Eine Woche Hass

Wer dem Social-Media-Oligopol von Facebook, Twitter, Youtube und Co. den Rücken kehren will, muss auf alternative Plattformen ausweichen – und rutscht damit unweigerlich in eine Parallelwelt. Ein Selbstversuch.

Von Marko Kovic (Text) und Doug Chayka (Animation), 12.05.2021

Zum ersten Mal nach mehr als 40 Jahren bricht auf der Karibik­insel St. Vincent der Vulkan La Soufrière aus. Die Natur­katastrophe wird innert kürzester Zeit für mehr als 16’000 Menschen lebens­bedrohlich. Doch gerettet wird nur, wer eingewilligt hat, sich gegen Corona impfen zu lassen – die anderen sterben einen qualvollen Tod.

Diese Horrorstory ist einer meiner ersten Berührungs­punkte mit der Welt von «Alt-Tech»: kleine Social-Media-Platt­formen, die sich als unabhängige Alternativen zu Facebook, Google, Twitter und Co. positionieren.

Der Begriff Alt-Tech ist eine Anspielung auf die faschistoide Alt-Right-Online­bewegung, die mit Donald Trumps Kandidatur und Präsidentschaft zu einem Massen­phänomen wurde. Alt-Tech-Plattformen gelten, wie der Name suggeriert, als Horte von Extremismus, Rassismus und Verschwörungs­theorien. Noch vor wenigen Jahren waren solche Platt­formen bestenfalls eine winzige Nische in den Untiefen des Internets, aber ihre Beliebtheit und damit ihre gesellschaftliche Bedeutung nehmen rasant zu. So wurde beispiels­weise der Sturm auf das US-Kapitol vom 6. Januar 2021 massgeblich auf den Alt-Tech-Plattformen Parler und Gab koordiniert.

Um mir ein genaueres Bild davon zu machen, was es mit Alt-Tech auf sich hat, beschliesse ich, eine Woche lang auf vier beliebten Platt­formen zu verbringen: den Facebook- und Twitter-Klonen Parler und Gab, dem Youtube-Ersatz Bitchute und dem berüchtigten Unter­forum /pol/ auf dem Image­board 4chan.

Den Selbstversuch in der Alt-Tech-Welt trete ich als neugieriger Beobachter an. Es ist eine Woche nach Ostern. Ich rechne damit, politisch extreme Inhalte und Fake News zur Aktualität anzutreffen. Doch ich ahne nicht, wie der Sog dieser Platt­formen auch mich mitreissen wird.

Tag 1: Reiz­überflutung

Meine Alt-Tech-Reise beginnt auf der 2018 gegründeten Plattform Parler. Das dominante Thema an diesem Tag sind die Corona-Impfungen. Einer der Top-Posts des Tages ist die Geschichte über den Vulkan­ausbruch auf St. Vincent, die von der rechts­libertären Website Zero Hedge gepostet wird. In den über 170 Kommentaren dazu finde ich keinen einzigen, in dem die Geschichte kritisch hinterfragt wird. Niemand weist darauf hin, dass in Tat und Wahrheit alle gefährdeten Einwohnerinnen auf St. Vincent evakuiert wurden – nur eine Handvoll privater Kreuzfahrt­schiffe, die ihre Hilfe angeboten hatten, wollten ausschliesslich geimpfte Bewohner aufnehmen.

Parler ist ein Projekt der erzkonservativen amerikanischen Milliardärs­familie Mercer rund um Robert Mercer und seine Tochter Rebekah. Die Mercers sind alte Hasen in diesem Spiel. Sie finanzieren die einfluss­­reiche Website Breitbart, und sie waren auch die Geldgeber hinter dem Big-Data-Propaganda­unternehmen Cambridge Analytica, das 2016 Millionen von Amerikanerinnen auf Facebook mit Pro-Trump-Werbung eindeckte. Parler ist also eine Art Social-Media-Zwerg mit dynastischem Segen.

Auf der Plattform trendet an diesem Tag der rechts­konservative Demagoge Dinesh D’Souza mit einem Link zu einem Interview über die Humor­losigkeit der Linken. So gut wie alle Kommentare sehen die Angelegenheit gleich wie er (die «Linken» seien alle verrückt, die USA würden nie sozialistisch werden). Bei einem der Kommentare mit den meisten Likes muss ich aber schlucken: D’Souza und sein Gesprächs­partner werden mit einem wüsten Ausdruck für Schwarze beschimpft (D’Souza ist indischer Herkunft). Der einzige kritische Einwand gegen den rechts­konservativen Post kommt also von einem Rassisten, der sich an der Haut­farbe des Autors stört.

