Organspende geht Nationalräten ans Lebendige, Gewalt in Asylzentren und die EU greift der SVP unter die Arme
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (145).
Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler, Carlos Hanimann und Cinzia Venafro, 06.05.2021
Für einmal war es ungewöhnlich ruhig im Nationalratssaal. Regelrecht gesittet zeigte sich die grosse Kammer, als Christian Lohr von der Mitte-Fraktion am frühen Mittwochmorgen im Rollstuhl ans Rednerpult fuhr.
«Es geht wortwörtlich um Leben und Tod», stellte der Grünliberale Jörg Mäder während der Debatte fest. Anders gesagt: Wem «gehören» Organe von Verstorbenen und welche Rolle soll der Staat bei Organspenden spielen? Anlass für diese Debatte war die Volksinitiative «Organe spenden – Leben retten», die das bisherige Schweizer System umkehren will. Heute setzt eine Organspende das aktive Einverständnis des potenziellen Spenders voraus, etwa in Form eines Spenderausweises. Wie im europäischen Ausland bereits üblich, sollen gemäss der Initiative künftig auch in der Schweiz automatisch alle Organspenderinnen sein, ausser jemand spricht sich aktiv dagegen aus.
Lanciert wurde das Volksbegehren von der Bewegung Jeune Chambre International (JCI) Riviera. Unterstützt wird die Initiative etwa von Swiss Transplant, der Schweizerischen Stiftung für Organspende und Transplantation. Diese argumentiert, dass in der Schweiz Tausende auf Organe warten, die eigentlich da wären, aber nicht transplantiert werden können. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab, schlägt aber als indirekten Gegenvorschlag eine erweiterte Widerspruchslösung vor: Grundsätzlich dürfen Organe entnommen werden, Angehörige können das aber verweigern, sofern keine klare Willensbekundung vorliegt.
So weit der politische Prozess. Doch wenns ans «Läbige» geht, wird es emotional und verschwimmen die Parteigrenzen.
«Man darf den menschlichen Körper nicht als Ersatzteillager sehen», sagte Christian Lohr. Er sei aber innerlich zerrissen: «Es ist richtig, dass wir handeln müssen. Dass wir jungen Menschen, die einen Unfall erleiden oder erkranken, Hoffnung geben müssen. Trotzdem dürfen wir den ethischen Kompass nicht verlieren.»
Damit spielte er auf die Eidgenössische Ethikkommission an, die eine Widerspruchslösung ablehnt. Trotzdem hat der Bundesrat in seinem Gegenvorschlag genau diese aufgenommen, wenn auch deutlich weniger strikt formuliert als in der Initiative. Dadurch habe der Bundesrat die Ethikkommission regelrecht desavouiert, kritisierte Lohr.
Innerlich zerrissen zeigte sich in der Organspendenfrage nicht nur Christian Lohr, der Riss geht mitten durch die Parteien. Aus den meisten Fraktionen gab es zustimmende wie ablehnende Voten. So macht sich mit Lukas Reimann ein SVP-Aushängeschild für die Organspende und den Gegenvorschlag stark – anders als seine Partei: Das Freigeben der eigenen Organe sei ein «Akt der Nächstenliebe», so Reimann.
Am Ende der mehrstündigen Debatte hat der Nationalrat die Initiative ganz knapp mit 88 zu 87 Stimmen bei 14 Enthaltungen angenommen. Dem indirekten Gegenvorschlag hat die grosse Kammer im Grundsatz – die konkreten Änderungen im Transplantationsgesetz stehen noch aus – mit 154 zu 30 Stimmen bei 2 Enthaltungen deutlich zugestimmt. Das Geschäft geht nun in den Ständerat.
Und damit zum Briefing aus Bern
Gewalt in Asylzentren: 14 Sicherheitsleute suspendiert, Untersuchung eingeleitet
Worum es geht: Am Mittwoch publizierten WOZ, «Rundschau» und RTS eine gemeinsame Recherche über Sicherheitskräfte, die in Asylzentren des Bundes Gewalt gegen Asylsuchende ausgeübt haben sollen. Ausserdem habe das Sicherheitspersonal Einsatzrapporte gefälscht. Als Reaktion auf die Recherchen hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) eine externe Untersuchung eingeleitet.
