Über der Grenze
Europa setzt im Mittelmeer zur Abwehr von Migranten auf eine neue Taktik: Flugzeuge statt Rettungsschiffe. Recherchen der Republik legen das verdeckte Zusammenspiel des EU-Grenzschutzes mit der libyschen Küstenwache offen. Eine Geschichte über kaltes Kalkül und Geflüchtete in Lebensgefahr.
Von Vera Deleja-Hotko, Ann Esswein, Bartholomäus von Laffert, Daniela Sala (Text) und Anna Traussnig (Visualisierung), 10.04.2021
Nour Said kann nicht mehr. Es ist der 18. Juni 2020, und er treibt irgendwo im Mittelmeer zwischen Italien und Libyen. Mittlerweile gibt es kein Trinkwasser, kein Essen und kein Benzin mehr. Und der Wind wird immer stärker, die Wellen werden immer höher.
Vor 30 Stunden hat Said mit über einem Dutzend weiterer Menschen ein kleines Boot bestiegen. Seither kleben sie dicht aneinander. Bereits am ersten Tag fiel mehrmals der Motor aus. Der Kapitän verlor die Orientierung, er ist kein richtiger Seemann. Die Nacht verbrachten sie auf hoher See. Jetzt legt Said den Kopf in den Nacken und schaut in den Himmel. Er entdeckt ein Flugzeug, das über ihnen kreist. Hoffnung, denkt er.
Doch das Flugzeug wird Nour Said und die anderen nicht retten. Nur mit viel Glück überlebt er und kann er heute seine Geschichte erzählen. Sie beginnt so: «Mein Name ist Nour Said, ich bin 30 Jahre alt. Ich habe 12 Jahre in Libyen gelebt. Ich habe viel Geld ausgegeben und bin vor dem Tod weggelaufen.»
Nour Said, der ursprünglich aus Ägypten kommt und zu seinem Schutz einen anderen Namen trägt, ist einer von über 53’000 Menschen, die laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im vergangenen Jahr versucht haben, über das zentrale Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Das wird immer schwieriger.
Said gehört auch zu jenen etwa 16’800 Menschen, die 2020 an der Überfahrt aus Nordafrika in Richtung Europa scheiterten. Und die kleine, viersitzige Propellermaschine, die über den Schiffbrüchigen kreiste, hat damit zu tun.
Warum kam keine Rettung?
Die Geschichte von Nour Said ist nicht nur die Geschichte einer gescheiterten Flucht von Libyen nach Europa. Sie ist auch ein Beleg für eine neue Taktik der EU, von ihren Mitgliedsstaaten am Mittelmeer und von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, den Menschen die Flucht nach Europa möglichst zu verunmöglichen – und das angeblich legal.
Tatsächlich?
Sicher ist: Die neue Taktik verändert die Verhältnisse auf dem zentralen Mittelmeer grundlegend – und macht die Flucht über das Wasser für Schutzsuchende noch gefährlicher.
Ein halbes Jahr lang hat die Republik zum Vorgehen von Frontex recherchiert, Daten gesammelt und Fälle – wie jenen von Said – rekonstruiert.
Frontex ist die Agentur der Europäischen Union für die Grenz- und Küstenwache. Sie wurde 2004 gegründet und koordiniert die Zusammenarbeit der EU-Staaten an der europäischen Aussengrenze, unterstützt bei der Ausbildung von nationalen Grenzschutzbeamtinnen und bei Abschiebungen. Auch die Schweiz ist beteiligt: Sie unterstützt Frontex finanziell und entsendet seit 2011 auch Grenzwächter für Einsätze. Immer wieder gerät Frontex in die Kritik. Letzten Herbst erschienen Berichte, die Frontex vorwerfen, dass Geflüchtete, die nach Griechenland wollen, zurück in die Türkei gedrängt werden. Solche sogenannten pushbacks sind illegal.
