Einmal China, bitte
Mit ihrem «Wuhan Diary» ist die Autorin Fang Fang weltberühmt geworden. Nun wird ihr Roman «Weiches Begräbnis» als das grosse China-Erklärbuch inszeniert. Ist er das?
Von Lea Schneider, 11.05.2021
Ein einziges Buch lesen und damit 1,4 Milliarden Menschen, 5000 Jahre Kulturgeschichte und eines der widersprüchlichsten politischen Systeme der Gegenwart begreifen?
«Wer China verstehen will, sollte diesen Roman lesen» – so bewirbt der Verlag die deutsche Übersetzung des Romans «Weiches Begräbnis» der chinesischen Autorin Fang Fang. Man kann das als klares Angebot verstehen, ein sehr europäisches Bedürfnis zu befriedigen: sich bitte so wenig wie möglich mit China beschäftigen zu müssen – und doch möglichst viele einfache Antworten zu bekommen.
Die europäische Haltung zu China hat eine lange, oft unrühmliche Geschichte: Da ist ein jahrhundertelang eingeübter Eurozentrismus, verbunden mit der Exotisierung Chinas als dem «grossen Anderen», dem Gegenmodell zu Europa. Seit Beginn der Aufklärung prägt diese Sichtweise grosse Teile der europäischen Geistesgeschichte – von Kant über Hegel bis zu Badiou.
Gegen Pauschalisierungen hilft am besten, auf den Einzelfall zu gehen und diesen genau zu betrachten.
Zum Beispiel die Biografie von Fang Fang. Sie wurde im vergangenen Jahr international bekannt durch ihr «Wuhan Diary», eine Sammlung ihrer Blogeinträge während des ersten Lockdowns in ihrer Heimatstadt.
Die 1955 geborene Autorin hat durchaus eine Nähe zu Verwaltungsstrukturen und Machtpositionen. Zwar ist sie nicht Mitglied der Kommunistischen Partei, sie arbeitete aber viele Jahre lang für einen staatlichen Fernsehsender und später für den ebenfalls staatlichen Schriftstellerverband. Dieser ist unter chinesischen Autorinnen und Intellektuellen sehr umstritten, steht er doch für die Durchsetzung der offiziellen Propagandarichtlinien der Regierung – und damit für ein von Zensur und extremer Konventionalität geprägtes Literaturverständnis.
Zugleich aber ist Fang Fang eine Autorin, die dafür bekannt ist, in ihren Büchern äusserst kritisch die soziale Ungleichheit und die ideologischen Widersprüche der Volksrepublik zu analysieren. Dabei drängt sie immer wieder auf die Aufarbeitung der zahlreichen nationalen Traumata des chinesischen 20. Jahrhunderts, die im offiziellen Diskurs ausgeklammert und zensiert werden, weil ihre Ursachen zumeist in katastrophalen Fehlern der Parteiführung liegen.
Komplex, veränderbar und widersprüchlich
«Für unsere Geschichte darf es kein weiches Begräbnis geben», sagt Fang Fang in einem breit rezipierten Interview zu ihrem Roman, der im Original 2016 erschien. «Weiches Begräbnis» bezeichnet eine Bestattung, bei der der Leichnam aus Zeit- oder Geldmangel ohne Sarg und ohne Zeremonie in der Erde verscharrt wird – im übertragenen Sinne meint der Begriff das Begraben der eigenen Vergangenheit im Schweigen, in Tabus und Zensur.
Für den Roman erhielt Fang Fang eine Reihe wichtiger, prestigeträchtiger Auszeichnungen. Fast zeitgleich wurde die Autorin – in der von Chinas aktuellem Präsidenten Xi Jinping seit einigen Jahren angeheizten nationalistisch-chauvinistischen Stimmung – zum Angriffsziel einer ganzen Armee von Internettrollen. Sie wurde mit Hasskommentaren und rufschädigenden Gerüchten überzogen – häufig gespickt mit Frauenhass.
Fang Fangs Leben und Arbeit zeigen, wie falsch einfache Schwarz-Weiss-Wahrheiten über China sind.
