Niemand mag Alibi-Bewerbungen. Warum also gibt es sie?
Wer Arbeitslosengeld bezieht, muss 10 Bewerbungen im Monat verschicken – egal ob gerade Krise oder Boom ist. Das ist nicht nur unlogisch, es setzt auch eine frustrierende Spirale in Gang. Zeit, sie anzuhalten. «Humane Ressourcen», Folge 2.
Von Reto Hunziker (Text) und AHAOK (Illustration), 27.04.2021
Arbeitsbemühungen. So wird das Kontingent an Bewerbungen genannt, das Stellensuchende pro Monat zu verschicken haben. Im Normalfall sind es deren 10. So wollen es die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV), so will es das Staatssekretariat für Wirtschaft. In einigen Regionen haben die RAV-Personalberaterinnen etwas mehr Spielraum, können die Zahl von Arbeitsbemühungen herabsetzen auf 8. In anderen nicht.
Doch ob 8, 10 oder 12 – das Durchdrücken der Arbeitsbemühungen löst einen Teufelskreis aus, der frustrierend ist für alle Beteiligten.
Wie liesse sich der Bewerbungsprozess entstauben? Die Jobvermittlung auf dem Arbeitsamt weniger bürokratisch gestalten? Der Stellensuche ihr Schrecken nehmen? Jobcoach Reto Hunziker geht in zehn Beiträgen der Frage nach, welche Fehler die verschiedenen Beteiligten – Firmen, Bewerberinnen, Ämter – immer wieder machen und wie ein humaner Stellenmarkt funktionieren könnte. Hier finden Sie den Auftakt mit den grundlegenden Fragen.
Ihre Inputs nimmt Reto Hunziker gerne auf. Was haben Sie auf dem Stellenmarkt erlebt? Mit welchen Schwierigkeiten sind Sie konfrontiert? Welche Fragen stellen Sie sich? Schreiben Sie es ins Dialogforum.
«Auf meinem Gebiet sind pro Jahr vielleicht 4 oder 5 passende Stellen ausgeschrieben», klagte kürzlich ein Gamedesigner, der eine Stelle als – ja – Gamedesigner, aber auch als 3-D-Animationsdesigner suchte und dabei intensiv am Freelancen war. «Trotzdem muss ich monatlich 10 Bewerbungen verschicken für Jobs, für die ich nicht geeignet bin und die ich gar nicht haben will.»
Ein Kommunikationsfachmann auf Stellensuche beschwerte sich bei seiner Beratungsperson, dass seine Initiativbewerbungen nicht als Arbeitsbemühungen angerechnet wurden – ohne Erfolg. Selbst jetzt, wo die meisten Unternehmen auf Sparflamme funktionieren und wegen Einstellungsstopps weniger Stellen ausgeschrieben sind, wird an den starren Regeln festgehalten.
So nachvollziehbar es ist, einen Nachweis dafür zu verlangen, dass Stellensuchende bemüht sind, sich in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren, so sehr wird dies von diesen als Schikane verstanden. Es belastet nicht nur das Verhältnis zwischen Stellensuchenden und ihren RAV-Personalberatern, nein, es lähmt auch den Bewerbungsprozess insgesamt.
Frust auf allen Seiten
Weil die geforderte Zahl der Arbeitsbemühungen nicht dem tatsächlichen Angebot an Stellen angepasst ist, provoziert sie eine Fülle an Alibi-Bewerbungen. Bewerbungen, die nur den Zweck erfüllen, negative Konsequenzen zu vermeiden. Bewerbungen für Stellen, die die Arbeitssuchenden gar nicht wollen. Pseudobewerbungen, Nichtbewerbungen.
Sie fluten die Inbox der Arbeitgeber und schaffen dort einen erheblichen Arbeitsaufwand, um echte Bewerbungen von falschen zu unterscheiden. Firmen behelfen sich mit Algorithmen und anderen Vereinfachungen des Recruitings, die zum Teil wieder Schikanen für Stellensuchende sind, die tatsächlich am Job interessiert sind. Und schon haben wir den Teufelskreis.
Die Stellensuchenden sind frustriert, weil sie gezwungen werden, mehr Bewerbungen zu verschicken, als sie von sich aus schicken würden. Und weil sie sich von automatisierten Auswahlmechanismen nicht menschlich behandelt fühlen.