Seit 2016 reduzieren Frontex und die EU-Küstenstaaten die Zahl ihrer Schiffe im zentralen Mittelmeer. Die Flotte der EU-Militäroperation Irini (vormals Sophia) ist auf drei Schiffe zusammengeschrumpft. Und diese sollen nur noch in einem Rayon operieren, der 100 Kilometer vor der libyschen Küste endet, dort, «wo die Wahrscheinlichkeit, in Rettungsaktionen involviert zu werden, geringer ist» – so steht es in einem internen Schreiben des EEAS (Europäischer Auswärtiger Dienst) vom Februar 2020.
Dafür kreisen fast täglich drei kleine Propellerflugzeuge über dem Mittelmeer zwischen Italien und Libyen: Sie heissen Eagle 1, Osprey 1 und Osprey 3 und fliegen im Auftrag von Frontex. Gesteuert werden sie von Piloten des britischen Unternehmens Diamond Executive Aviation. Ein Unternehmen, das normalerweise über Windparks fliegt, um aus der Luft den Zustand der Rotorblätter zu überwachen. Für Frontex halten sie Ausschau nach Menschen in Seenot, um deren Position an für die Rettung zuständige Seenotleitstellen weiterzugeben.
War es also ein Frontex-Flieger, den Nour Said am 18. Juni 2020 kreisen sah? Und wenn ja: Warum kam keine Rettung?
Open-Source-Flugdaten zeigen, dass die Eagle 1 in unmittelbarer Nähe zur letzten bekannten Position des Bootes flog. Ebenso wurde an diesem Tag laut einem internen Dokument des Europäischen Auswärtigen Dienstes ein Boot mit den gleichen Eckdaten wie jenes von Said registriert.
Auf Nachfrage der Republik bestreitet Frontex, dass die Eagle 1 das Boot gesehen habe. Die Grenzschutzagentur bestätigt jedoch, am darauffolgenden Tag sei ein Boot mit etwa 15 Menschen an Bord gesichtet worden. In einem solchen Fall informiere Frontex die zuständigen Seenotleitstellen im zentralen Mittelmeer. Dazu gehörten neben der von Libyen auch jene von Tunesien, Malta und Italien, so der Frontex-Sprecher: «Es ist die Aufgabe dieser Seenotleitstellen, darüber zu entscheiden, wer die Rettung übernehmen soll, und nicht die Rolle von Frontex – egal, wie Sie recherchieren, um Ihre weit hergeholten Theorien zu untermauern.»
Für das Boot mit Nour Said fühlte sich anscheinend niemand zuständig.
«Wir haben die Hände in die Luft gestreckt und angefangen, sie von einer zur anderen Seite zu schwenken», erzählt Said in einem Videotelefonat und reckt zur Illustration die Arme hoch. «Das Flugzeug hat abgedreht. Wir dachten, es würde Hilfe holen. Doch die kam nicht.» Weil der Tank leer ist, treiben die Wellen das Boot weiter nach Osten. Said kann nicht schwimmen, und er trägt keine Schwimmweste – so wie die meisten auf dem kleinen Plastikboot.
Nach einigen Stunden wird das Boot an eine tunesische Ölplattform gespült. Die Gruppe ruht sich dort aus und bekommt von den Arbeitern etwas zu essen und zu trinken, bevor sie erneut Richtung Norden aufbricht, Richtung Europa. Doch wieder verliert der Mann am Steuer die Orientierung.
«Und als die Nacht eintrat und die Wellen immer höher wurden, stieg das Boot mit den Wellen und senkte sich. Wir dachten, dass wir sicher sterben werden», erinnert sich Said.
Am darauffolgenden Morgen, am 19. Juni, sieht Said wieder eine Propellermaschine kreisen. Es ist der Beginn des dritten Tages in Not auf hoher See.
Das müsste nicht sein. Es dürfte nicht sein. Denn als Said das Flugzeug am Tag zuvor gesehen hatte, befanden sich die Schiffbrüchigen bereits in der sogenannten SAR-Zone (Search and Rescue) von Malta. Der EU-Staat wäre damit für die Rettung zuständig gewesen. Es wäre die Aufgabe von europäischen Behörden gewesen, den Menschen im Boot zu helfen.
