Was Schottland ausmacht: Kilt, Whisky – und die Unabhängigkeit von Grossbritannien? Martin Parr/Magnum Photos/Keystone

Machen die Schotten dicht?

In zwei Wochen wählt Schottland sein Regionalparlament. Es geht um nicht viel weniger als die Einheit des britischen Königreichs. Und einen möglichen Exit aus dem Brexit.

Von Susi Stühlinger, 22.04.2021

Im Norden des Vereinigten Königreichs ist Wahlkampf. Nicht irgendeiner. Denn eigentlich geht es darum, ob Schottland die Union verlassen und ein eigenständiger Staat werden soll.

Wenn am 6. Mai gewählt wird, ist das auch ein Votum über das, was folgen könnte: ein zweites Referendum über die schottische Unabhängigkeit und damit auch eine Rückkehr Schottlands in die EU. So zumindest die Hoffnung jener, die das Anliegen befürworten.

Als würde das die Wahlkampf­stimmung nicht schon genug aufheizen, geht auch noch ein grosser Riss durch das Lager der Separatisten selbst. Kurz gesagt: Gerade herrscht ein veritables Chaos in Schottland.

Wer verstehen will, wo die Konflikt­linien verlaufen und woher sie kommen, muss ein wenig in der jüngeren Geschichte des Vereinigten Königreichs zurückgehen und sich die politische Gross­wetter­lage in Schottland vor Augen führen: von der Unabhängigkeits­frage über die Umwälzungen der politischen Landschaft in den vergangenen zwanzig Jahren bis zu den jüngsten Ereignissen, die derzeit unter dem Titel «Salmond-Saga» die Verhältnisse durcheinander­wirbeln.

Dabei hilft zunächst der Blick auf zwei Schlüssel­daten aus der Zeit vor dem Brexit.

Unabhängigkeit in Raten

Da ist zunächst das Jahr 1998, als Schottland ein eigenes Parlament erhielt. Damit löste Tony Blair ein Wahl­versprechen ein, nachdem er ein Jahr zuvor bei den gesamt­britischen Unterhaus­wahlen einen Erdrutsch­sieg eingefahren hatte. Seit der Jahrtausend­wende verfügt Schottland damit über weitreichende legislative Befugnisse in etlichen Bereichen wie etwa Bildung, Gesundheit und Justiz­wesen.

Diese Teil-Autonomie sehen die Schotten nun durch die konservative Regierung in Westminster bedroht: Boris Johnson nannte die vor der Jahrtausend­wende erfolgte Befugnis­übertragung kürzlich ein «Desaster». Den Brexit hat die schottische Stimm­bevölkerung deutlich abgelehnt. Und das Binnenmarkt­gesetz, das im Zuge des Brexits verabschiedet wurde, ist aus Sicht der schottischen Regierung ein Angriff auf die derzeitige Kompetenzverteilung.

Wegmarke Nummer zwei: Im Jahr 2014 stimmten die Schottinnen erstmals über die Loslösung vom Vereinigten Königreich ab – und votierten mit 55 Prozent für den Verbleib.

Das war allerdings vor dem Brexit.

Schottland, so argumentieren die Unabhängigkeits­befürworter jetzt, sei gegen seinen Willen aus der EU gezerrt worden. Die Schottische National­partei (SNP) von Regierungs­chefin Nicola Sturgeon will darum ein erneutes Referendum zur Sezessions­frage einfordern, sollte sie am 6. Mai eine absolute Mehrheit im schottischen Parlament erringen.

Der Hintergrund: Der britische Premier muss eine Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit grundsätzlich erst bewilligen. Und dagegen wehrte sich Boris Johnson bislang standhaft. Ein Erdrutsch­sieg der SNP, so die Idee, würde den politischen Druck auf Johnson erhöhen, sodass er den Weg freigeben müsste.

Befürworterinnen der Unabhängigkeit argumentieren, dass das Land – das traditionell links wählt – nur gedeihen könne, wenn es sein Schicksal in den eigenen Händen halte, frei von Westminster und seiner Austeritäts­politik, frei von Boris Johnson und seinen bei ihnen verhassten Tories.

Die Opposition hingegen attestiert der Regierungs­partei SNP eine krankhafte Besessenheit von der Unabhängigkeits­frage, die sie über die Bedürfnisse der Bevölkerung stelle. Und überhaupt: Nach dem Brexit brauche das Land nicht noch mehr Spaltung und Unsicherheit.