Warum das wichtig ist: Bereits vor einem Jahr berichteten die Wochenzeitung WOZ und die SRF-Sendung «Rundschau» von einem «Klima der Gewalt» im Bundesasylzentrum Bässlergut in Basel. Während das Sicherheitspersonal damals von aggressiven Asylsuchenden sprach, erhoben mehrere Asylsuchende den Vorwurf, die Securitas-Mitarbeiter würden sie grundlos schlagen. Das SEM stritt bislang ab, dass es zu unverhältnismässiger Gewalt in den Bundesasylzentren komme. Eine Tonbandaufnahme aus dem Asylzentrum im neuenburgischen Boudry soll nun aber zeigen, dass Sicherheitskräfte beim Protokollieren ihrer Einsätze grob übertreiben und dabei Sachverhalte erfinden, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Insgesamt sei es im vergangenen Jahr zu 1539 Vorfällen zwischen Sicherheitspersonal und Asylsuchenden gekommen. Das SEM habe mittlerweile 14 Sicherheitsleute suspendiert. In einer Medienmitteilung meldete die Migrationsbehörde, sie habe ein internes Audit zur Überprüfung der Abläufe und Strukturen veranlasst. Auch Rekrutierung und Weiterbildung des Sicherheitspersonals sollen angepasst werden. Zudem habe man seit einigen Monaten zusätzliches Betreuungspersonal angestellt, um mögliche Konflikte frühzeitig zu erkennen.
Wie es weitergeht: Das Staatssekretariat für Migration hat aufgrund der Recherchen den ehemaligen Bundesrichter Niklaus Oberholzer mit einer externen Untersuchung beauftragt. Die Ergebnisse sollen nach Abschluss veröffentlicht werden. Zudem prüft das SEM, ob es eine Beschwerdestelle für Asylsuchende einführen soll.
Bund soll Handydaten von Asylsuchenden auswerten dürfen
Worum es geht: «Zeigen Sie bitte Ihr Telefon», ein Satz, den Asylsuchende wohl künftig öfter hören. Denn der Nationalrat hat sich dafür entschieden, dass Asylsuchende ihr Mobiltelefon oder ihr Tablet aushändigen müssen, wenn sie ein Asylgesuch einreichen. Deutlich, mit 123 zu 65 Stimmen, ist die grosse Kammer der Meinung, dass dieser Eingriff in die Privatsphäre der Asylsuchenden gerechtfertigt ist. Dagegen stellten sich SP und die Grünen. Unter Zwang darf die Herausgabe der Geräte jedoch nicht geschehen, der Nationalrat lehnte einen entsprechenden Antrag ab.
Warum Sie das wissen müssen: Bei 70 bis 80 Prozent der in die Schweiz einreisenden Asylbewerberinnen- und -bewerbern kann man die Identität nicht nachweisen, weil die meisten keine Ausweispapiere mehr besitzen. Doch ohne dass man die Herkunft eines Asylsuchenden zweifelsfrei kennt, kann kein Asylentscheid gefällt werden. Also erhofft man sich aus den Daten Bewegungsprofile und somit Herkunftsangaben. In Ländern wie Deutschland, den Niederlanden, Dänemark und Finnland wird das Asylgesetz bereits so praktiziert. Und vor eineinhalb Jahren führte das Staatssekretariat für Migration (SEM) einen Pilotversuch in den Bundesasylzentren von Chiasso und Vallorbe durch. In 15 Prozent der Fälle konnte man herausfinden, woher die Person stammte. Deshalb hinterfragen die Grünen und die SP, wie brauchbar diese Daten überhaupt sind. Zum Vergleich: In der Schweiz dürfen auch bei einer schweren Straftat wie Mord die Daten aus Mobiltelefonen nicht ohne richterlichen Beschluss ausgewertet werden.
Wie es weitergeht: Das Geschäft kommt nun in den Ständerat. Sollte er der Änderung des Asylgesetzes zustimmen, müssen trotzdem nicht alle Asylsuchenden ihre Geräte abgeben. Erst wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft seien und die Identität trotzdem noch ungeklärt ist, soll man darauf zurückgreifen können, argumentieren die Befürworter.
Medienfreiheit: Ständeratskommission will Hürden für Zensur senken
Worum es geht: Die Rechtskommission des Ständerats verlangt eine Verschärfung der Zivilprozessordnung. Ziel: Medienberichte sollen einfacher untersagt werden können. Dagegen wehrt sich unter anderem die Organisation Reporter ohne Grenzen.
