braucht – über mindestens 3 Milliarden Jahre durchgehend bewohnbar sein muss);
bei der Entstehung von Leben überhaupt;
bei der Entwicklung der ersten Mehrzeller;
bei der Erfindung von Sex – und damit genetischer Vielfalt;
bei der Benutzung von Werkzeugen;
beim Aufbau von abstrakter Sprache;
bei der Entwicklung von Technologie, später Raumfahrzeugen (auf reinen Wasserplaneten etwa lässt sich mangels Feuer kein Stahl schmieden);
bei der Aufgabe, sich nach der Entwicklung von Technologie nicht selber in die Luft zu sprengen;
oder bei weiss der Henker was.
Die entscheidende Frage lautet: Liegt der grosse Filter vor oder hinter uns? Liegt der grosse Filter hinter uns – etwa, weil der Sprung vom Ein- zum Mehrzeller beinahe unmöglich ist –, sind wir fein raus: Wir haben als vielleicht erste Spezies diese Hürde genommen – und haben damit alle Chancen für eine glückliche Zukunft. Liegt der grosse Filter aber vor uns – etwa mit einer von allen bisherigen Zivilisationen gemachten Erfindung, die alles Leben auf dem Planeten vernichtet –, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass wir das gleiche Schicksal erleiden werden wie alle anderen Zivilisationen vor uns.
Deshalb bedeutet jede Entdeckung von ausserirdischem Leben: Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die tödliche Falle noch vor uns liegt. Und der Fund von ausrangierter ausserirdischer Technik lässt die Wahrscheinlichkeit fast zur Gewissheit werden. Ist Oumuamua tatsächlich ein Sonnensegel einer untergegangenen Zivilisation, bedeutet das mit einiger Sicherheit das Todesurteil für die Menschheit: Wir werden den grossen Filter auch nicht überstehen.
Die Ameisenstrasse
Diesen März erschien eine weitere Oumuamua-Theorie – und verschaffte allen antiausserirdischen Astrophysikerinnen wie den Anhängern der Theorie des grossen Filters kurz Erleichterung.
Alan Jackson und Steven Desch von der Universität Arizona veröffentlichten zwei Papiere, in denen sie behaupteten, das Rätsel des exzentrischen Eindringlings geknackt zu haben.
Die Lösung: Oumuamua war ein grosser Klumpen Stickstoffeis, das bei einer Kollision vor rund 500 Millionen Jahren im Chaos bei der Bildung eines jungen Planetensystems von einem Zwergplaneten abgesprengt und ins Weltall geschleudert wurde.
Diese Lösung wurde von mehreren Astronominnen als extrem elegant anerkannt. Und zwar deshalb:
Zwar hatte noch niemand ein riesiges Stück gefrorenen Stickstoff durch das All treiben sehen – doch 2015 hatte die Sonde «New Horizons» ein enormes Vorkommen davon entdeckt. Fast die ganze Oberfläche des Kleinplaneten Pluto liegt unter einem dicken Panzer aus Stickstoff- und Methaneis.
Die These von der Jugend des Planetensystems machte zwei Dinge plausibler: Ein eben entstehendes Planetensystem ist zum einen ein Tollhaus von Kollisionen. Und zum Zweiten statistisch weit häufiger im Vergleich zu den umliegenden Sternen in Ruheposition.
Dass sich das Objekt zwar wie ein Komet verhielt, aber kein Schweif sichtbar war, erklärt sich mit Stickstoffeis ganz locker: Gas aus reinem Stickstoff ist für Messungen von der Erde so gut wie unsichtbar.
Doch vor allem beeindruckte die Eleganz, mit der Jackson und Desch durch das Material Stickstoffeis gleich weitere zwei vertrackte Probleme Oumuamuas lösten – den Antrieb und die seltsame Form. Eis reflektiert weit mehr Licht als Stein oder Metall – sodass Jackson und Desch die mutmassliche Grösse von Oumuamua massiv reduzieren konnten, wodurch das Objekt wiederum viel weniger Gas zur Beschleunigung brauchte.
Nicht zuletzt löste das Material das Problem der exzentrischen Form. Oumuamua war ursprünglich völlig anders geformt, war aber auf dem langen Weg durch das Sonnensystem zu 95 Prozent geschmolzen. «Stickstoffeis erklärt alles», erklärte Alan Jackson. «Als die äusseren Schichten verdampften, wurde Oumuamua immer flacher – so wie ein Stück Seife, deren Aussenschicht bei ihrer Benutzung immer wieder abgerieben wird.»
Nach Berechnungen des Duos sah Oumuamua also etwa aus wie ein Pfannkuchen:
Jacksons Kollege Steven Desch nahm sich danach Professor Loeb vor: «Jeder interessiert sich für Aliens – und vielleicht war es unvermeidbar, dass das erste Objekt von ausserhalb des Sonnensystems die Leute an Ausserirdische denken liess (…) Aber es ist in der Wissenschaft wichtig, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen», sagte er bei der Veröffentlichung der Studie. «Doch es brauchte ja nur zwei oder drei Jahre, um für alles, was wir zu Oumuamua wissen, eine vollkommen natürliche Erklärung zu finden: ein Brocken Stickstoffeis. Das ist keine lange Zeit in der Wissenschaft – und viel zu früh, um zu sagen, dass wir alle natürlichen Erklärungen gefunden haben.»
Nun, damit wäre alles geklärt, ausser … ausser dass – wie Avi Loeb wenig später anmerkte – ein weiteres Mal eine natürliche Ursache präsentiert wurde, die in der Natur noch nie beobachtet worden war. «Warum sollte das erste natürliche Objekt, das wir aus dem interstellaren Raum entdecken, so aussehen wie keines, das wir zuvor gesehen haben?»
Und ausserdem finde auch dieses Modell keine Erklärung dafür, warum die Emission von Gas die Rotation eines winzigen Objekts wie Oumuamua unverändert lasse.
Und dazu – so Loeb – besteht das Problem, dass auch gefrorener Stickstoff im All so gut wie nie gänzlich rein vorkommt, da Stickstoff in allen Sternen immer zusammen mit Kohlenstoff gebildet wird. Und selbst Spuren von entweichendem Kohlenstoff hätten die Instrumente gemessen.
Oumuamua wird das eigene Rätsel nicht mehr lösen. Aktuell befindet es sich 3,6 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt und wird Ende der 2030er-Jahre die letzten Ausläufer des Sonnensystems verlassen. (Falls Sie die exakte Entfernung während Ihrer Lektüre wissen wollen, klicken Sie hier.)
Doch, so Professor Loeb, wird mit ziemlicher Sicherheit die Zukunft die Frage klären. Das, weil es statistisch so gut wie ausgeschlossen sei, dass das erste beobachtete interstellare Objekt ausgerechnet ein Unikat wäre. Was auch immer Oumuamua sei, es würden mehr kommen – Eisberge oder Weltraummüll.
«Das ist, wie wenn man im Badezimmer eine Ameise sieht», sagte Loeb. «Dann weiss man, es kommen noch mehr Ameisen.»
PS: Falls Sie mehr von Professor Loeb hören wollen, lesen Sie dieses sehr lebendige Interview, das er vor zwei Jahren Sibylle Berg für die Republik gab.