Gab, Bitchute und 4chan, meine nächsten Alt-Tech-Stationen, lassen mich nach den Parler-Impressionen weiter staunen – und schaudern. Auf Gab trenden reihen­weise Anti-Corona-Posts sowie eine Fabulierung über den angeblichen Wahl­betrug gegen Trump. Aufgeschrieben hat sie der rechts­nationalistische Breitbart-Alumnus Milo Yiannopoulos, der von Twitter und Facebook geflogen ist und nun auf Gab ein neues Zuhause gefunden hat. Die User spekulieren in Milos Post, dass die linken Marxisten am Werk sein müssen – und vor allem die «Globalisten». Für Unwissende mag dies nach Globalisierungs­kritik klingen; doch der Begriff «Globalist» ist eine antisemitische dog whistle, eine diskursive Hunde­pfeife: Eingeweihte wissen, dass «Globalisten» ein Code­wort für Juden ist.

Auf Bitchute werde ich von Videos überrollt, in denen vor den giftigen Corona-Impfungen und der grossen Corona-Verschwörung gewarnt wird. Viele User in den Kommentaren sind sich sicher: Dahinter stecken die Juden («JEW FLU» ist einer der harmloseren Posts). Auf 4chan geht dieser Corona-Anti­semitismus weiter. In mehreren Diskussionen halten die User fest, dass die Juden die Pandemie inszeniert hätten. In einer anderen grossen Diskussion zelebrieren User die Tötung des Afro­amerikaners Daunte Wright durch die Polizei: Egal, warum er tot sei, Haupt­sache, einer von ihnen sei tot.

Die Corona-Verschwörungs­theorien und die Welle des schieren Hasses auf Jüdinnen und Schwarze, die mich am ersten Tag des Selbst­versuchs überrollen, schnüren mir die Luft ab. Ich hatte gehofft, dass diese Orte im Internet, wo Leute ihre «freie Meinung» äussern dürfen, eine Art belustigende, aber insgesamt harmlose Freak­show sind. Schon jetzt wird mir aber klar: Zu lachen gibt es hier nichts.

Tag 2: Die Schock­starre lässt nach

An Tag 1 wurde ich kalt erwischt. Den zweiten Tag trete ich darum innerlich gewappnet an: Ich hoffe auf das Beste, rechne aber mit dem Schlimmsten.

Auf Parler trenden erneut Corona-Verschwörungs­theorien. Bei Bitchute erfreuen sich auch zahlreiche QAnon-Videos über Donald Trump grosser Beliebtheit: Dieser stehe kurz davor, die grosse Säuberungs­aktion gegen den «Deep State» und die pädophilen Demokraten doch noch durch­zuführen. Userinnen in den Kommentaren finden das spitze – und mutmassen lautstark, was das eigentliche Problem ist: wenig überraschend wieder «die Juden». Auf 4chan wird eine Familie gefeiert, die Restaurant­gäste mit Gesichts­maske aus dem Restaurant schmeisst. Diese Zivil­courage wünschen sich die User auch in anderen Fragen, etwa falls Schwarze oder Jüdinnen im Restaurant auftauchen sollten.

Auf Gab trendet ein Post des Gab-CEOs Andrew Torba, in dem er besorgt über white flight berichtet: Viele Weisse würden weg aus Städten und raus aufs Land flüchten. Torba spricht nicht explizit aus, was er damit meint, aber in den über 400 Kommentaren werden die Karten auf den Tisch gelegt: Weisse würden vor kriminellen Schwarzen flüchten, die die Städte «überfluten», dagegen helfe nur «weisser Nationalismus und Faschismus».

Torba hat die Plattform 2016 mit dem türkischen Programmierer Ekrem Büyükkaya gegründet. Nach aussen wird Gab als Bastion der freien Meinungs­äusserung und des freien Informations­flusses verkauft. Anders als bei Parler stehen hinter Gab keine finanz­starken Investoren, sondern nur der Eifer einer Community, die die «linken» Plattformen Twitter und Facebook und ganz allgemein alles «Linke» schlecht findet.

Finanziert wird Gab ausschliesslich durch Zuwendungen der Nutzerinnen. Und von diesen gibt es immer mehr: Im April 2020 verzeichnete Gab rund 1,1 Millionen User; knapp ein Jahr später waren es schon über 4 Millionen. Die breitere Öffentlichkeit wurde erstmals 2018 auf die Plattform aufmerksam, als bekannt wurde, dass ein rechts­extremer Massen­mörder seinen Anschlag auf eine Synagoge auf Gab angekündigt hatte.