Warum Sie das wissen müssen: Gestützt auf Artikel 266 der Zivilprozessordnung können Richterinnen einen Medienbericht vorsorglich verbieten oder löschen lassen, wenn einem Kläger dadurch ein «besonders schwerer Nachteil» entsteht – ohne die Journalistin oder die Redaktion zum Sachverhalt zu befragen. Die Frage, ob die Zensur gerechtfertigt war, beantwortet das Gericht oft erst viel später; zu einem Zeitpunkt, an dem der Artikel unter Umständen nicht mehr aktuell ist. Gemäss Medienrechtsprofessor Bertil Cottier hat die Einschüchterung der Medien via Gericht zugenommen. Auch gegen die Republik wurden bereits sogenannte superprovisorische Massnahmen verhängt, etwa im Vorfeld der Berichterstattung über den ehemaligen Zuger Regierungsrat Beat Villiger. Nun soll zwar bloss ein Wort aus dem Gesetz verschwinden, aber dieses eine Wort macht den Unterschied: «besonders». Gemäss Medienanwalt Matthias Schwaibold sei Zensur bisher nur deshalb selten, weil Kläger glaubhaft machen müssen, dass ihnen ein «besonders» schwerer Nachteil droht. Das sieht auch Denis Masmejan so, der Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen Schweiz. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagt er, die Wortstreichung sei «eine gefährliche Einschränkung der Pressefreiheit, die man verhindern muss». Die Mehrheit der Rechtskommission hingegen sieht das anders. «Es gibt immer noch zu viele Presseartikel, die auf Sensationen aus sind, ohne die Privatsphäre der betroffenen Personen zu respektieren», sagte Kommissionspräsident Beat Rieder von der Mitte-Partei.
Wie es weitergeht: Der Ständerat berät voraussichtlich im Juni über die Gesetzesanpassung, die vom Bundesrat nicht unterstützt wird. Damit sie in Kraft tritt, müsste später auch der Nationalrat zustimmen.
Strafverfolgung: Nationalrat erlaubt vertiefte Analyse von DNA-Spuren
Worum es geht: Strafverfolgungsbehörden sollen aus DNA-Spuren von Tatorten mehr Informationen herauslesen dürfen als bisher. Dies soll es ihnen ermöglichen, sich rasch auf einen Täterkreis zu fokussieren und die Ermittlungen effizienter zu führen. Der Nationalrat hat einem entsprechenden Vorschlag des Bundesrats zugestimmt. Abgelehnt wurde die Ausweitung von den Grünen und einem Grossteil der SP-Fraktion, die vor Racial Profiling warnten.
Warum Sie das wissen müssen: Bisher darf bei DNA-Spuren nur nach Übereinstimmungen mit vorhandenen Gendatenbanken gesucht werden und es darf nur das Geschlecht eruiert werden. Neu sollen auch Hinweise auf äusserliche Merkmale wie Haar- und Augenfarbe, Alter oder Herkunft herausgelesen werden dürfen. Nationalrat und Bundesrat wollen die sogenannte Phänotypisierung bei allen Straftaten ermöglichen, bei denen eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren droht. Im Gesetz geregelt wird auch der sogenannte Suchlauf nach Verwandtschaftsbezug: Ergibt die Spur in der DNA-Datenbank zunächst keinen Treffer, kann die Suche auf Personen ausgedehnt werden, die aufgrund ihres DNA-Profils mit der gesuchten Person verwandt sein könnten. Die Gesetzesänderung geht auf eine Motion des im vergangenen Jahr verstorbenen FDP-Nationalrats Albert Vitali zurück. Vitali hatte sich daran gestört, dass nach der Vergewaltigung einer jungen Frau in Emmen im Jahr 2015 zwar die mutmassliche Täter-DNA sichergestellt werden konnte, die genetischen Informationen von den Ermittlungsbehörden mangels gesetzlicher Grundlagen aber nicht vollständig genutzt werden durften. Die Frau erlitt schwerste Verletzungen. Der Täter konnte bis heute nicht gefasst werden.
Wie es weitergeht: Nun geht das Gesetz in den Ständerat. Stimmt auch er zu, tritt es in Kraft – sofern kein Referendum ergriffen wird.
Bundesanwaltschaft: Auch der Medienchef muss gehen
Worum es geht: Bei der Bundesanwaltschaft kommt es mit den beiden Geschäftsleitungsmitgliedern André Marty und Generalsekretär Mario Curiger zu prominenten Abgängen.
Warum Sie das wissen müssen: In der Affäre Lauber gab es im Zuge der Fifa-Affäre bisher erst einen Abgang: jenen des ehemaligen Bundesanwalts Michael Lauber selbst. Mit Marty geht nun auch einer der zentralen Figuren der Fifa-Affäre: Als Informationschef hatte der ehemalige SRF-Journalist die Geheimtreffen Laubers mit Fifa-Boss Gianni Infantino eingefädelt, an die sich angeblich weder Lauber noch Marty erinnern können. Der ausserordentliche Bundesanwalt Stefan Keller, der wegen Befangenheit soeben in den Ausstand gezwungen wurde, hatte im Zuge der Ermittlungen ein Strafverfahren gegen Marty eröffnet.