Der tiefe Fall von Scottish Labour

Inhaltlich betreibt die SNP unter Nicola Sturgeon, die das Land derzeit mit einer Minderheits­regierung führt, was man als solid sozial­demokratische Politik beschreiben könnte: Abschaffung von Studien­gebühren, Ausrufung des Klima­notstands, Verstaatlichung der Eisenbahn. Das kann man politisch gut oder schlecht finden. Doch es wirft unweigerlich die Frage auf: Was macht eigentlich die Labour-Partei?

Lange war es nämlich der schottische Ableger der Labour-Partei, die den Landesteil regierte. Noch 1995 hielt die Partei 20 von 32 Bezirken. Im Mai 1999 gewann sie die ersten Wahlen für das neu geschaffene Regional­parlament und blieb für die nächsten acht Jahre in einer Koalition mit den Liberal­demokraten an der Macht. Dann allerdings ging es bergab, erst langsam, dann schnell. In den Regional­wahlen 2007 schlug die SNP Scottish Labour um einen Sitz, 2011 holte sie mit 69 von insgesamt 129 Sitzen die absolute Mehrheit im schottischen Parlament. Doch die grösste Demütigung für Labour sollte erst noch kommen: In den britischen Unterhaus­wahlen 2015, ein Jahr nach dem gescheiterten Unabhängigkeits­referendum, verlor Labour in Schottland 40 Sitze – alle bis auf einen.

Die aktuellen Beliebtheits­werte der Labour-Partei in Schottland lassen sich deshalb am besten an der Wahl­werbung von Jackie Baillie ablesen, der Vize-Vorsitzenden von Scottish Labour und Mitglied des Regional­parlaments seit der ersten Stunde: Einen Hinweis auf ihre Partei­zugehörigkeit sucht man auf den Wahlkampf­flyern der Kandidatin vergebens.

Erklärungen dafür, wie es so weit kommen konnte, gibt es verschiedene. Eine lautet: Die über Jahrzehnte angehäufte Machtfülle gipfelte in massloser Selbst­gefälligkeit, grassierender Vettern­wirtschaft und Korruption, wofür die Partei irgendwann die Quittung erhielt. Eine andere: Unter Tony Blair verkam die schottische Regional­sektion zu einer von London gesteuerten Filiale – ohne dass Blairs Rechtskurs der «Neuen Mitte» den Bedürfnissen der Schottinnen entsprochen hätte.

Zudem dürfte es nicht geholfen haben, dass Scottish Labour 2014 Schulter an Schulter mit dem konservativen Erzfeind, den Tories, gegen die Unabhängigkeit kämpfte und den Abstimmungs­sieg feierte. Von heute aus betrachtet wiegt dies umso schwerer: Denn die EU-Mitgliedschaft war ein Hauptargument der Nein-Kampagne, welche Labour, Konservative und Liberal­demokraten unter dem Titel «Better Together» gemeinsam bestritten hatten. Diese hätte Schottland bei einem Austritt aus dem Königreich mit ungewissem Ausgang erst neu verhandeln müssen – ein Argument, das angesichts des Brexits heute wie Hohn wirkt.

Fakt ist: Um in Westminster überhaupt je wieder an die Macht zu kommen, braucht Labour die Schottinnen. Denn dazu muss die Partei mindestens 124 zusätzliche Mandate ergattern. Und das geht fast nur über Sitzgewinne in Schottland: Bereits jetzt bräuchte Labour für einen Wahlsieg einen Zuwachs von mehr als 10 Prozent – wie zuletzt in den Jahren 1945 und 1997 –, ohne Schottland sind es sogar fast 14 Prozent.

Das Mantra von Labour in der Schottland­frage hat der Partei­vorsitzende Keir Starmer kürzlich wieder verlauten lassen: Ja, man sei für mehr regionale Kompetenzen, doch für das ganze Theater mit der Unabhängigkeit sei nun wirklich nicht die richtige Zeit.

Nachdem die Scottish-Labour-Kandidatin für die kommenden Parlaments­wahlen in Glasgow öffentlich geäussert hatte, die Partei respektiere das Recht der Bevölkerung auf ein weiteres Referendum, wurde sie nicht einfach abgemahnt, sondern kurzerhand aus dem Rennen genommen. Doch an der Parteibasis ist die Haltung in der Unabhängigkeits­frage längst nicht so eindeutig, wie von der Spitze proklamiert. Zumal die Aussichten auf eine Labour-Mehrheit im Vereinigten Königreich eher düster sind.