China ist ein autoritäres Regime ohne Pressefreiheit, aber kein Terrorstaat wie Nordkorea. China ist ein Land voller Graswurzelbewegungen und NGOs, die sich für Umweltschutz, für LGBT-Rechte oder soziale Gerechtigkeit einsetzen; ein Land, das eine reiche Tradition an Formen des alltäglichen Mikrowiderstands besitzt. In chinesischen Universitäten und im chinesischen Internet finden, trotz aller Bemühungen der Zensurbehörde, engagierte politische Diskussionen statt – zum Beispiel, indem immer wieder humorvolle Wege gefunden werden, «sensible» Worte durch Geheimcodes und -sprachen an der Zensur vorbeizuschmuggeln.
Autoren wie Liao Yiwu oder Yang Lian, die in Europa als Dissidenten gefeiert werden, sind in China gänzlich unbekannt; Dissidentinnen, die in China wirklich aktiv sind, kennt wiederum in Europa niemand – und viele Mitglieder der Kommunistischen Partei sehen diese durchaus kritisch und versuchen sie von innen zu verändern.
Zugleich ist China ein Land, das in seiner jüngsten Geschichte immer wieder die Erfahrung gemacht hat, wie schnell ideologische Sicherheiten sich in Luft auflösen können; wie schnell Worte (wie etwa die Bezeichnung «Kapitalist», wir kommen darauf zurück) ihre Bedeutung grundlegend ändern können. Ein Land, das in seiner Komplexität, in seinem permanenten Wandel und seiner Widersprüchlichkeit auch für seine Bewohnerinnen so aufregend wie anstrengend, aber eben nur sehr selten «zu verstehen» ist.
«Wenn Ausländer China nicht verstehen», schreibt der vielleicht wichtigste Dichter der chinesischen Gegenwart, Xi Chuan, «dann liegt es meistens daran, dass sie eindeutige Antworten wollen. Chinesen verstehen China ebenso wenig, aber auf einer sehr basalen Ebene wollen sie das auch nicht. China ist nicht unverständlich, es enthält einfach mehr Selbstwidersprüche als sämtliche Chinatowns der Welt, und jedes unilaterale Denken wird Schwierigkeiten haben, ein solches Land zu verstehen.»
Touché.
Niemand kann China durch die Lektüre eines einzigen Buchs «verstehen». Aber wenn es momentan einen in deutscher Übersetzung zugänglichen Roman gibt, der die Widersprüche der chinesischen Gegenwart ebenso differenziert und multiperspektivisch zeigt wie die Lebensrealität ihrer Bewohner; einen Roman, der uns Chinesinnen als ganz normale Menschen mit all ihren Ambivalenzen, Bedürfnissen, Alltagssorgen, Lieblingsgerichten, Familienstreitereien und Haustieren nahebringt – dann ist es Fang Fangs «Weiches Begräbnis».
Im Kern ist dieser Roman ein Buch über die Volatilität ideologischer Systeme und ihrer Begriffe, die das 20. Jahrhundert in China geprägt haben wie nirgendwo sonst.
Das Buch erzählt die Geschichte von Ding Zitao, einer jungen Frau, die Ende der 1940er-Jahre, während der Unruhen der kommunistischen Landreform, die Millionen Menschen das Leben kosteten, aus einem Fluss in der zentralchinesischen Provinz Sichuan geborgen wird. Sie überlebt, verdrängt aber jede Erinnerung an ihr bisheriges Leben – auch, weil die namenlose Bedrohung, vor der sie geflohen ist, latent bestehen bleibt.
Viele Jahre später, in der Gegenwart, beschenkt ihr soeben beförderter Sohn Wu Qinglin sie mit einem Altersruhesitz. Doch der neue Reichtum löst bei Ding Zitao keine Freude aus, sondern eine unerklärliche, panische Angst. Als sie ihren Sohn fragt, ob er nicht befürchte, dass man ihn als «Grossgrundbesitzer» einstufen, enteignen oder töten werde, reagieren Qinglin und sein ebenfalls anwesender Chauffeur mit verständnislosem Lachen. «Direktor Wu gehört nun mal zu den Grossgrundbesitzern und Kapitalisten», erklärt der Chauffeur des Sohnes belustigt.