Wie es weitergeht: Die Bundesanwaltschaft muss sich nun völlig neu aufstellen. Doch die unendliche Suche nach einem neuen Bundesanwalt verläuft nach wie vor äusserst schleppend. Ende Februar musste Gerichtskommissionspräsident Andrea Caroni erneut informieren, dass man sich auch im zweiten Anlauf auf keine Kandidaten hat einigen können. Marty hat bereits einen neuen Job: Er übernimmt ab September bei den SBB die Leitung der Kommunikation Personenverkehr. Pikant: Somit kommt er ausgerechnet bei einem staatsnahen Betrieb unter – und das während ein Strafverfahren gegen ihn läuft.
Staatsverträge: Nationalrat versenkt obligatorisches Referendum
Worum es geht: Soll die Stimmbevölkerung über jeden Staatsvertrag abstimmen müssen, den die Schweiz unterzeichnen will? Bundesrat und Ständerat hatten sich dafür ausgesprochen, der Nationalrat aber ist diese Woche nicht auf die Vorlage eingetreten.
Warum Sie das wissen müssen: «Die Spielregeln müssen klar sein und die Mitspracherechte gestärkt werden», sagte Gregor Rutz von der SVP im Nationalrat. Alle anderen Fraktionen sahen keinerlei Handlungsbedarf oder hielten den Vorschlag des Bundesrats für unausgegoren oder zu weitreichend. Die Regierung hatte obligatorische Referenden für alle Verträge einführen wollen, die Bestimmungen von Verfassungsrang, die Grundrechte oder die Organisation und Zuständigkeiten der Bundesbehörden betreffen. Der Ständerat änderte die ursprünglich auf eine Motion von FDP-Politiker Andrea Caroni zurückgehende Vorlage ab und wollte auch Verträge, die das Verhältnis von Bund und Kantonen regeln, dem obligatorischen Referendum unterstellen. Nach dem Nein des Nationalrats bleibt es dabei, dass die meisten völkerrechtlichen Verträge nur dem fakultativen Referendum unterliegen; für die Annahme des Vertrags genügt das Volksmehr. Anders gehandhabt werden Verträge, mit denen die Schweiz einer supranationalen Organisation oder einer Organisation der kollektiven Sicherheit beitritt – ein Beispiel aus der Vergangenheit ist der Uno-Beitritt 1997, fiktive Beispiele wären Beitritte zur EU oder zur Nato.
Wie es weitergeht: Die Vorlage geht zurück an den Ständerat, der ihr im vergangenen Herbst deutlich zugestimmt hatte. Angesichts der klaren Ablehnung im Nationalrat aber ist die Ausweitung des obligatorischen Referendums auf Staatsverträge wohl zum Scheitern verurteilt.
Strichliliste der Woche
Damals in der Schule gab es in fast jeder Klasse einen Zwängli, der wieder und wieder die gleiche Frage stellte. Im Nationalrat spielte ab 2016 der einstige SVP-Präsident Toni Brunner diese Rolle: Session für Session wollte er vom Bundesrat wissen, wie viele kriminelle Ausländer mit einem Landesverweis bestraft und wie viele tatsächlich ausgeschafft worden waren. Als er zurücktrat, übernahm Fraktionschef Thomas Aeschi das Nachfrage-Ämtli. Doch auch er lief wieder und wieder auf, weil der Bund zwar grundsätzlich willig gewesen wäre diese Strichliliste zu führen, sich dabei aber immer wieder verhedderte. Schuld wollte keiner sein: Das Bundesamt für Justiz zeigte auf das Staatssekretariat für Migration, dieses auf die Statistiker und die wiederum auf die Kantone. Wie auf dem Pausenplatz braucht es auch in der Politik manchmal einen Unterstützer, der grösser und stärker ist als der eigene Widersacher. Diesen grossen Bruder hat die SVP nun ausgerechnet in der EU gefunden. Die reformiert nämlich das Schengener Informationssystem, die Schweiz muss als Schengen-Staat nachziehen, und wo sie grad dabei ist, nimmt sie endlich auch die Ausschaffungsstatistik an die Hand. Allerdings soll es noch bis 2023 dauern, bis die von der SVP geforderten Zahlen vorliegen. Thomas Aeschi kann seine Frage an den Bundesrat also noch ein paar Mal stellen.
Illustration: Till Lauer