Sophie Scholl?

Nachdenken über die deutsche Widerstandsikone – in 119 Fragen anlässlich ihres 100. Geburtstags.

Von Lukas Bärfuss (Text) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustration), 08.05.2021

Was kann man von Sophie Scholl lernen? Oder anders gefragt: Was kann ich von Sophie Scholl lernen? Oder noch einmal anders gefragt: Was kann ich von Sophie Scholl heute lernen? Hat sich die Lektion, die ich von Sophie Scholl vor zwanzig Jahren hätte lernen können, mittler­weile erübrigt? Oder ist sie im Gegen­teil wichtiger, noch essenzieller, unverzicht­barer geworden?

Und durch welches Ereignis, durch welche Entwicklung hätte sich die Bedeutung vermindert oder vergrössert? Ist es möglich, dass sich ihre Bedeutung durch den Zeitgeist verändert? Oder ist dies ein Fehl­schluss und das Beispiel der Sophie Scholl, die am Sonntag, dem 9. Mai, erst hundert Jahre alt würde und damit jünger ist als etwa meine Gross­mutter, durch alle Zeiten hinweg unverändert gleich gültig?

Was wäre dann der bleibende, der unveränder­bare Teil ihres Vorbilds? Sind es die Briefe, die sie hinter­lassen hat? Sind es die sieben Flug­blätter, die sie verfasste, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Weissen Rose, mit ihrem Bruder Hans Scholl, mit Christoph Probst und Alexander Schmorell, mit Kurt Huber und Willi Graf, die wie Sophie allesamt zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden im Jahre 1943? Ist es die Tat des 18. Februar 1943 in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, die Unerschrockenheit, mit der sie den letzten Stapel des sechsten und letzten Flug­blattes in den Lichthof warf?

Sind es diese Worte, die «Freiheit und Ehre» reklamierten, nachdem Hitler und seine Schergen die beiden herrlichen deutschen Wörter bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht hatten, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen?

Ist es die Forderung, die Studentinnen und Studenten sollten nun endlich aufstehen, sich rächen und zugleich Sühne suchen, die Peiniger zerschmettern und ein neues, geistiges Europa aufrichten?

Ist dies das Beispiel?

Aber diese Sätze hat sie ja nicht alleine formuliert, das waren nicht nur ihre Worte, aber – da von allen Mitgliedern der Weissen Rose gerade Sophie Scholl und nicht der Universitäts­professor Kurt Huber und auch nicht der russisch­stämmige Alexander Schmorell zur Ikone wurde – was zeichnete sie vor diesen Männern aus?

Eben gerade dies: dass sie kein Mann war?

Gedenkt man Sophie Scholls, weil sie eine Frau war, jung und schön dazu? Traut man einer Frau diesen Widerstand weniger zu als Männern? Ist er bei Frauen ungewöhnlicher? Oder trifft genau das Gegenteil zu, und das Opfer war nur einer Frau möglich?

Braucht es die Unschuld, die Reinheit, die Unbedingtheit, die aus allen Bildern spricht, die wir von ihr kennen – das Bild von Sophie als Lesender mit dreizehn Jahren; Sophie mit Stift und Papier an der Iller im letzten Sommer vor dem Krieg, Juni 1938; Sophie mit ihrem Bruder Hans und mit Alexander Schmorell am Münchner Ost­bahnhof, beide in Uniform, vor der Verlegung an die Ostfront, am 23. Juli 1942, acht Monate vor ihrer Ermordung?

Liegt es an diesem Gesicht, in das wir Nach­geborenen unweigerlich den kommenden Opfertod hineinlesen – obwohl doch dieser gewiss nicht in seine Züge hinein­geschrieben war? Sagt dies nicht viel mehr über uns selbst, über unsere Bilder, Stereo­type und Vorurteile als über Sophie Scholl?

Wenn wir ihrer gedenken und die anderen Widerstands­kämpfer nicht erwähnen – tun wir ihr dann Unrecht?

Das sagt sich so leicht, ein Opfer­tod – aber was ist das überhaupt? Heisst es, dass Sophie Scholl sterben musste, damit etwas anderes leben konnte? Aber was könnte ich damit anfangen? Was könnte ein Mensch in einer post­heroischen Gesellschaft wie unserer mit diesem meta­physischen Prinzip anfangen?

In welcher Weise wurde die Weisse Rose dem Regime gefährlich? Und war sie gefährlich? Glaubte die NS-Führung an einen Domino­effekt? Hätte die Möglichkeit bestanden, dass die Studenten­schaft in München sich der Weissen Rose anschliesst? War das überhaupt das Ziel der Weissen Rose? Oder ging es nicht vielmehr darum, sich nicht schuldig zu machen, wie Sophie Scholl in einem Brief an ihren Verlobten schrieb? Das Opfer als egoistische Tat, um später, nach dem Zusammen­bruch, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden?