Ein anderer Post, der heute auf Gab trendet, ist ein Screen­shot eines Breitbart-Artikels über Desegregation amerikanischer Vorstädte mit der Bemerkung: «Ihr wisst, wohin das führt, oder?» Die Userinnen in den Kommentaren wissen es. Und wer steckt dahinter? Natürlich die Juden. Joe Bidens Kabinett bestehe schliesslich zu über 80 Prozent aus Jüdinnen, erleuchtet mich einer der Top-Kommentare.

Der Tenor bleibt am zweiten Tag meiner Expedition insgesamt derselbe; das Alt-Tech-Menü ist moralisch mindestens so abstossend wie am Vortag. Aber ich merke: Nach dem gestrigen Sprung ins kalte Wasser verkrafte ich die Inhalte eigentlich ganz gut. Der Hass hat seinen Schock­effekt verloren.

Tag 3: Der Video-Wahn

An Tag 3 verfestigen sich die Muster. Auf Parler trenden wie gehabt Corona-Fake-News und Verschwörungs­theorien. Auf Gab sind Posts über Black-Lives-Matter-Proteste beliebt. Auf 4chan echauffieren sich die User erneut über Corona-Impfungen.

Auf Bitchute ergiessen sich heute erneut Dutzende Videos über mich, die einerseits Corona-Verschwörungs­theorien verbreiten und andererseits frisches Trump-QAnon-Futter liefern. Der Antisemitismus in den Videos und den Kommentaren schwingt für mich mittler­weile wie Fahrstuhl­musik mit: so omnipräsent, dass ich ihn nicht mehr besonders wahrnehme.

Bitchute wurde 2017 vom Briten Ray Vahey als Alternative zu Youtube gegründet, auf der so gut wie alles erlaubt ist; ein vermeintliches Paradies der freien Meinungs­äusserung. Im Vergleich zum grossen Bruder Youtube, wo täglich über eine Milliarde Stunden Videos angesehen werden, mögen die rund 300’000 Views pro Tag auf Bitchute zwar nach Video-Beigemüse aussehen. Bitchute profiliert sich dafür auf andere Art und Weise.

Auf Druck von Werbe­kunden betreibt Youtube in den letzten Jahren verstärktes deplatforming: QAnon-Verschwörungs­­theorien, Corona-Fake-News, Aufwiegelung, Hass­videos und Gewalt­aufrufe werden vermehrt gelöscht. Ray Vahey hat dies als Chance erkannt und Bitchute aktiv als Refugium für diese Art von extremen Contents gestaltet.

Bitchute als Auffang­becken für Youtube-Extremistinnen ist ein Beispiel für den soziologischen Befund, dass das Online-Hass-Ökosystem sehr widerstands­­fähig ist. Wenn hasserfüllte, rassistische, faschistische Inhalte von einer Plattform vertrieben werden, verschwinden diese Ansichten und die User, die sie hegen, nicht automatisch aus der Welt. Statt­dessen suchen sie sich neue Platt­formen, auf denen sie ihrer Ideologie ungestört frönen können. Ein Katalysator in diesem Prozess können Influencerinnen sein, die ihre Gefolgschaft auf die neuen Platt­­formen locken. Schlag der Hydra den Kopf ab, und zwei neue wachsen nach.

Diese Dynamik, die ich auf Bitchute ganz unmittelbar spüre, bringt mich ins Grübeln. Ist es schlau, dass die grossen Platt­formen unilateral entscheiden, was problematische Inhalte sind und wie mit ihnen umgegangen wird?

Auch vermeintlich unabhängige Experten­gremien wie Facebooks «Oversight Board», das kürzlich entschieden hat, Donald Trump weitere sechs Monate zu sperren, sind keine Lösung für das Problem der Willkür bei solchen Entscheidungen. Wenn Platt­formen unilateral durchgreifen, schürt das Misstrauen und kann den Eindruck erwecken, dass unliebsame Meinungen durch dunkle Kräfte «zensiert» werden; Experten­gremium als PR-Feigen­blatt hin oder her.

Tag 4: Anti­semitismus als Antwort auf alle Fragen

Halbzeit. Nach den ersten drei Tagen Alt-Tech-Schnell­bleiche atme ich kurz durch. Mittlerweile weiss ich, was mich erwartet, wenn ich wieder in diese Welten eintauche.