Wem sollen enttäuschte Labour-Wähler im Mai also ihre Stimme geben: den Grünen, die sich ebenfalls für die Unabhängigkeit einsetzen? Oder gleich der Schottischen National­partei?

Dass Letzteres überhaupt eine Option ist, liegt freilich daran, dass die SNP nicht das verkörpert, was man sich für gewöhnlich unter einer nationalistischen Partei vorstellt. Sie beschreibt ihre Position als «inklusiven Nationalismus». Die Partei setzt auf die Identifikation mit der schottischen Kultur und demokratischen Werten statt auf ethnische Zugehörigkeiten. Wer diese Werte teilt, soll sich frei in Schottland niederlassen dürfen. Ausländerinnen, inklusive anerkannter Flüchtlinge, sind in allen schottischen Angelegenheiten wahlberechtigt.

Auf die Spitzenplätze ihrer Regional­wahl­listen setzt die SNP bewusst Vertreter von Minderheiten. Zum Beispiel Roza Salih, die im Alter von zwölf Jahren aus Irakisch-Kurdistan flüchtete und sich gegen die gewaltsame Deportation von Flüchtlings­kindern durch die Grenzschutz­behörden wehrt. Oder Graham Campbell, laut Eigen­bezeichnung «Schottlands erster afrikanisch-karibischer Stadtrat, Rastafari, schottisch-jamaikanischer Musiker, Dichter, Antirassist und Fundraiser», der mitverantwortlich dafür ist, dass die Universität Glasgow ihr koloniales Erbe aufarbeitete – und 20 Millionen Pfund Reparations­zahlungen für ihre Profite aus dem Sklaven­handel leistete.

In der Unabhängigkeits­bewegung gefallen diese Personalien längst nicht allen.

Die Rache des früheren First Minister

Das Lager der Unabhängigkeits­befürworterinnen war immer ein zusammen­gewürfelter Haufen von Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Haltungen. Unter der Oberfläche brodelte es in dieser Zweck­gemeinschaft also schon länger. Jetzt droht sie nach einer Reihe von Skandalen und Kontroversen auseinanderzufallen.

Losgetreten wurde das Chaos durch die sogenannte «Salmond-Saga».

Erster Akt: Im Zuge von #MeToo sagte die schottische Regierung unter der jetzigen Amts­inhaberin Nicola Sturgeon von der SNP sexueller Belästigung in den eigenen Reihen den Kampf an. Eine entsprechende interne Untersuchung richtete sich ausgerechnet gegen Alex Salmond, Sturgeons Vorgänger, Mentor, Freund. Salmond wehrte sich vor Gericht – und gewann. Das Gericht befand, dass die Untersuchung gegen ihn mit groben Mängeln behaftet war, und verpflichtete die Regierung, ihm die Anwalts­kosten von mehr als einer halben Million Pfund Sterling zu bezahlen.

Zweiter Akt: Die Strafjustiz hatte in vierzehn Fällen Anklage gegen Alex Salmond erhoben – darunter zweimal wegen versuchter Vergewaltigung und neunmal wegen weiterer sexueller Übergriffe. Doch weil die Untersuchung der Regierung unterdessen als fehlerhaft qualifiziert worden war, entlastete ihn eine Jury weitestgehend. Die mutmasslichen Opfer standen mit leeren Händen da. Um die Rolle der Regierung in der Affäre zu durchleuchten, wurde ein parlamentarischer Untersuchungs­ausschuss eingesetzt.

Dritter Akt: Als Alex Salmond vom Untersuchungs­ausschuss vorgeladen wurde, sagte er aus, Opfer einer Verschwörung von Nicola Sturgeon und ihrer Regierung geworden zu sein. Man habe ihn in der Öffentlichkeit diskreditieren wollen. Seither schlachten die Medien jedes neue Detail, das zu der Saga auftaucht, genüsslich aus. Und die Oppositions­parteien nutzen die Gelegenheit, um am Stuhl der populären Regierungs­chefin zu sägen. Noch bevor Nicola Sturgeon selbst vor dem Ausschuss aussagte, bezichtigten die schottischen Tories sie der Lüge und kündigten ein Misstrauens­votum an – das später scheitern sollte.

Schlimmer allerdings: Die Feinde im eigenen Lager begannen sich zu offenbaren.