Aber was machen wir dann mit dem Brief, den Sophie Scholl ihrem Verlobten in die Schlacht von Stalingrad schickte und in dem sie sich von jeder Todes­mystik distanziert? Wie passt, da sie darauf bestand, dass Leben nur durch Leben entstehen könne, die Vorstellung des persönlichen Opfers in diese humanistische Logik?

Und falls Sophie Scholl zum Beispiel wird – ist es dann zulässig, das Beispiel abzulehnen, dem sie gefolgt ist, das Beispiel des Jesus von Nazareth? Wie also halten wir es mit der politischen Theologie? Oder anders gefragt: Wie kann es einem demokratischen Staat gelingen, sich ohne meta­physischen Unterbau zu rechtfertigen? Und welchen Sinn ergibt dann die christliche Heils­lehre, wenn man sie unpolitisch versteht?

Da die Weisse Rose im zweiten Flugblatt darauf hinweist, «dass seit der Eroberung Polens dreihundert­tausend Juden in diesem Land auf bestialische Weise ermordet worden sind», und damit die einzige Widerstands­organisation geblieben ist, die diese Frage überhaupt aufgeworfen hat – lag es am christlichen Glauben, dass die Weisse Rose als einzige auf die Ermordung der Juden hinwies?

Ist die Figur der Sophie Scholl als christliche Märtyrerin im Nachkriegs­deutschland die einzige, die nicht zwischen den ideologischen Mühlen zermalmt werden konnte? Welche Funktion nimmt die Konversion in ihrem Wider­stand ein, oder anders gefragt: Wurde der eine Fanatismus in den anderen Fanatismus überführt?

Wäre die Geschichte der Sophie nicht gerade die eines Menschen, der sich irrt, den Irrtum einsieht und in aller Konsequenz danach handelt? Ein privilegiertes Damaskus-Erlebnis als Narrativ, auf das sich eine zerstörte Nachkriegs­gesellschaft einigen kann?

Gehört also zur Widerstands­kämpferin Sophie Scholl nicht auch die National­sozialistin Scholl? Aber ist es zulässig, die Irrungen und Wirrungen einer adoleszenten jungen Frau in dieser Weise auf den Prüfstand zu stellen? Kann man ihr die Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel zum Vorwurf machen?

Und hat das Beispiel Sophie Scholls der Nachkriegs­gesellschaft nicht auch Gelegenheit gegeben, ihre eigene Feigheit und das Versagen im Angesicht des National­sozialismus zu verstecken?

Und findet die Frage, die uns ihr Beispiel auch stellt, die Frage: «Wärst du dazu in der Lage?», nicht insgeheim die millionen­fache und wohlfeile Antwort «Aber selbstverständlich!»?

Und übrigens: «damit etwas anderes leben konnte» – was könnte damit gemeint sein? Die Hoffnung? Der Glaube an das Gute? Dass der Mensch nicht durch und durch schlecht ist, trotz sechs Millionen ermordeter Juden, trotz Treblinka, trotz Auschwitz, trotz Sobibor, trotz der Sonder­einsatz­kommandos? Das Beispiel einer jungen Frau, um zu beweisen, dass nicht alles verloren ist für uns, mit uns, durch uns?

Und: Ist bedingungs­lose Hingabe, die Sophie Scholl ein Leben lang ausgezeichnet hat, eine politische Kategorie, nach der wir Zeit­genossen unser Handeln bemessen sollen? Oder wäre nicht gerade die Rationalität oder, um ein anderes Wort zu benutzen, die Vernunft der verlässlichere Massstab im Kampf gegen das Totalitäre? Müssten wir dann, als Zeitgenossen, nicht alles versuchen, um der Dialektik der Bedingungs­losigkeit zu entkommen? Ist es nicht genau diese Logik, die zur Radikalisierung der politischen Diskurse führt? Die Perspektivierung auf nur einen Flucht­punkt, in dem alle anderen Begriffe in einer Singularität aufgehoben werden? Wäre das nicht der erste Stein, den wir aus unseren Denk­gebäuden zu entfernen hätten, diese Sehnsucht nach Totalität, nach Widerspruchs­freiheit? Ist nicht gerade die Opfer­mystik der Grund für alles Totalitäre?

Allerdings: Kann das eigene Leben so kostbar sein, dass ich es unter allen Umständen beschützen muss? Wird jemand, der das eigene Leben als höchstes Gut begreift, nicht unweigerlich erpressbar? Wann kommt der Augenblick, an dem ich es hingeben kann, hingeben muss, um etwas anderes zu retten? Und was wäre das, was gerettet werden könnte? Mit welchen Begriffen darf es bezeichnet werden?

Ist es in einem politischen Kampf notwendig, die eigene physische Vernichtung von vornherein als gegeben zu betrachten? Und daraus folgend: Für wen, für welchen konkreten Menschen würde es sich lohnen, das Leben hinzugeben? Für die eigenen Kinder mit Freude und auf der Stelle – aber müsste eine humanistische Haltung nicht darin bestehen, dieses eine Leben, das man besitzt, für das Leben eines beliebigen anderen Menschen zu tauschen? Aber was, wenn dieser Mensch mir unsympathisch ist, weil er eine andere politische Ansicht vertritt, Hemden trägt, die mir nicht passen, ein Idiom spricht, das schief klingt, und ein Parfüm benutzt, das mir in der Nase sticht? Müsste eine humanistische Haltung nicht gerade in diesem Fall das Opfer verlangen, und müsste eine humanistische Ethik nicht damit beginnen, dass ich beim Überleben allen anderen den Vortritt lasse?

