Was ist ein Bitcoin wirklich wert?
Momentan kostet ein einziges Stück der Kryptowährung über 55’000 Franken. Ist das gerechtfertigt? Dazu gibt es mehrere Theorien. Und alle haben ihre Tücken.
Von Simon Schmid, 12.04.2021
Premiere!
Dies ist das erste Mal, dass wir in «Auf lange Sicht» über Bitcoin schreiben.
Das will gefeiert werden – mit einer Grafik, die schon für Furore gesorgt hat, weil sie so spektakulär ist: der Kurs, zu dem ein Bitcoin gehandelt wird.
Die Grafik zeigt, wie der Bitcoin an Wert zugelegt hat: Zu Beginn des Jahres 2015 wurden an Tauschbörsen rund 300 Dollar bezahlt, inzwischen sind es fast 60’000 (also umgerechnet über 55’000 Franken). Ein steiler Anstieg, der viele zum Staunen bringt.
Doch wie kommt man eigentlich auf so eine Zahl: 60’000 Dollar?
Warum sind Leute bereit, eine Einheit der Kryptowährung genau zu diesem Kurs umzutauschen? Warum nicht 600 Dollar? Oder 600’000 Dollar?
Wie Anlagen normalerweise bewertet werden
Wer an der Börse irgendetwas handelt – seien es indische Rupien, eine Ladung Schweinebäuche oder eine Aktie von Nestlé –, macht sich üblicherweise Gedanken darüber, welchen Wert dieses Ding hat.
Dabei spielen verschiedene Faktoren mit:
Bei einer Ladung Schweinebäuchen ist es am einfachsten. Hier würde sich ein Käufer überlegen, wie viel es kostet, ein Schwein aufzuziehen, zu schlachten und zu verarbeiten – dies wäre ein guter Anhaltspunkt für den Mindestpreis eines Schweinebauchs. Und er würde sich überlegen, zu welchem Preis jemand im Supermarkt ein Kilo Schweinefleisch kaufen würde – ein Indiz für den maximalen Preis, den man dafür verlangen kann. Eine Rolle spielt dabei etwa, wie viel ein Kilo Poulet oder Tofu kostet.
Bei einer Aktie schauen Investorinnen normalerweise auf den Gewinn. Nestlé hat in den vergangenen beiden Jahren jeweils rund 12 Milliarden Franken verdient. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wird sie weiter solche Gewinne erzielen. Diese können als Dividende an die Aktionäre ausbezahlt werden – sie machen den fundamentalen Wert der Firma aus und sind der wichtigste Anhaltspunkt dafür, wie viel die Aktie wert ist.
Bei einer Währung schaut man auf die Preise in einem Land. Wenn ein Warenkorb (bestehend aus allerlei alltäglichen Gütern sowie Miete, Strom, Transport und sonstigen Sachen, die man im Leben so braucht) in Indien zum Beispiel 80’000 Rupien kostet und ein nahezu identischer Korb in der Schweiz 1000 Franken, so kann man davon ausgehen, dass der Wechselkurs ungefähr 80 Rupien pro Franken betragen sollte. Jedenfalls nicht 800 Millionen Rupien pro Franken oder 0,0008 Rupien pro Franken.
Bei Kryptowährungen funktionieren all diese Ansätze nicht. Denn man kann einen Bitcoin nicht essen, ein Bitcoin zahlt keine Dividende, und es gibt in keinem Land einen Supermarkt, in dem die Preise in Bitcoin angegeben sind.
Wie soll man also wissen, was der faire, angemesse Wert eines Bitcoin ist?
Ansatz 1: Die Produktionskosten
Um diese Frage zu beantworten, wurden verschiedene Ideen in den Raum beziehungsweise ins Netz gestellt. Eine davon stützt sich, ähnlich wie bei den Schweinebäuchen, auf die Herstellungskosten eines Bitcoins.
Diese liegen gemäss Schätzungen zurzeit bei rund 5000 Dollar. So viel geben die sogenannten Miner im Schnitt aus, um eine Einheit der Kryptowährung zu «schürfen». Dabei versuchen sie, mit leistungsstarken Computern und grossen Mengen an Strom jene Zahlenrätsel zu lösen, die essenziell für den Betrieb der sogenannten Blockchain sind – also der Datenbank, auf der Bitcoin beruht und in der sämtliche Bitcoin-Transaktionen verzeichnet sind.
Wer als Miner ein solches Zahlenrätsel löst, darf sich selbst eine bestimmte Menge an Bitcoin gutschreiben. Diese Belohnungen sind der Anreiz dafür, überhaupt erst Rechenleistung in den Betrieb der Blockchain zu stecken. Fehlt dieser Anreiz, so schalten die Miner ihre Maschinen ab, und es dauert nicht lange, bis Bitcoin aufhört zu existieren. So gesehen wären 5000 Dollar eine Art Mindestpreis, ohne den es die Kryptowährung gar nicht geben kann.
Doch die Sache hat einen Haken.