Auf hoher See gilt ein einfaches Gesetz: Jedem Schiff und jedem Menschen in Seenot muss geholfen werden. Verpflichtet ist dazu jeder Kapitän eines Schiffes, das sich in unmittelbarer Nähe befindet – auch eines Handelsschiffes, das pünktlich seine Ware im nächsten Hafen abliefern muss. Und auch die Küstenstaaten sind dazu verpflichtet. Auf dem zentralen Mittelmeer sind das Italien und Malta, die von Frontex unterstützt werden, sowie Tunesien und Libyen. Diese Staaten müssen ihre jeweilige SAR-Zone rund um die Uhr überwachen, um so Schiffe mit Menschen in Seenot retten zu können.
Früher taten sie dies primär mit Rettungsschiffen. Heute lassen sie kleine Propellermaschinen über das zentrale Mittelmeer fliegen. Für die EU und ihre Agentur Frontex bietet das die Möglichkeit, geltende Seerechtskonventionen zu umgehen – ohne sie zu verletzen. Das ist die neue Taktik.
Die libysche Küstenwache übernimmt
«Der Vorteil von Drohnen und Flugzeugen ist, dass man am Ende immer noch sagen kann, man habe das Boot nicht gesehen oder nicht auf dem Radar gehabt», sagt Violeta Moreno-Lax in einem Videotelefonat. Sie ist Rechtswissenschaftlerin an der Queen Mary University in London.
Hinzu komme, sagt Moreno-Lax, dass Flugzeuge gar keine Möglichkeit hätten, Menschen in Seenot aufzunehmen – im Gegensatz zu einem Militärschiff, das etwa 250 Leute an Bord nehmen könne und sie in einen sicheren Hafen bringen müsse. Die Pilotinnen können nur aus der Luft beobachten und die Seenotleitstellen der jeweiligen SAR-Zone informieren.
Am ersten Tag, als Nour Said auf hoher See treibt, ist laut Logbuchdaten sowie Video- und Tonaufnahmen der NGO Sea-Watch wenige Seemeilen entfernt ein weiteres Boot auf dem Weg von Libyen nach Europa. Auch über diesen mehr als 100 Köpfen kreist das Frontex-Flugzeug Eagle 1. Knapp eine Stunde danach wird das blaue Holzboot von einem Schiff der libyschen Küstenwache aufgegriffen, der Ras Al Jadar, und nach Tripolis gebracht.
«Unsere Aufgabe ist es, den Schmuggel von Waffen und Drogen sowie die illegale Migration zu unterbinden», sagt Admiral Reda Issa im Gespräch mit der Republik Mitte Februar 2021. «Ebenso retten wir Menschen, die auf See in Not geraten.» Der 56-Jährige sitzt in Marineuniform an seinem schweren Holzschreibtisch in seinem Büro in der libyschen Stadt Misrata. Neben seinem Computer stehen die libysche Flagge und ein Modellsegelschiff.
Schon unter Muammar al-Ghadhafi hat Issa in der Navy gedient, nun holt er Geflüchtete, die nach Europa wollen, nach Libyen zurück. Issa ist Kommandeur der libyschen Küstenwache, verantwortlich für den zentralen Abschnitt. Sein Zuständigkeitsbereich erstreckt sich von der kleinen Stadt Garabulli nahe Tripolis östlich entlang der Küste bis Sirte. «Ganz ehrlich», sagt Issa, «wir sehen einen riesigen Rückgang der illegalen Migration, und das ist der libyschen Küstenwache zu verdanken. Das haben auch die europäischen Partner bemerkt.»
Erst seit drei Jahren hat Libyen eine eigene Seenotrettungszone. Sie wurde eingerichtet mit der Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, allen voran Italien. Zuvor hatte Italien im libyschen Gebiet die Überwachungs- und Rettungsverantwortung übernommen.