Auf Parler trenden Posts zu Corona-Massnahmen, auf Gab Kritik an Black Lives Matter, und auf Bitchute erfreuen sich neue Videos zu Trump und QAnon sowie zu Corona-Impf-Verschwörungs­theorien grosser Beliebtheit.

Auf 4chan ist das Themen­spektrum heute etwas breiter. Zunächst lese ich in Diskussionen über Black-Lives-Matter-Proteste mit. Der Hass gegen Schwarze (die im Fernsehen 24 Stunden am Tag rumjammern und Reparationen fordern würden) und gegen Juden, die hinter den Protesten steckten (sie hätten die Weissen dazu gebracht, sich selber zu hassen), fällt wie gewohnt maximal entmenschlichend aus.

Eine Diskussion über den Ufo-Verschwörungs­theoretiker Bob Lazar zaubert mir, einem Fan von Filmen und Serien über Ufos, dann doch noch ein Lächeln ins Gesicht. Die Userinnen diskutieren, ob Lazar mit seinen Ausführungen über geheime US-Regierungs­programme recht hat. Das Lächeln vergeht mir aber, als ich in einem Kommentar lese, Ufos seien lediglich eine jüdische Lüge.

4chan ist der Grossvater der Alt-Tech-Plattformen. Im für Internet­verhältnisse fernen 2003 schuf der damals 15-jährige Christopher Poole 4chan als englisch­sprachigen Klon japanischer Image­boards. Image­boards sind eine Art offenes Diskussions­forum, bei dem Nutzer anonym sind und zum Starten einer Diskussion ein Bild posten müssen. Pooles Vision für 4chan war ein Ort freier Diskussionen, ohne all die mühsamen Regeln und Netiquettes, die es auf anderen Platt­formen gab.

Im Jahr 2015, als 4chan schon mehrere Jahre ein Kristallisations­punkt reaktionär-rassistischer Ideologien war, verabschiedete sich Poole von seiner Kreation. Er konnte die hasserfüllte Büchse der Pandora nicht mehr schliessen. Seither leitet der japanische Internet-Entrepreneur Hiroyuki Nishimura die Seite. Auf 4chan wird, wie auf den anderen Plattformen, weitgehend Englisch gesprochen, und der regionale Bezug ist stark angel­sächsisch. Doch die Userinnen auf dem Board /pol/ sind durchaus international gemischt. Gemäss dem 4chan-Archiv «4plebs» werden pro Jahr über eine Million Posts aus Deutschland, über 160’000 Posts aus Österreich und über 110’000 Posts aus der Schweiz abgesetzt.

Eine der grössten Diskussionen des Tages ist denn auch ein europäisches Thema: der Berliner Mieten­deckel, der tags zuvor vom deutschen Bundes­verfassungs­gericht als verfassungs­widrig erklärt wurde. Ein Teil der User freut sich über das Urteil, weil sich Linke darüber so richtig köstlich aufregen würden. Andere Userinnen kritisieren, dass das Urteil ein Sieg für die Juden sei (die ja schliesslich alle Wohnungen besitzen würden).

Egal, worum es geht – das Problem sind offenbar immer die Juden.

Tag 5: Abstumpfung

Das Programm bleibt am fünften Tag ziemlich dasselbe wie in den Tagen zuvor. Corona-Verschwörungs­theorien, Trump-QAnon-Verschwörungs­theorien, Hass gegen Schwarze und Jüdinnen. Eine Veränderung bemerke ich heute aber doch – und zwar in meinem Kopf.

Das, was mich in den ersten Tagen so schockiert hat, ist mittler­weile fast Routine geworden. Von der bestenfalls stramm rechts­konservativen Sicht der Dinge über irrwitzige Verschwörungs­theorien bis hin zu offenem faschistoidem Hass: Ich scheine mich langsam an die Dinge zu gewöhnen.

Meine Erfahrung wird in der Forschung zu Online-Radikalisierung als eine Kombination von Habituation und Desensibilisierung beschrieben. Das, was ich erlebe, ist zwar nach wie vor moralisch verwerflich – es geht nicht zuletzt um blanken Hass –, aber meine emotionale Reaktion darauf nimmt an Intensität ab. Dahinter steckt ein psychologischer Schutz­mechanismus: Würden wir uns emotional nicht an schlimme Dinge gewöhnen, würden wir unablässigen Stress und möglicher­weise folgen­schwere Traumata erleben.

