«Die Walliser haben schon für Golfplätze enteignet – und wir in Zürich sollen das nicht für den Bau von Schulhäusern dürfen?»

SP-Nationalrätin Jacqueline Badran erklärt, warum sie nun doch nicht für den Zürcher Stadtrat kandidiert – und liefert die besten Argumente, warum die überhitzte Metropole die Expertin für Boden- und Immobilien­politik ziemlich gut gebrauchen könnte.

Ein Interview von Carlos Hanimann und Daniel Ryser, 08.05.2021

«In Bern wirst du permanent und konsequent mit Alltag überschüttet», sagt Jacqueline Badran – und will dann doch in der Bundespolitik bleiben. Joan Minder

Am frühen Donnerstag­abend reisen wir zwei Investigativ­journalisten zum Restaurant Nordbrücke in Zürich-Wipkingen. Redaktions­interne Gerüchte besagen, die SP-National­rätin Jacqueline Badran werde uns hier exklusiv verkünden, ob sie ins Rennen um den Zürcher Stadtrat steige.

Vor einem Monat hatte der «Tages-Anzeiger» gemeldet, Badran reize die Aufgabe. Die Meldung sorgte für Wirbel, die NZZ witterte einen «PR-Coup», sozial­demokratische Stadtrats­anwärterinnen winkten vorsorglich ab – es sei aussichtslos, gegen die beliebte Jacqueline Badran anzutreten.

Als wir in der Nordbrücke ankommen, sitzt dort schon CH-Media-Journalist Francesco Benini, ein Mann für schnelle, exklusive News. Uns wird klar: Unsere Information war richtig. Nur sind wir leider nicht allein – und nicht die Ersten.

Wir bestellen Bier, während sich Benini zügig verabschiedet. Wir fühlen uns alle ein bisschen ertappt und wissen gar nicht genau, wobei eigentlich. Badran raucht Muratti um Muratti, trinkt liter­weise Kaffee und wirkt komplett über­nächtigt. Es regnet in Strömen, wir bestellen, ernüchtert von der Konkurrenz, die uns mal wieder zuvor­gekommen ist, stangen­weise Schützengarten.

Da kommen wir zwei, die Avantgarde der journalistischen Sozial­demokratie, in der Hoffnung auf einen Primeur – und jetzt sitzt der Benini schon hier …
Ja, komm jetzt.

Totaler Schock.
Ach, kommt jetzt. Das war ein Missverständnis.

Schwamm drüber. Kandidieren Sie?
Nein, das werde ich nicht.

Vor einem Monat sagten Sie: «Die Aufgabe reizt mich. Wer bekommt schon die Chance, den grössten Industrie­betrieb der Schweiz zu übernehmen?»
Der zweite Teil ist relevant. Ich war zehn Jahre lang Kommunal­politikerin, und ich liebe Kommunal­politik. Da geht es darum: Gibt es nun 300 Krippen­plätze oder nicht, gibt es 1000 gemein­nützige Wohnungen mehr oder nicht? Das ist Politik, die einen Unter­schied macht und das Leben der Leute real verbessert. Get things done, die Stadt Zürich ist mit Abstand der grösste Mischwaren­konzern in diesem Land. Das Entsorgungs­amt ERZ selber ist der grösste Industrie­betrieb in der Schweiz. Und dann nimmst du noch die Verkehrs­betriebe dazu und den Strom und die Wasser­versorgung und die Schulen und unsere Stadt­spitäler und die Polizei und die Alten­heime und die Pflege­heime, und dann bist du einfach im grössten Dienst­leistungs- und Produktions­betrieb der Schweiz.

So, wie Sie schwärmen, hätten Sie sich als Nach­folgerin von Urs Pauli bewerben sollen, dem ehemaligen ERZ-Direktor, der wegen schwarzer Kassen gehen musste.
Der war ganz ein Guter. Den hätte ich gleich wieder eingestellt, wäre ich dort Direktorin geworden. Den ganzen Unsinn, den man ihm vorgeworfen hat. Das haben wir alle gewusst. Alle.

Alle?
Alle. Auch die, die es am lautesten angeprangert haben. Wir wussten alle von den Klärbecken. Wir wussten alle, dass er ein Kässeli geführt hat. Wisst ihr, warum er das gemacht hat? Weil man ihm Dinge gestrichen hat wie das Weihnachts­essen. Jeder normale Betrieb macht das, aber ihm, dem ERZ, hat man es gestrichen. Also hat er irgend­wann gesagt: Wenn ich Autos verkaufe aus der Flotte, lege ich das Bargeld in den Tresor, statt eine riesige Bürokratie zu machen. Und dann kann ich auch wieder mal eine Weihnachts­feier finanzieren. So war das, und alle haben es gewusst.