Nicht nur für probritische Trolle wie etwa die Anhängerinnen der rechts­extremen British Freedom Party ist Nicola Sturgeon ein Hassobjekt. Sondern auch für die radikalen Unabhängigkeits­befürworter der sogenannten «Cybernats». Der Umgangs­ton, besonders auf Twitter, Facebook, Instagram, ist aggressiv – misogyn, LGBT-feindlich, rassistisch.

Die einen verunglimpfen Sturgeon als sozialistische Separatistin, die anderen als Verräterin, die die Partei mit ihrer Diversitätspolitik in den Ruin treibe – und es mit der schottischen Unabhängigkeit nicht wirklich ernst meine.

Diese Positionen sind keineswegs Rand­phänomene, sondern bis weit in die oberen Ränge der SNP verbreitet.

Die Bewegung zersplittert

Etliche Partei­exponentinnen stellten sich im Zuge der «Salmond-Saga» demonstrativ hinter den ehemaligen Regierungs­chef. Und Salmond selbst verkündete die Gründung einer neuen Unabhängigkeits­partei, der sogenannten Alba Party, benannt nach dem gälischen Namen Schottlands.

Mehrere hochkarätige SNP-Mitglieder schlossen sich postwendend der neuen Partei an. Und aus der Twitter-Blase gesellten sich ein paar weniger hochkarätige Alba-Neuzugänge dazu: etwa ein ehemaliger Profiboxer, der auf Twitter vor «bettelnden Roma» warnte, die er als «überfütterte Schweine» bezeichnete, und sich damit brüstete, keine Covid-Impfung nötig zu haben. Oder der offizielle Alba-Kandidat Jim Walker, der Nicola Sturgeon öffentlich als «Kuh» beschimpfte.

Sturgeon wiederum kommentierte Salmonds Schachzug wie folgt: «Es gibt Leute, in der Tendenz sind es Männer, deren Ego es nicht erlaubt, die Bühne zu verlassen, wenn es Zeit wäre – zum Wohle der Bevölkerung und auch, so würde ich behaupten, zur Wahrung ihrer eigenen Würde.»

Spätestes nach der Unabhängigkeit hätte sich die Bewegung in alle politischen Winde zerstreut. Jetzt bricht sie schon vorher auseinander.

Die Alba Party beteuert dabei absurder­weise, sich keineswegs als Konkurrenz der SNP zu verstehen: Wer die Unabhängigkeit befürworte, soll dank Alba nun eine «Super-Mehrheit» im schottischen Parlament erringen können. Eine Kandidatin prahlte freimütig damit, worum es geht, nämlich: das schottische Wahlsystem zu manipulieren. Dieses funktioniert nicht – wie etwa die britischen Unterhaus­wahlen – ausschliesslich nach dem Mehrheits­wahlrecht (was die SNP als grosse Volkspartei stark bevorzugen würde). Vielmehr sieht das System einen Ausgleichs­mechanismus vor, der kleineren Parteien zugutekommt. Diesen Mechanismus will sich die Alba Party zunutze machen – was im Ergebnis dazu führen würde, dass im Parlament proportional mehr Unabhängigkeits­befürworter sitzen, als es den Verhältnissen in der schottischen Bevölkerung entspricht.

Von einer zersplitterten Unabhängigkeits­bewegung allerdings dürfte kaum der erhoffte politische Druck auf Boris Johnson ausgehen. Und wichtiger: Wenn Johnson die lang ersehnte Abstimmung trotzdem bewilligte, würde eine «Super-Mehrheit» nach Alba-Strategie bei der Sezessions­frage ohnehin nicht die tatsächlichen Mehrheiten der Bevölkerung abbilden.

Apropos Bevölkerung: Dass dieser die Lust auf die Unabhängigkeit noch vergeht, ist angesichts des Medien­zirkus um Salmond und seiner Alba Party zumindest nicht ganz auszuschliessen. Die Umfrage­werte changieren im Tages­rhythmus: Einmal kostet Salmonds neue Partei der SNP die ansonsten erwartete absolute Mehrheit, ein anderes Mal gewinnt die SNP haushoch – und die Alba Party keinen einzigen Sitz.

Immerhin: Laut einer aktuellen Umfrage würden 51 Prozent der Britinnen ein weiteres Unabhängigkeits­referendum innerhalb der nächsten Legislatur gutheissen, sollte Nicola Sturgeon mit der SNP die Mehrheit im Parlament gewinnen. Und dafür sieht es nicht allzu schlecht aus.