Die Herstellungskosten eines Bitcoins sind keine fixe Grösse. Sondern sie schwanken mit der Beteiligung am System. Je mehr Miner beim Rätselraten mitmachen, desto schwieriger werden die Rätsel. Und je weniger Miner mitmachen, desto einfacher werden sie. Ungefähr so, als müsste ein Schwein umso mehr Futter fressen, je mehr Schweinezüchter es gibt.
Damit soll quasi sichergestellt werden, dass nicht zu viele Schweine auf einmal heranwachsen. Beziehungsweise: dass im Schnitt genau alle zehn Minuten ein Bitcoin-Rätsel gelöst wird – egal, wie viel oder wie wenig Rechenleistung die Miner gerade fürs Rätsellösen bereitstellen.
Ob man als Miner nun 500, 5000 oder 50’000 Dollar ausgeben muss, um einen Bitcoin zu schürfen, hängt also stark davon ab, wie viele andere Miner gerade am Schürfen sind. Und das wiederum hängt davon ab, wie lukrativ das Schürfen überhaupt ist: Kann man einen geschürften Bitcoin für viel Geld verkaufen, steigen viele Miner ins Geschäft ein, die Rätsel werden schwieriger, der Bitcoin-Ertrag der einzelnen Miner nimmt ab, und die mittleren Produktionskosten eines Bitcoins gehen hoch. Umgekehrt läuft es, wenn der Bitcoin-Preis sinkt und Mining finanziell weniger attraktiv wird.
Bitcoins können deshalb nicht wie Schweinebäuche bewertet werden. Ihre Produktionskosten stimmen zwar historisch gut mit dem Bitcoin-Kurs überein – doch das ist eine Begleiterscheinung und kein eigentlicher Grund.
Ansatz 2: Die Knappheit
Eine andere Theorie knüpft den Wert des Bitcoins an dessen Knappheit.
Ungefähr nach folgendem Motto: Dinge, die im Überfluss existieren und sich jederzeit in beliebiger Stückzahl herstellen lassen (etwa Aquarelle des Eiffelturms), sind wenig wert. Dinge, die dagegen rar sind und kaum je auf den Markt kommen (zum Beispiel ein Kunstwerk von Banksy), sind viel wert.
Das leuchtet ein – doch wie misst man Knappheit konkret?
Die besagte Theorie versucht es anhand der Wachstumsrate des Geldes. Sie sagt: Je weniger Bitcoins im Lauf eines Jahres im Vergleich zu den bereits geschürften Bitcoins hinzukommen, desto wertvoller wird ein Bitcoin.
Diese Idee stiess in der Krypto-Szene auf Anklang. Denn in dieser Szene ist eine Eigenschaft von Bitcoin sehr beliebt: dass die Gesamtmenge aller Bitcoins, die Miner jemals werden schürfen können, strikt begrenzt ist.
Stand heute wurden ungefähr 18,7 Millionen Bitcoins geschürft. Pro Jahr kommen gut 300’000 neue Bitcoins hinzu, also rund 2 Prozent.
Ungefähr alle vier Jahre halbiert sich die Geschwindigkeit, mit der Bitcoins produziert werden (oder genauer: Die Belohnung, die Miner fürs Schürfen erhalten, halbiert sich). Dies ist vom Bitcoin-Protokoll fix so vorgesehen.
Die gesamte Bitcoin-Menge wächst deshalb immer langsamer. Im Jahr 2040 wird das Wachstum bereits fast bei null liegen und im Jahr 2140 schliesslich ganz bei null (falls es dann überhaupt noch Bitcoins gibt).
Auf diese Weise wird im Bitcoin-System eine Art von Knappheit erzeugt.
Im Rückblick zeigt sich, dass mit den Bitcoin-Geschwindigkeitshalbierungen jeweils ein Kursanstieg einherging. Im März 2019, als die Knappheitstheorie publiziert wurde, stand der Bitcoin bei rund 4000 Dollar. Der Autor sagte damals voraus: Nach der nächsten Halbierung im Mai 2020 werde der Preis auf 55’000 Dollar steigen. Heute zeigt sich: Die Prognose war ein Volltreffer.
Der Popularität der Knappheitstheorie (die als «Stock-to-Flow-Modell» bekannt ist) kam dies natürlich zugute. Und dass ihr Autor für 2024 bereits einen weiteren Kurssprung auf 288’000 Dollar pro Bitcoin vorausgesagt hat, beflügelt die Fantasie von Anhängerinnen sogar noch mehr.
Doch auch diese Theorie hat einen Haken: Sie ist mathematisch unmöglich.
Denn gemäss der Formel, die dabei im Zentrum steht, muss der Bitcoin-Wert mit abnehmender Wachstumsrate immer höher steigen. 2040 würde der Kurs bereits bei 10 Milliarden Dollar pro Bitcoin liegen; 2140 wäre ein Bitcoin schliesslich unendlich viel wert. Wie gesagt, das ist komplett unmöglich.
Verschiedene Autoren haben deshalb Kritik an der Knappheitstheorie geübt oder sie für falsch erklärt. Zu Recht: Denn die Theorie beschreibt bloss, wie rasch der Kurs in den letzten Jahren gestiegen ist oder noch steigen könnte.