Sagen Sie gerade über einen der grössten Korruptions­­skandale in der Stadt Zürich, dass alle davon gewusst und es toleriert haben?
Ja. Das war keine Korruption.

Schwarze Kassen.
Nicht einen Franken Selbst­bereicherung. Hört doch auf.

Er hat in einer Villa der Stadt gewohnt.
Nicht in einer Villa, sondern er hatte eine Wohnung im Stadt­garten. Man hat das alles gewusst.

Okay, wie auch immer. Die Frage war: Warum kandidieren Sie nicht?
Die Frage ist, warum ich mir überhaupt die Kandidatur überlegt habe: Ja, ich finde die städtische Ebene spannend, weil ich sie sehr real und konkret finde. Die Stadt ist eine unglaubliche Dienst­leistungs- und Produktions­maschine. Und ja, ich habe das Gefühl, ich könnte Dinge schneller antreiben als andere.

Als die, die jetzt da sind?
Ja. Nein. Nein, einfach schneller als alle möglichen Leute. Ich habe immer einen Weg gefunden, Dinge möglich zu machen, die auf den ersten Blick unmöglich schienen. Und das ist eine Eigenschaft, die gut wäre für eine Stadt­rätin dieser Stadt. Das hätte mich gereizt. Und ich glaube, ich hätte einen Unter­schied machen können. Vor allem aber ist es last call: Ich werde im Herbst 60.

2023 gäbe es ja noch den Regierungsrat …
Diese Ebene interessiert mich nicht. Mich interessiert die nationale oder die kommunale Ebene. Der Kanton, ein Sandwich-Ding: völlig uninteressant.

Sie meinten es also ernst? Es war kein «PR-Coup», wie die NZZ schrieb?
Nie, nie würde ich etwas aus PR-Gründen machen.

Sie sind Politikerin.
Denkt ihr, alle Politiker seien Lügner und pretender und es gehe nur um Öffentlichkeit? Dummer Seich.

Öffentlichkeits­arbeit ist doch wichtig.
Ich kann nicht so tun als ob, nur weil es der Partei allenfalls nützen würde. Das geht nicht. Da bekäme ich eine Pinocchio-Nase und könnte nicht gut schlafen. Es war wirklich ernst gemeint. Am liebsten würde ich mich klonen und beides machen. Ich habe es nächtelang hin und her gewälzt, denn jetzt schliesse ich eine Tür.

Und warum also kandidieren Sie nicht?
Ich bin eine ungeduldige Person. Und die Verwaltung braucht für alles eine gesetzliche Grund­lage, und die findet sich nicht in der Stadt, sondern im Kanton. Das ist eines der grossen Probleme. Du kannst nicht einfach kommen und sagen: Wir kaufen jetzt Boden und Immobilien auf. Man kann nicht einfach auf Shopping­tour. Nur schon die Vorstellung, wie viele Jahre ich bräuchte, bis ich dort wäre, wo ich sein will: Da wären die acht Jahre, die ich noch hätte, vorbei – zwei Legislaturen, dann bin ich 68. Das ist eine gfürchige Sache, dass ich mit hohen Ambitionen in das Amt ginge und die realistischer­weise niemals erreichen könnte.

Das ist ja etwas, was Sie sich als politischer Mensch schon vorher hätten ausrechnen können.
Ja, ja, ja, das habe ich vorher gewusst. Ich habe auch gewusst, dass ich ein Unter­nehmen habe, wo ich 30 traumhaft tolle Leute habe, mit denen ich teilweise schon 20 Jahre unterwegs bin, und wo wir wie verheiratet sind und entschlossen haben, zusammen alt zu werden und auch zusammen alt geworden sind. Da läufst du nicht einfach so raus und lässt die Firma allein. Das habe ich auch vorher gewusst. Als die Kandidatur im Raum stand, fragte ich mich noch einmal: Stimmt meine Beurteilung? Ist es wirklich so? Ich checkte mit Leuten, die relevant sind: Was könnten wir in der Stadt wirklich hinkriegen?

Zum Beispiel?
Ich fragte mich beispiels­weise: Wie leicht kann man enteignen?