Wie ausser sozial­darwinistisch kann man seinem Leben einen höheren Wert zumessen als einem beliebigen anderen Leben?

Und falls diese Fragen nicht beantwortet werden, eine Begründung also nicht geliefert werden kann – warum wird dieses Unvermögen nicht endlich zur Massgabe der Politik? Weil es nicht realistisch ist? Weil der Mensch nicht auf diese Weise selbstlos ist? Aber wie kann man dann das Beispiel der Sophie Scholl heute noch bemühen? Oder gilt es nur für totalitäre Systeme? Und falls diese Frage mit Ja beantwortet wird – warum wird das Opfer der Sophie Scholl nicht zur Maxime, zum Beispiel im Falle von Belarus? Wie kann man einer Sophie Scholl gedenken und gleichzeitig Investitionen in diese Diktatur erlauben, in Deutschland etwa den Firmen Siemens, Henkel und BASF, in der Schweiz zum Beispiel der Firma Stadler Rail? Oder ist das einfach ein Kategorien­fehler? Wirtschaft ist Wirtschaft, und Opfertod ist Opfertod? Ist somit das Beispiel der Sophie Scholl nur theoretisch zu verstehen, im Sinne der Funktion einer Legende in der Erbauungs­literatur? Zur Stärkung der schwachen Seele? Auf Belarus oder die Türkei nicht anzuwenden?

Aber dient Sophie Scholl damit nicht bloss zur Identifikation, damit die feige und hasen­herzige Seele einen Flucht­punkt findet, wohin sie sich retten kann, wenn von Diktatur und Staats­terror die Rede ist? Ist Sophie Scholl bloss ein Heiligen­bildchen? Behauchen wir nach hundert Jahren das Glas und putzen es säuberlich mit dem Ärmel­saum, damit wir es gleich wieder in die Kiste legen und erneut verstauben lassen können?

Ist Sophie zum Kitsch verkommen? Liegt hier das Beispiel? Wie sich eine Gesellschaft am Opfer einer jungen Frau bedient? Sie also in ihren eigenen Verwertungs­zusammenhang über­führt, sie einspeist, passgenau zwischen die Wider­sprüche fügt, damit sie nicht hervor­stehe und man darüber stolpere?

Aber wäre es dann nicht besser, wenn man sie gleich vergessen würde, vergessen würde, wie sie vor Freisler stand, vor dem Volks­gerichts­hof, und diesem Blut­richter ins Gesicht sagte, dass alle dächten wie sie, aber sie als Einzige den Mut habe, es auch auszusprechen? Wäre es dann nicht besser, man würde das Wort vergessen, das sie an die Wand gepinselt hat, in München, an die Uni, das Wort Freiheit?

Denn sind damit nicht alle Filme über sie, nicht alle Lebens­berichte, Zeit­zeugnisse bloss süssliche Romanzen und die Zitate nur Kalender­sprüche, Sprüche fürs Poesie­album – und für jeden Zweck zu gebrauchen? Wer glaubt das nicht?

Was fangen wir damit an, dass heute Rechts­extreme sich auf Sophie Scholl berufen, die Feinde der offenen Gesellschaft sie zum Vorbild nehmen, um eine demokratische Ordnung zu untergraben? Ist etwas in der Erinnerungs­politik schief­gegangen? Oder liegt es daran, dass die letzten Zeugen, die Sophie Scholl noch kannten, in diesen Tagen verschwinden? Fällt nun die letzte Scham gegenüber der Geschichte? Wird nun alles relativ, knetbar, weil niemand mehr, der noch dabei war und es daher wissen muss, den Lügen widersprechen kann?

Ihr Opfertod zur freien Verfügung? Und müsste man dann nicht eingestehen, dass Sophies absolute Position zum Problem wird, weil sie ausserhalb der politischen Koordinaten steht und damit in jeder Topografie, also auch der totalitären, einen Platz findet?

Oder ist das Beispiel, das Sophie uns gegeben hat, gerade deshalb kostbar, weil sich daraus keine Handlungs­maxime ableiten lässt? Weil es für sich steht und sich jeder Frage und jeder Deutung entzieht?

Müssen wir das Beispiel Sophie Scholl retten?

Oder muss Sophie Scholl uns retten?

Und was wäre zu retten?

Wohin mündet ihre Geschichte?

Wohin mündet unsere Geschichte?

Meine?

In den Trost?

In die Verzweiflung?

In die Ermunterung?

In das Gebet?

In die Aktion?

Zum Autor

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, lebt und arbeitet als Schrift­steller und Dramatiker in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Berliner Literatur­preis 2013 und dem Schweizer Buch­preis 2014.