Briefing aus Bern

Bundesrat für weitere Corona-Lockerung, Geheimdienst­chef muss gehen und Druck für «Ja heisst Ja»-Regel

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (146).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine und Brigitte Hürlimann, 13.05.2021

Der Bundesrat hat der Bevölkerung am Mittwoch für die Umsetzung der Schutz­massnahmen ein gutes Zeugnis ausgestellt. Er ist zuversichtlich, dass sich die Situation in den Spitälern in den nächsten Wochen weiter entspannt. Und darum – und das ist die Nachricht, auf die viele wohl gewartet haben – gibt er den Kantonen weitere Öffnungs­schritte in Konsultation. Wenn alles gut geht sollen diese am 31. Mai in Kraft treten. Dann würde die Schweiz im bundes­rätlichen Drei-Phasen-Modell von der Schutz- in die Stabilisierungs­phase eintreten. Konkret heisst das in aller Kürze (Details dazu gibt es in der Medienmitteilung):

  • Restaurants dürfen auch Innenräume öffnen, solange die bekannten Schutzregeln eingehalten werden.

  • Für Veranstaltungen vor Publikum erhöht sich die erlaubte Personen­zahl auf 100 (drinnen) und 300 (draussen). Verboten bleiben «Tanz­veranstaltungen». Über Events mit mehr als 1000 Personen entscheidet der Bundesrat am 26. Mai.

  • Im Privatbereich gilt weiter die Begrenzung von 10 Personen im Innern und 15 draussen.

  • Im Amateursport sind Team­wettkämpfe draussen wieder erlaubt und die Gruppen­grösse auf 30 (Fussball: 50) Personen erhöht.

  • Bei der Laienkultur dürfen wieder 30 Menschen zusammen­kommen. Für Auftritte und Proben sind 50 erlaubt.

  • Für Betriebe, die regelmässig testen, gilt statt einer Pflicht nur noch eine Empfehlung für Homeoffice.

  • An Hochschulen wird die Obergrenze von 50 Personen für Präsenz­unterricht aufgehoben.

Weiter hat der Bundesrat am Mittwoch wirtschafts­politische Entscheide im Zusammen­hang mit der Pandemie gefällt. So verlängert er die Bezugsdauer für Kurzarbeits­entschädigung von 18 Monaten auf 24. Zudem beantragt er dem Parlament, die bis Ende Juni beschränkte Grundlage für die Erwerbsausfall­entschädigung bis Ende Jahr zu verlängern. Auch möchte er die Obergrenze für A-fonds-perdu-Beiträge zugunsten von Sportvereinen aufheben lassen. Weiter hat die Landes­regierung eine Verordnung verabschiedet, mit der die vom Parlament beschlossenen Grundlagen für Stimmrechts­bescheinigungen für Referenden und Volksinitiativen umgesetzt werden. Die Verordnung schafft temporäre Erleichterung, indem auch Unterschriften bei der Bundes­kanzlei eingereicht werden können, die noch nicht von den Gemeinden beglaubigt wurden.

Es sieht also nicht schlecht aus. Geht es mit den Impfungen zügig voran und steigen die Fallzahlen nicht an, dann sind die Chancen auf einen zwar nicht zügellosen, aber doch halbwegs entspannten Sommer intakt.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Rahmenabkommen: Die Schweiz muss sich entscheiden

Worum es geht: Nach einem Treffen der Europa­minister am Dienstag in Brüssel kommt die Schweiz in Sachen Rahmen­abkommen noch stärker unter Druck. Die EU-Mitglieds­staaten betonten, die Beziehung zur Schweiz sei ihnen wichtig, doch sie wollten auch die Integrität des Binnenmarkts schützen. Wenn die Schweiz vom gemeinsamen Markt profitieren wolle, müsse sie sich an die Regeln halten und klarmachen, dass sie das Abkommen wolle.

Warum Sie das wissen müssen: Die Verhandlungen um das institutionelle Abkommen mit der EU sind nach sieben Jahren und unzähligen Gesprächs­runden an einem toten Punkt angelangt. Beide Seiten stellen sich auf den Standpunkt, sie seien dem Verhandlungs­partner weit entgegen­gekommen, dieser müsse sich nun bewegen. Die EU hat zu den kritischen Punkten Lohnschutz, Unions­bürger­richtlinie und Staatsbeihilfen Lösungs­vorschläge gemacht und erwartet von der Schweiz, dass sie sich nun hinter das Abkommen stellt. Aus Sicht der Schweiz hingegen muss sich die EU noch flexibler zeigen und bei den drei Streitpunkten echte Zugeständnisse machen. Bundes­präsident Guy Parmelin betonte nach dem Treffen kürzlich mit der EU-Kommissions­chefin Ursula von der Leyen, das Vertrags­werk habe in der aktuellen Form bei der Schweizer Bevölkerung keine Chance. Nun zeigt jedoch eine neue Umfrage des Forschungs­instituts GFS Bern, dass dies wohl nicht stimmt: So würden von den 2000 befragten Stimm­bürgerinnen heute 64 Prozent in einer Abstimmung Ja zum Rahmen­abkommen sagen.