Ich erlebe nun die Kehrseite dieses Gewöhnungs­effekts. Die hässlichen Inhalte, denen ich ausgesetzt bin, wirken auch auf einer diskursiven Ebene Schritt für Schritt akzeptabler und normaler. Wenn ich dutzend­fach lese, dass Schwarze und Juden keine richtigen Menschen sind, entsteht irgend­wann unweigerlich der Eindruck, dass diese Meinung und diese Art des Denkens über andere Menschen vielleicht zwar immer noch problematisch, aber doch grundsätzlich zulässig sind. Analytisch verstehe ich nach wie vor, warum dieser Hass moralisch falsch und irrational ist, aber rein emotional bewegt er mich nicht mehr ganz so wie zu Beginn.

Tag 6: Selbst­zweifel keimen auf

Den vorletzten Tag meiner Reise durch die Alt-Tech-Platt­formen beginne ich mit der verzweifelten Kraft des Marathon­läufers, der zum Endspurt ansetzt. Ich möchte dieses Experiment bald abschliessen, denn ich merke: Die Sache nagt nicht nur moralisch, sondern auch epistemisch an mir – ich beginne an Dingen zu zweifeln, an denen es eigentlich nichts zu zweifeln gibt.

Heute trenden auf den Plattformen erneut Impf-Verschwörungs­theorien. Die Pandemie sei harmlos oder erfunden, und die Corona-Impfungen seien nicht nur nutzlos, sondern gefährlich: Gift, das gegen die Bevölkerung eingesetzt wird. Ein diabolischer Plan – sie wissen schon, von wem –, um die weisse Rasse zu schädigen.

Das ist, rational gesehen, völliger Quatsch. Das weiss ich. Aber trotzdem hinterlässt die nunmehr sechs Tage andauernde Bombardierung mit Fake News und Verschwörungen ihre Spuren. Ich beginne mich zu fragen, ob mit den Impfungen vielleicht doch etwas nicht stimmen könnte. So viele Userinnen und so viele externe Quellen warnen mit so viel Hingabe und Inbrunst davor – kann ich mir wirklich sicher sein, dass meine Sicht der Dinge korrekt ist? Verstehe ich die Wissenschaft hinter den Impfungen wirklich, oder plappere ich einfach nach, was andere mir einflüstern? Könnte es sein, dass ich, wie auf den Alt-Tech-Plattformen immer und immer wieder erklärt wird, ein Opfer perfider Impf­propaganda geworden bin? Ich bin mir irgendwie nicht mehr ganz sicher. Meine ehemals klaren Ansichten zu den Covid-19-Impfungen verschwimmen in einem Ozean «alternativer Fakten».

Die Erosion gut begründeter Über­zeugungen durch die stete Berieselung mit Fake News, die ich erlebe, ist in der Kognitions­­psychologie als Illusory Truth Effect bekannt. Je öfter wir einer Information ausgesetzt sind, desto stärker glauben wir, dass die Information wahr ist. Und zwar auch dann, wenn wir eigentlich wissen, dass es sich um kompletten Bullshit handelt. Der stete Desinformations-Tropfen höhlt auch den härtesten kognitiven Stein.

Doch damit nicht genug. Auch wenn ich künftig zum Thema Impfen wieder seriöse, wissenschaftlich fundierte Quellen konsultiere, lässt sich der angerichtete Schaden nicht ganz rückgängig machen. Fehl­informationen hinter­lassen in unseren Köpfen eine hartnäckige Silhouette, die unser Denken und Handeln langfristig verzerrt. Dieser lange Schatten falscher Informationen wird als Continued-Influence-Effekt bezeichnet.

Meine Zweifel an Corona-Impfungen machen mir bewusst, dass ich die Rollen in meinem Selbst­versuch falsch gedacht habe. Ich bin nicht der neutrale Beobachter, der von aussen einen Blick auf Alt-Tech-Plattformen wirft. Sondern ein naives Versuchs­kaninchen, das nicht damit gerechnet hat, dass seine Über­zeugungen so einfach ins Wanken geraten könnten.

Liesse sich dieser Hahn an Falsch­informationen nicht einfach zudrehen – die Alt-Tech-Plattformen schliessen? Wahrscheinlich nicht, wie das Beispiel 8chan zeigt. 8chan ist ein 4chan-Klon, bei dem es noch eine Stufe zügelloser und extremistischer zu und her geht. Im Zuge starker öffentlicher Kritik an 8chan – mehrere rechts­extreme Massen­mörder haben dort ihre Manifeste veröffentlicht – hatten Internet­provider 2019 die Zusammen­arbeit mit 8chan gekündigt, und die Plattform ging offline. Doch nur wenige Monate später feierte 8chan unter dem Namen 8kun ein grandioses Comeback – und fand dank des sogenannten Streisand-Effekts (viele Medien auf der ganzen Welt berichteten nur aufgrund dieses Katz-und-Maus-Spiels überhaupt über 8chan und 8kun) womöglich ein noch grösseres Publikum als zuvor.