Es sind Stellen wie diese, an denen Fang Fang eine geradezu paradigmatische Charakterisierung der chinesischen Gegenwart gelingt: Identitätslabels (wie «Kapitalist»), die für die Mutter noch so unmittelbar lebensbedrohlich waren, dass sie sie gänzlich verdrängen musste, sind für den Sohn ein Quell des Stolzes – und das absurderweise, ohne dass das politische System oder die regierende Partei in der Zwischenzeit ausgetauscht worden wären. Es ist das System selbst, das einen derartig heftigen, aber unausgesprochenen ideologischen Umbruch vollzogen hat.
Die Geister bleiben
Fang Fang erzählt die gewaltvolle Geschichte dieser Umbrüche in mehreren, parallel montierten Erzählsträngen, die miteinander verbunden sind, sich aber nie direkt treffen. So bleibt eine tatsächliche Aufklärung für die Protagonisten aus, während die Leserin sie sich nach und nach zusammensetzen kann. Diese Erzählstruktur liest sich immersiv, zunehmend unheimlich und sehr differenziert zugleich.
Durch den ständigen Wechsel zwischen der Erinnerungsarbeit Ding Zitaos, den Nachforschungen ihres Sohnes Qinglin in Sichuan und dem immer wieder mit den beiden verflochtenen Schicksal der Funktionärsfamilie Liu entstehen Tempo und Mehrdimensionalität. Unterwegs räumt Fang Fang mit zahlreichen Propagandamythen der chinesischen Geschichtsschreibung auf, etwa wenn Politkommissar Liu Jinyuan über seine Beteiligung an der Revolution sagt:
Wirklich und wahrhaftig, angetrieben hat uns der Wunsch, nach Hause zurückkehren und ein anständiges Leben führen zu können. Glauben Sie ernsthaft, wir wollten die Menschheit befreien? Das denken intellektuelle Städter. Aber die meisten von uns waren Bauern, wir kamen aus den Dörfern direkt an die Front. An der Revolution haben wir uns beteiligt, um ein vernünftiges Leben zu haben und nicht von Grossgrundbesitzern geschunden zu werden.
Hier wird nicht einfach die Kommunistische Partei verdammt; genauso wenig wird ihre Propaganda reproduziert. Fang Fang beschreibt die sinnlosen Gewaltverbrechen der Landreform anhand der erschütternden Geschichte einer ermordeten Grundbesitzerfamilie, lässt aber auch einen Dorfbewohner zu Wort kommen, der fragt:
Wie ist denn die Familie zu ihrem Reichtum gekommen? Opium habt ihr verkauft und seid damit fett und frech geworden.
So erlaubt sie unterschiedlichen Meinungen, neben- und gegeneinander zu sprechen, ohne eine als einzig richtige darzustellen. Die Figuren von Fang Fang kritisieren den gegenwärtigen Technokratismus in China ebenso wie das Auslöschen von traditionellem Wissen durch die Kulturrevolution in den 1960er-Jahren, eine maoistische Kampagne von den Ausmassen eines Bürgerkriegs, die grosse Teile der chinesischen Kulturgüter und -praktiken zerstört hat und deren Nachwehen bis heute anhalten.
Genauso offen wie die historischen Planungsfehler der Kommunistischen Partei und deren katastrophale Folgen thematisiert Fang Fang die unfassbare Armut, den ausbeuterischen Feudalismus und den brutal patriarchalen Alltag, welche die chinesische Gesellschaft vor der Revolution prägten; zu einer Zeit, in der ein Clanoberhaupt den Selbstmord seiner ganzen Familie anordnen konnte, wenn es seine «Ehre» bedroht sah. Und in der für die Angehörigen der Adelsschicht völlig klar war: «Arme und Reiche werden niemals gleichberechtigt sein. Wann hätte es das jemals gegeben?»
Das titelgebende «weiche Begräbnis» und die Schilderungen, wonach an den Orten, wo es stattgefunden hat, immer wieder Geistererscheinungen stattfinden, lassen sich entsprechend allegorisch lesen. Geister sind im chinesischen Alltagsdiskurs keine Seltenheit; sie gehören für die allermeisten Menschen, unabhängig von sozialer Klasse oder Bildungsgrad, ganz selbstverständlich zum Weltbild.
Mehrere Figuren in Fang Fangs Roman betonen, ein weiches Begräbnis schliesse eine Wiedergeburt aus, sorge also dafür, dass die Verstorbenen als Geister den Ort heimsuchen, an dem ihnen Unrecht geschehen ist. Das lässt sich auch als Aussage über die nicht vorhandene Vergangenheitsbewältigung in der Volksrepublik verstehen. Ohne Gespräch über die Vergangenheit, das macht Fang Fang deutlich, gibt es keine Bewältigung der Gegenwart. Die Geister bleiben.