Die Arbeitgeber sind frustriert, weil sie zahlreiche Bewerbungen sichten müssen, die zu sichten es nicht wert ist. Und Aufwand betreiben müssen, dies zu verhindern.
Und die Personalberatenden vom RAV sind frustriert, weil sie mit den verlangten Bewerbungen auf Unverständnis und Widerstand stossen. Wobei sie es sich teilweise leicht machen, mit diesem Frust umzugehen. Wer die Arbeitsbemühungen als «Bewerbungen fürs RAV» tituliert, wird meist von den RAV-Angestellten korrigiert: «Das machen die Stellensuchenden nicht für uns, das machen sie für sich!» Ausserdem bilden die Arbeitsbemühungen die Grundlage für das Beratungsgespräch.
Doch es wäre falsch, sich über RAV-Angestellte zu ärgern – der Knorz liegt im System. Respektive in der Annahme, Stellensuchende bräuchten externe «motivierende» Anreize dafür, sich zu engagieren. Und diese wurden bereits 1997 mit der Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes zementiert.
Kontrolle statt Eigenverantwortung
Die Soziologin Chantal Magnin stellte 2003 in ihrer Studie zur Beratungspraxis der RAV die Nachteile dieses starren Systems fest.
«Um nicht in Missbrauchsverdacht zu kommen, verhalten sich die Arbeitsuchenden eher strategisch geschickt als komplett ehrlich», schrieb sie darin und befand, dass «arbeitslose Personen aufgrund der restriktiven Ausgestaltung und Handhabung der Vorschriften nicht wie gewünscht mehr, sondern weniger Verantwortung wahrnehmen». Sich zu bewerben, werde für die Versicherten «zu einer von den eigenen Motiven losgelösten, allein wegen der Behörde zu erfüllenden Aufgabe».
Magnins Fazit: Ein System, das Eigenverantwortung verlangt und gleichzeitig eine Kontrolle vorsieht, ist in sich widersprüchlich.
In der Zwischenzeit hat sich der Arbeitsmarkt verändert, er ist flexibler geworden. An den «Hausaufgaben» wird aber nach wie vor festgehalten. Die damit verbundenen Sanktionen haben sich gar verschärft: Gemäss dem Konsumentenmagazin «Saldo» ist die Zahl der Sanktionen in den letzten 12 Jahren um über 50 Prozent gestiegen (bei einer vergleichbaren Zahl an Arbeitssuchenden).
Die Frage drängt sich auf: Müssten in einer Arbeitswelt, die im Umbruch ist und mit Schlagworten wie «Arbeit 4.0», «Disruption», «Agilität» und «Fluidität» glänzt, nicht auch die Anforderungen an Arbeitssuchende angepasst werden?
Und: Wäre in der heutigen Multioptionsgesellschaft nicht die nachhaltige, langfristige Vermittlung stärker zu gewichten? Zumindest bei den besser Qualifizierten? Auch das würde für eine lockerere Handhabung des Arbeitsbemühungskontingents sprechen.
Entspannt euch, RAV!
Das Staatssekretariat Seco gibt an, die RAV könnten bei der 10-Bewerbungen-Regel schon heute angesichts des schwierigen Arbeitsmarkts ein Auge zudrücken: «Im Kontext der behördlichen Betriebsschliessungen sind die RAV sensibilisiert, diesen Spielraum verstärkt zu berücksichtigen.»
Das ist gut und recht. Dennoch: An fixen Zahlen festzuhalten, während sich Arbeits- und Präsenzzeiten aufweichen; mit Druck zu operieren, wo Eigeninitiative gefragt ist; mit Zwang Motivation fördern zu wollen – das wirkt nicht zeitgemäss.
Es wäre angesagt, das System zu reformieren.
Was tun, solange das System verkorkst bleibt? Drei Vorschläge gegen den Frust
1. Grämen Sie sich nicht über Dinge, die Sie nicht ändern können. Versuchen Sie stattdessen, die 10 Bewerbungen als Übungs- beziehungsweise Spielfeld zu betrachten. Zum Beispiel, um Ihren Marktwert zu testen oder eine Strategie auszuprobieren.
2. Gehen Sie entsprechend locker mit den Absagen um. Wenn Sie eine Stelle wirklich wollen, merkt man das – und dann geht es hoffentlich anders aus.
3. Don’t shoot the messenger. Nehmen Sie es Ihrer RAV-Beratungsperson nicht übel, sie macht auch nur ihren Job.