Tag 7: Kapitulation

Die utopischen Hoffnungen, die in den 1990er-Jahren mit dem damals jungen World Wide Web verbunden wurden, haben sich ein Stück weit bewahrheitet. Social-Media-Plattformen sind tatsächlich eine Art digitale Agora geworden: Wir alle können so einfach wie noch nie am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Gleichzeitig sind wir eingeklemmt zwischen zwei Dystopien: hier der überwachungs­kapitalistische Albtraum von Big Tech, dort die hasserfüllte Radikalisierungs­maschine von Alt-Tech.

Gibt es einen dritten Weg? Ein Modell für Social Media, wo nicht Profit oder das Zelebrieren von Hass im Fokus stehen, sondern der konstruktive Austausch in einer aufgeklärten Gesellschaft – eine Art «Democratic Tech»?

Versunken in diese Gedanken trete ich den letzten Tag meiner Reise an – und lande sogleich auf dem harten Boden der Alt-Tech-Welt. Erschöpft und resigniert stelle ich fest, dass ich zwar weiss, was mich erwartet, es mich aber nicht mehr wirklich berührt. Die Verschwörungs­theorien, der Rassismus, der Antisemitismus, der Hass – das ist meine neue Normalität.

Parler ist an diesem Sonntag offline. Doch auf Gab und Bitchute werde ich mit der gewohnten Dosis Hass überschwemmt (wer sterben muss, wer schuld ist, wer die Weissen kaputt­macht – die Sätze sind neu, der Inhalt derselbe). Es spielt gar keine Rolle, was der konkrete Anlass ist (Black-Lives-Matter-Proteste, Trump-QAnon-Videos, Corona-Verschwörungs­theorien) – der Hass ist das Ziel.

Meine Reise schliesse ich auf 4chan ab. Die grösste Diskussion des Tages: eine sonntägliche Zelebrierung des National­sozialismus unter dem Titel «National Socialism General». Aber natürlich, denke ich müde. Das muss die offen­sichtliche Krönung des reaktionären Wahnsinns sein, den ich eine Woche lang erlebt habe.

Der Ton der Diskussion fällt aber anders als erwartet aus. Für einmal wird nicht gegen Juden, gegen Schwarze, gegen Frauen gehetzt. Stattdessen melden sich Hunderte von Userinnen in einer lockeren, freundlichen, ja fast heiteren Runde zu Wort. Und sie posten sehr viele Bilder. Von Adolf Hitler, von anderen hochrangigen NS-Angehörigen, von Propaganda­postern aus dem Dritten Reich. Darauf sind gestählte Körper, intakte Familien und starker Wille zu sehen. Die Diskussion ist eine Art Wohlfühl­runde, der National­sozialismus erfährt eine gemütliche, behagliche Ästhetisierung.

In dieser Diskussion, geschwächt durch den Alt-Tech-Schleuder­gang der vergangenen Tage und nun betäubt durch geballte Feelgood-Nazipropaganda, beginne ich, sie zu spüren: die sanfte Nostalgie nach einer «besseren» Welt. Einer Welt, in der es noch klare Hierarchien, klare Rollen, ein klares Grosses und Ganzes zu geben schien. In der «die anderen» nicht alles kaputtgemacht haben. Für ein paar Momente vergesse ich den bestialischen Hass, um den es hier eigentlich geht, und nehme stattdessen an der bitteren Sehnsucht der User teil.

Die radikalisierende Zermürbung in der Alt-Tech-Welt, der ich die letzten sieben Tage ausgesetzt war, gipfelt in einem Moment, wo mir das, was diese Leute wollen, gar nicht mehr so schlimm vorkommt.

Höchste Zeit, das Experiment zu beenden.

Zum Autor

Marko Kovic schreibt, podcastet und forscht zu gesellschaft­lichem Wandel. Nach dem Studium der Politik­wissenschaft hat er in Kommunikations­wissenschaft promoviert, sich erfolglos in der Unternehmens­beratung versucht und schliesslich seine Leidenschaft für Gesellschafts­kritik entdeckt. Er lebt in Zürich.