Wen wollen Sie enteignen?
Wir stecken in der Stadt Zürich fest beim Ziel, dass mindestens ein Drittel aller Wohnungen in dieser Stadt gemein­nützig werden. Das war ja meine Initiative aus meiner Zeit als Kommunal­politikerin. Wir dümpeln da irgendwo bei 26 Prozent rum. Man ringt den Privaten, den Kommerziellen, nie Dinge ab, und wenn die eine riesige Siedlung für 3000 Leute bauen, müssen wir dann unsere Familien­gärten hergeben für ein neues Schul­haus, weil man daran nicht gedacht hat. Man nimmt also ein städtisches Areal, auf dem wir eigentlich lieber Genossenschafts­wohnungen bauen würden als ein Schulhaus, um den Auftrag des Drittels­ziels umzusetzen. Da bin ich wirklich noch einmal Bundes­gerichts­entscheide hervor­kramen gegangen, weil ich wusste, die Walliser haben schon für Golf­plätze enteignet; und wir in Zürich sollen das nicht für den Bau von Schul­häusern dürfen? Und dann gab es auch noch diese Ebene: Was beschäftigt mich, wenn ich aufs Tram warte?

Und was beschäftigt Sie, wenn Sie aufs Tram warten?
Ich denke selten, wo bleiben die verdammten Velowege. Ich denke an die Flüchtlings­geschichte, die Medien in diesem Land, die elende Kapital­verwertungs­logik, die sich über alles hermacht. Ich frage mich: Wie kriege ich eine anständige Boden- und Immobilien­politik auf nationaler Ebene hin? Deswegen bin ich ja nach Bern: Weil ich genau das aufbauen wollte, unter anderem indem ich verhindern wollte, dass die Lex Koller abgeschafft wird. Das war eine mission to accomplish. Und dann bin ich in das SP-Vize­präsidium rein mit dem Gedanken: Jetzt ist new game. Wir brauchen eine Vorwärts­bewegung.

Wie steht es denn um die Vorwärts­bewegung?
Du wirst in Bern permanent und konsequent mit Alltag überschüttet. Da eine Vorlage, dort ein Referendum. In den letzten Tagen bin ich zur Zuckerrüben­produzenten­expertin geworden, weil wir eine Zucker­vorlage haben.

Als die Gerüchte um Ihre Stadtrats­kandidatur hochkochten, hiess es von anderen möglichen Kandidatinnen: Wenn Badran kommt, dann ziehen wir zurück. Das heisst: Jetzt kommt die B-Mannschaft zum Zug.
O Gott. Überhaupt nicht. Das ist mit ein Grund, warum ich nicht kandidiere: Wir haben sehr viele sehr valable Kandidatinnen. Deswegen habe ich weniger das Gefühl, dass es mich hier braucht. Angesichts der Super­kandidatinnen habe ich in Zürich viel weniger ein Unersetzlichkeits­syndrom als in Bern, wo die SP extrem viel Denkarbeit leisten muss. Wir stehen einem Narrativ gegenüber, das wahnsinnig stark ist. Und wir haben uns in die Defensive drängen lassen. Weniger die SP Schweiz, mehr die sozial­demokratischen Nachbarn in Europa. Aber auch hierzulande waren wir damit beschäftigt, Kollateral­schäden zu vermeiden oder zu beheben.

Als Sie vor einem Jahr als Vize­präsidentin kandidierten, sagten Sie, Sie wollten Teil einer Mission sein: «Wir brauchen Antworten auf den zerstörerischen Teil des Kapitalismus.» Wie weit sind Sie mit den Antworten?
Wir sind dran. Es passiert etwas, aber es ist noch nicht spruchreif.

Mehr nicht?
Es kam noch die Kleinigkeit von Corona dazwischen. Zudem planen wir eine Partei­struktur­reform. Die kommt bald. Aber ich kann noch nicht mehr verraten, weil es noch nicht durch alle Gremien ist. Das Ziel ist: Die Partei soll näher zusammen­rücken. Die jetzigen Strukturen stammen noch aus dem letzten Jahrhundert.

Wenn wir auf die aktuellen Entwicklungen in den USA schauen in Bezug auf den Patent­schutz: Was haben Sie gedacht, als Sie gehört haben, dass die USA nicht weiter am Patent­schutz für Covid-Impfstoffe festhalten wollen?
Super!

Es ist doch bemerkenswert.
Es ist überhaupt nicht bemerkenswert.

Finden wir eigentlich schon.
Es ist nicht bemerkens­wert, weil es the right thing ist, weil man das schon längst hätte machen sollen.