Sie erklärt aber nicht, warum er ein bestimmtes Niveau erreicht hat.
Ansatz 3: Gold
Diese Lücke versucht eine weitere These zu schliessen. Auch sie ist unter Investorinnen ziemlich beliebt und besagt: Bitcoin ist wie digitales Gold.
Bitcoin mit Gold zu vergleichen, bedeutet, dass man beides als eine separate Anlageklasse einstuft. Ungefähr so, wie manche Anleger ihrem Portfolio neben Aktien, Obligationen und Immobilien gerne auch einen Teil Gold beimischen, würden sie künftig vermehrt einen Teil ihres Vermögens in Bitcoin halten. Sei es zur Diversifizierung oder weil sie davon überzeugt sind, dass Bitcoin (ähnlich wie Gold) seinen Wert über die Jahre beibehält.
Auch bei der Goldthese ist die Idee der Knappheit wichtig. Gold ist ein Edelmetall: Bisher wurden weltweit rund 200’000 Tonnen gefördert, das entspricht einem Würfel mit einer Kantenlänge von 22 Metern. Rund 50’000 Tonnen liegen zudem noch unter der Erde – mehr Gold gibt es nicht.
Ähnlich ist es bei Bitcoins: Ihr Vorrat ist begrenzt, und sie können nicht wie Papiergeld in beliebiger Menge gedruckt werden. Anders als beispielsweise Trüffeln (die auch ziemlich wertvoll sind) verderben Bitcoins auch nicht, und im Vergleich mit Gold sind sie sogar noch einfacher handel-, transportier- und lagerbar. Es braucht dafür keinen Tresor, ein einfacher Computer genügt.
Wie wertvoll ist ein Bitcoin gemäss der Goldthese?
Nimmt man sämtliches Gold, das zurzeit zu Anlagezwecken gehalten wird, und bewertet es zum aktuellen Handelspreis, kommt man auf einen Betrag von rund 2,5 Billionen Dollar. Dividiert man dies durch die Gesamtzahl der Bitcoins, kommt man auf ungefähr 135’000 Dollar pro Bitcoin. Man kann diese Zahl als eine Art Obergrenze für den Bitcoin-Kurs ansehen, der sich einstellen würde, wenn alle privaten Anlegerinnen der Welt ihr Gold abstossen und stattdessen nur noch Bitcoins halten würden.
Verblüffend an dieser Zahl ist vor allem, wie nahe sie dem momentanen Kurs ist. Zwischen 60’000 und 135’000 Dollar liegt gar kein so grosser Unterschied.
Doch auch gegen die Goldthese werden oft Einwände vorgebracht:
Gold hat als Edelmetall einen inhärenten Wert: Man kann es verwenden, um Schmuck herzustellen oder Zähne zu flicken. Bitcoins nicht.
Bitcoin ist zwar knapp, aber nicht die einzige Kryptowährung. Zahlreiche andere Währungen bieten sich ebenfalls als Gold-Alternative an.
Gold wird seit Tausenden von Jahren als wertvoll angesehen. Bitcoin könnte schon in ein paar Jahren bereits überholt sein.
Gold überlebt selbst einen Kometeneinschlag mit weltweitem Stromausfall. Bitcoin vermutlich nicht.
Ob Investoren in den kommenden Jahren wirklich wie Lemminge ihr Gold in Bitcoins umtauschen werden, muss sich zeigen. Passiert dies nicht, so fällt die Goldthese (und womöglich auch der Bitcoin-Kurs) in sich zusammen.
Denn: Knappheit ist zwar eine notwendige Voraussetzung dafür, dass etwas wertvoll ist. Doch sie ist keine Garantie. Stellen Sie sich vor, die französische Regierung würde jedes Jahr Tausende Aquarelle des Eiffelturms schreddern lassen. Irgendwann wären diese Bilder extrem rar. Aber wären sie deshalb so viel wert wie ein (geschredderter oder auch intakter) Banksy?
Fazit
Falls Sie sich bis hierher durchgekämpft haben: Chapeau!
Vielleicht schreiben wir in der «langen Sicht» künftig wieder mal über Bitcoin. Vielleicht auch nicht. In der Zwischenzeit nehmen Sie einfach Folgendes mit: Es gibt momentan keine zuverlässige Methode, mit der man Bitcoins bewerten kann. Und: Es wird vermutlich auch nie eine geben.
Denn Bitcoin basiert zwar auf einer ausgeklügelten und komplizierten Technologie. Doch mit dem Kurs ist es am Ende des Tages ziemlich einfach:
60’000 Dollar für einen Bitcoin sind gerechtfertigt, wenn Sie glauben, dass jemand anders in Zukunft ebenfalls 60’000 Dollar (oder mehr) dafür bezahlen wird – zum Beispiel, weil das Interesse weiter zunimmt und immer mehr Leute Bitcoins benutzen oder damit spekulieren wollen.
60’000 Dollar sind nicht gerechtfertigt, wenn Sie dies nicht glauben.
Ein anderer Anker, an dem man sich für eine fundamentale, in der realen Welt abgestützte Bewertung von Bitcoin festhalten kann, existiert nicht.