Fang Fang urteilt nicht. Sie forscht.
Die Autorin macht Grauzonen sichtbar, und sie enttabuisiert das Gespräch zwischen den Generationen. Sie zeichnet ihre Figuren nicht als Heldinnen, sondern als Überlebende – mit allen Ambivalenzen, die diesen Status ausmachen. Zum Beispiel Wu Qinglin, der sich vor allem durch einen geradezu angeborenen Pragmatismus auszeichnet und von sich selbst sagt:
Ach ja, ich gehöre nun mal nicht zu denen, die direkt und wagemutig der Wirklichkeit ins Gesicht sehen. (…) Solche Durchschnittstypen wie ich leisten keinen Widerstand.
Sein bester Freund wird ihm entgegenhalten: «Du brauchst die Wahrheit nicht, aber die Geschichte verlangt sie.»
Oder Liu Jinyuan, von dem es, sehr metaphorisch, heisst, sein Magen «käme mit Nord und Süd gleichermassen gut zurecht, er sei aufnahmebereit für alles, ein offener und grossmütiger Magen, das perfekte Abbild der Reformpolitik», die China von den 1980er-Jahren bis zum Amtsantritt Xi Jinpings prägte.
Michael Kahn-Ackermann, der im vergangenen Jahr schon Fang Fangs «Wuhan Diary» übersetzte, hat ihr Chinesisch in ein fliessendes Deutsch verwandelt, das sich stellenweise ein wenig altbacken liest: vor allem dann, wenn die Figuren selbst sprechen.
Das rührt wohl daher, dass Fang Fangs Figuren sich auf eine gewisse Art sehr chinesisch ausdrücken: Sie nutzen die enorme Kapazität für Wortspiele, verdrehte Sprichwörter und ironische Kosenamen, die dem Chinesischen auch in seinen alltäglichsten Varianten eigen ist und deren hemdsärmeliger Humor oft nur schwer ins Deutsche übertragbar ist. Der Witz und die Nähe zur mündlichen Alltagssprache gehen in der Übersetzung ein wenig verloren.
Hervorragend gelingt es Kahn-Ackermann aber, den ruhigen, besonnenen Realismus von Fang Fangs Erzählsprache einzufangen. Zudem hat er den Text mit vielen hilfreichen Anmerkungen und einem sehr lesenswerten, informativen Nachwort versehen, das die Ereignisse des Romans, aber auch die Autorin Fang Fang und ihr Werk im politischen und literarischen Diskurs der Volksrepublik verortet.
Und so hat man nach der Lektüre von «Weiches Begräbnis» zwar nicht China verstanden – aber vielleicht, warum dieses Verstehenwollen im Sinne einer einfachen «Erklärung» problematisch ist.
Denn wenn man eins von chinesischen Schriftstellerinnen wie Fang Fang lernen kann, dann ist es ein gesundes Misstrauen gegenüber ideologischen Eindeutigkeiten jeglicher Art; ein ethisch motiviertes Interesse für die Ambivalenzen des alltäglichen Überlebens in einem von Dogmen und Fanatismen geprägten Jahrhundert, das sich den üblichen Labels für chinesische Intellektuelle im europäischen Diskurs entzieht.
«Fang Fang ist keine Dissidentin», fasst es Michael Kahn-Ackermann in seinem Nachwort zusammen, «sie ist allenfalls eine streitbare Humanistin. Damit ist sie in China nicht allein.»
Fang Fang: «Weiches Begräbnis». Roman. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Hoffmann und Campe: Hamburg 2021. 448 Seiten, ca. 36 Franken.
Lea Schneider lebt als Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin chinesischer Gegenwartsliteratur in Berlin. Sie ist die Übersetzerin und Herausgeberin von «CHINABOX. Neue Lyrik aus der Volksrepublik» (2016), einer Sammlung aktueller chinesischer Dichtung. 2020 erschien «made in china», ein Band mit lyrischen Essays, die im Streifzug durch sechs chinesische Städte von Freundschaft, Büchern und Sprache erzählen.