Wie es weitergeht: Gestern Mittwoch begann der Bundesrat die entscheidende Diskussion über das schwierige Dossier. Dabei geht es um nichts weniger als die Frage, ob er die Verhandlungen abbrechen, weiter­feilschen oder den Vertrag in der vorliegenden Form unterschreiben soll. Neben Aussenminister Cassis legten auch die Bundesrätinnen Sommaruga und Amherd Mitberichte vor, dem Vernehmen nach mit teilweise brisanten Vorschlägen. Am kommenden Mittwoch wird der Bundesrat die Gespräche weiterführen – möglicherweise kommt es dann zum grossen Showdown.

Sexualstrafrecht: Grosser Druck für «Ja heisst Ja»-Regel

Worum es geht: Am Montag ist die Vernehmlassungs­frist für die Revision des Sexualstraf­rechts abgelaufen. Vor allem die Frauen, aber auch linke Parteien, Amnesty International und diverse Kantone kritisieren die Vorlage.

Warum Sie das wissen müssen: Das Bundesamt für Justiz schlägt für einen neuen gesetzlichen Umgang mit Vergewaltigung die sogenannte Veto-Lösung vor: «Nein heisst Nein». Das bedeutet, dass für eine Verurteilung zwar keine Nötigung durch die Täter mehr erforderlich ist (wie nach heutigem Recht), dass aber von Opfern verlangt wird, dass sie ihre Ablehnung klar kundgetan haben. Breiten Kreisen geht dieser Vorschlag zu wenig weit – sie fordern eine «Ja heisst Ja»-Regel, wie sie seit 2018 in Schweden gilt. Beide Sexual­partner müssten in diesem Fall ihr Einverständnis geben, sonst machen sie sich allenfalls strafbar. Die «Ja heisst Ja»-Regelung fordern neben der Eidgenössischen Kommission für Frauen­fragen auch 11’710 Einzelpersonen, die einem Aufruf der SP-Frauen folgten. Sie wird auch von fast allen Westschweizer Kantonen, von Zürich, Appenzell Ausserrhoden, St. Gallen oder Nidwalden favorisiert.

Wie es weitergeht: Die ungewöhnlich vielen Vernehmlassungs­antworten werden womöglich zu Anpassungen führen. Sollte der Bundesrat dem Parlament eine Gesetzes­vorlage mit der umstrittenen «Nein heisst Nein»-Lösung vorlegen, dürfte ihm ein rauer Wind entgegenschlagen.

Zweitwohnungs­gesetz: Bundesrat sieht Umsetzung auf Kurs

Worum es geht: Von 2013 bis 2018 ist der Flächen­verbrauch durch neu gebaute Zweitwohnungen in den vom Zweitwohnungs­gesetz betroffenen Gemeinden gegenüber der Periode 2007 bis 2012 um rund ein Drittel zurückgegangen. Das zeigt eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene Analyse. Sein Fazit: Es sei nicht notwendig, das Gesetz anzupassen.

Warum Sie das wissen müssen: Vor bald zehn Jahren hat die Stimm­bevölkerung die Zweitwohnungs­initiative angenommen – mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,6 Prozent der Stimmen und gegen den Willen von Bundesrat und Parlament. Die Initiative verlangte, den Anteil an Zweitwohnungen in den Gemeinden zu begrenzen, um die Zersiedelung zu bremsen. Anfang 2016 trat das Umsetzungs­gesetz in Kraft. Nun hat der Bundesrat eine erste Bilanz gezogen: Wie der Rückgang des Flächen­verbrauchs zeige, erfülle das Gesetz seinen Zweck. Zudem habe es nicht zu substanziellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten geführt. Allerdings erkennt der Bundesrat auch Optimierungs­potenzial: So sei nicht in allen Gemeinden genügend Wissen vorhanden und das Rollen­verständnis der kantonalen Aufsichts­behörden teilweise unklar. Auf entsprechende Defizite deutet auch eine mehrteilige «Blick»-Recherche hin, die jüngst nachzeichnete, wie leicht reiche Ausländer im Berner Oberland Grundstücke kaufen können – was in vielen Fällen eine Verletzung der Lex Koller bedeuten dürfte. Dieses Bundes­gesetz war 1983 erlassen und 1997 überarbeitet worden, um den «Ausverkauf der Heimat» zu stoppen.

Wie es weitergeht: Im Jahr 2025 werden das Umwelt- und das Wirtschafts­departement eine weitere Wirkungs­analyse präsentieren.

Ausgedient: Amherd trennt sich von Geheimdienst­chef Gaudin

Worum es geht: Nach knapp drei Jahren trennt sich der Bund von Jean-Philippe Gaudin, dem Direktor des Nachrichten­diensts des Bundes (NDB). Einvernehmlich, wie es offiziell heisst. Gemäss Recherchen der Tamedia-Redaktion hingegen hat sich Verteidigungs­ministerin Viola Amherd für diesen Schritt entschieden, weil sie kein Vertrauen mehr in ihren wichtigen Mitarbeiter habe.