Glauben Sie, dass aus linker Perspektive plötzlich Dinge in Bewegung geraten, die lange blockiert schienen?
Wir Sozialdemokratinnen sind es gewohnt, dass wir in der Regel vierzig Jahre brauchen, bis wir etwas durchsetzen können: Frauen­stimmrecht, AHV, Uno-Beitritt, Energie­wende – you name it. Aber am Ende des Tages kommt es so, wie wir es fordern. In diesem Fall ist es einfach ein bisschen schneller gegangen. Okay, sehr viel schneller.

Die Linke wirkte in der Frühlings­session parat, vor allem auch bei den Marathon-Verhandlungen um das Covid-19-Gesetz, die Hilfs­zahlungen. Wollen Sie Bern nicht verlassen, weil Sie als Vize­präsidentin ein wichtiger Teil eines ambitionierten Gespanns sind?
Wir wollen den Aufbruch und wir befinden uns im Aufbruch, ja. Und wir haben wirklich extrem starke Figuren, ein starkes Co-Präsidium. Es wäre falsch, jetzt von Bord zu gehen. Man könnte auch sagen: Es ist last call. Sonst geht die europäische Sozial­demokratie unter. Und ich bin fundamental der Überzeugung, dass es die Sozial­demokratie mehr denn je braucht. Sonst ist der Siegeszug des Kapitals nicht mehr reversibel. Die Privilegien des Kapitals, die es ja eh schon immer hatte – Eigentums­rechte, Patent­rechte, Verrechtlichung von Steuer­privilegien –, nehmen auf globaler Ebene immer weiter zu.

«Ich habe immer einen Weg gefunden, Dinge möglich zu machen, die auf den ersten Blick unmöglich schienen.» Joan Minder

Zum Beispiel?
TTIP. Transatlantisches Freihandels­abkommen. Damit können Konzerne gegen Staaten klagen, weil diese ein Gesetz erlassen. Wenn wir zum Beispiel unser Gentech­moratorium verlängern, kann Monsanto klagen, weil sie ihren gentech­verpfuschten Mais nicht in die Schweiz einführen dürfen. Und wir sind dann entschädigungs­pflichtig. Überlegen Sie sich das mal! Wer denkt sich so was überhaupt aus? Solche neofeudalen Privilegien, wo die Bevölkerung wieder einen Zehnten abzugeben hat, dürfen wir niemals zulassen. Hier hat sich eine dramatische Situation entwickelt, wo es nicht mehr bloss um ein bisschen Umverteilung zugunsten des Kapitals geht. Hier geht es um das Ausschalten der Demokratie und die Verrechtlichung der Neo-Zehnten-Pflicht. Und es ist alles viel perfider geworden. Es gibt niemanden mehr, bei dem man sagen könnte: Kopf ab. Bei den bürgerlichen Revolutionen konnte man sagen: «Da, der Fürst! Kopf ab!» Heute, im Neofeudalismus, hast du das Kapital in Form von raiders, Hedge­fonds, Finanz­gesellschaften, eine bestimmte System­logik, in der sich alles der Bedienung der Eigen­kapital­rendite unterzuordnen hat, die niemand explizit gebaut hat. Es gibt keinen Architekten, dem man sagen könnte: Was hast du für eine Scheiss­hütte gebaut? Es gibt keinen Architekten. Und wir sitzen jetzt in dieser Hütte und finden den Ausgang nicht.

Wenn wir Sie so reden hören, fragen wir uns: Warum genau sind Sie eigentlich je darauf gekommen, dass Sie sich lieber um Velowege in Zürich kümmern sollten?
Es gibt auch viel Frustration in Bern. Zucker­rüben zum Beispiel. Keinen ordentlichen Gegen­vorschlag für die Konzern­verantwortungs­initiative durch­zubringen. Oder Tag und Nacht für ein Covid-Gesetz zu arbeiten und dann nur die Hälfte durch­zukriegen. Mir passiert es heute häufiger, dass ich denke: Was mache ich da eigentlich? Da sagst du dir schon auch mal: Lieber bauen wir sieben neue Velowege, denn das ist real stuff. Velowege meine ich übrigens metaphorisch. Zürich ist halt meine Stadt, ich liebe sie. Ich bin beseelt von ihr, und ich mache im Hinter­grund viel für sie. Ich will nicht, dass mein Zürich zu einem Monaco am See wird. Aber wir sind leider auf bestem Weg dazu. Und das will ich nicht. Das geht nicht. Das lasse ich nicht zu.