Warum Sie das wissen müssen: Der parteilose Zweisterne­general Gaudin war als Wunsch­kandidat von SVP-Bundesrat Guy Parmelin ins Amt gekommen, die beiden Waadtländer verstanden sich gut. Zu Parmelins Nachfolgerin an der Spitze des Verteidigungs­departements (VBS) habe der 61-Jährige keinen vergleichbar guten Draht gehabt, so die Tamedia-Zeitungen. Kritisiert habe ihn die CVP-Magistratin unter anderem wegen seines Verhaltens während der Aufarbeitung der sogenannten Crypto-Affäre vor gut einem Jahr, auch wenn sich diese weit vor seiner Zeit abgespielt hatte.

Wie es weitergeht: Gaudin werde den NDB Ende August verlassen und einen Job in der Privat­wirtschaft annehmen, teilte der Bundesrat am Mittwoch mit. Bis seine Nachfolge geregelt ist, wird der NDB interimistisch von seinem bisherigen Stellvertreter Jürg Bühler geleitet. Danach könnte es zur Premiere kommen: Mit Pälvi Pulli, der Chefin Sicherheits­politik im VBS, gilt eine Frau als Favoritin auf den Direktionsposten.

Totgeburt einer Syrerin: Militärjustiz verurteilt Grenzwächter

Worum es geht: Im Sommer 2014 erlitt eine im siebten Monat schwangere 23-jährige Syrerin eine Totgeburt, als sie gemeinsam mit 35 weiteren Geflüchteten von Schweizer Grenzwächtern nach Italien zurückgeschafft wurde. Nun sind drei Grenzwächter von der zuständigen Militärjustiz wegen fahrlässiger Körper­verletzung und Nichtbeachtens von Dienst­vorschriften bestraft worden.

Warum Sie das wissen müssen: Der Fall ereignete sich in Brig, wo eine Gruppe von Geflüchteten unter Aufsicht der Grenz­wacht auf den Zug nach Domo­dossola wartete. Die schwangere Frau klagte über Schmerzen, ihr Ehemann bat mehrfach vergeblich um medizinische Hilfe. So steht es in den Strafbefehlen, aus denen die «SonntagsZeitung» zitierte. Der Einsatz­leiter aber habe die Hilfe verweigert. Der erfahrene Grenzwächter war in einem Gerichts­verfahren bereits 2018 zu einer bedingten Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen à 150 Franken verurteilt worden. Nun hat die Militärjustiz auch drei Untergebene verurteilt, weil sie sich nicht gegen ihren Chef auflehnten und es somit an Zivil­courage mangeln liessen. Sie müssen bedingte Geld­strafen in Höhe von je 30 Tagessätzen à 100 bis 200 Franken entrichten. In der Gerichts­verhandlung im Herbst 2018 hatte ein Vorgesetzter des Einsatz­leiters eingeräumt, dass medizinische Hilfe bei Rückführungen wegen der Kosten damals «sehr, sehr zurückhaltend» gewährt worden sei. Die Vorgesetzten hätten in solchen Fällen schnell gefragt, wer das denn bezahlen solle. Das habe sich erst 2014 geändert. Nach dem Vorfall wurde in Vallorbe, Lausanne und Brig ein Netzwerk mit Ärzten aufgebaut, die in Notfällen vor Ort Hilfe leisten können.

Wie es weitergeht: Noch ungeklärt ist, ob die betroffene Familie finanziell entschädigt wird. Das Eidgenössische Finanz­departement wehrt sich dagegen, obwohl eine interne Analyse der Zoll­verwaltung ergab, dass eine Genugtuung von bis zu 10’000 Franken gerechtfertigt wäre. Das Verfahren dazu ist vor dem Bundesverwaltungs­gericht hängig.

Sonderzeichen der Woche

Eine Einbürgerung ist nicht gratis, und der Preis für den Schweizer Pass ist (neben den Gebühren) oftmals ein verhunzter Name. In verschiedenen Personen­registern können nämlich gewisse Sonder­zeichen nicht erfasst werden, darunter das ć, das zum Beispiel in kroatischen Namen vorkommt, die häufig auf -ić enden. Wenn sich also Frau Filipović einbürgern lässt, dann heisst sie fortan Filipovic. Das soll sich ändern: Der Bundesrat hat entschieden, dass per 2024 in allen Personen­registern der Schweiz ein einheitlicher Zeichensatz (für Fachleute: ISO 8859-1 + Latin Ex-tended-A) eingeführt wird, der «bis auf wenige Ausnahmen alle Sonderzeichen europäischer Sprachen mit lateinischem Alphabet» enthält. Wartet Frau Filipović mit der Einbürgerung bis 2024, bleibt ihr Name, wie er ist. Ist sie bereits eingebürgert, muss sie ebenfalls warten, denn das Verfahren (und allfällige Gebühren) um aus Frau Filipovic wieder eine Filipović zu machen, muss erst noch in Verordnungen geregelt werden.

Illustration: Till Lauer