Heute ist Reda Issa zuständig. Auf seinem Schreibtisch stehen auch zwei Telefone. Auf dem einen, erklärt er, riefen die europäischen Behörden an, wenn sie einen Seenotfall zu melden hätten. In den meisten Fällen sei die maltesische Seenotleitstelle dran. Diese erhält von den Frontex-Flugzeugen die Positionen der Boote mit den Geflüchteten. Befindet sich ein Boot in der libyschen SAR-Zone in Seenot, dann rufen die Seenotleitstellen Reda Issa oder einen seiner Kollegen an und geben die Position durch. Doch oft sei das Telefonnetz so schlecht, dass er die Anrufer kaum verstehen könne, sagt Issa.
Seit 2016, zeitgleich mit dem schrittweisen Abzug der Rettungsschiffe, vertiefen die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Beziehung mit Libyen. Allein aus dem 2015 gegründeten European Trust Fund for Africa flossen bis 2020 insgesamt 57,2 Millionen Euro für das Integrated Border Management nach Libyen, unter anderem für die Ausbildung und die Aufrüstung der Küstenwache. Hinzu kommt die bilaterale Unterstützung aus EU-Staaten: Nach Berechnungen der italienischen NGO Arci hat Italien seit 2017 mindestens 521 Millionen Euro ausgegeben. Die Hilfsorganisation schreibt in einem Bericht von Juli 2020, mindestens 22 Millionen davon seien direkt an die libysche Küstenwache gegangen. Zudem wurden Schiffe und Speedboote zur Verfügung gestellt.
Für Admiral Issa ist das nicht genug. Immer wenn ein Anruf kommt, schickt er sofort eines seiner vier Schiffe los, um nach dem Boot in Seenot zu suchen: «Aber unser Equipment ist nicht dafür gemacht, Menschen zu retten.»
Bei Frontex ist man trotzdem überzeugt, dass die libysche Küstenwache in gewissen Fällen die richtige Hilfe ist, um Menschen in Seenot zu retten. Der Sprecher sagt: «Man kann sicher davon ausgehen, dass viel mehr Menschen sterben würden, wenn Frontex nicht ihre kaputten, komplett überfüllten Boote mit Dutzenden von Menschen ohne Rettungswesten finden würde.»
Zurück zu den Folterern
Doch dem widerspricht Safa Msehli, die Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration. Zwar seien in den vergangenen Jahren im Mittelmeer insgesamt weniger Ertrunkene verzeichnet worden. Allerdings sei die Todesrate von Menschen, die versuchten, nach Europa zu gelangen, massiv gestiegen. «Wir gehen von immer mehr sogenannten ‹unsichtbaren Schiffswracks› aus, die niemals jemand findet, weil einfach kaum Schiffe auf dem Meer unterwegs sind oder Überwachungskapazitäten fehlen», sagt Msehli. «Immer wieder erfahren wir von Leichen, die an den Strand gespült werden, die wir keinem gesunkenen Boot zuordnen können.»
Und selbst wenn die libysche Küstenwache Menschen rettet – sie werden keineswegs in Sicherheit gebracht. Sondern zurück in die Festhaltezentren in Libyen, aus denen sie geflohen sind. Auch das kratzt am Völkerrecht: Ein Schiff ist nicht nur verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten, sondern muss sie auch an einen «sicheren Ort» bringen.
Doch was heisst das, ein sicherer Ort? Es ist nicht zwingend der nächstgelegene Hafen. Es ist ein Ort, an dem keine Menschenrechtsverletzungen drohen sowie Grundbedürfnisse wie Nahrung, Obdach und medizinische Versorgung gedeckt werden.
Klar ist: Libyen ist kein sicherer Ort. Seit Jahren ist bekannt, dass geflüchtete Menschen dort eingesperrt und gefoltert werden, zuletzt bestätigte das Amnesty International in einem Bericht vom September 2020.
«Unsere Analyse zeigt, dass Frontex-Flugzeuge im vergangenen Jahr eine zentrale Rolle beim Abfangen und Zurückbringen von Geflüchteten und Migranten im zentralen Mittelmeer gespielt haben», sagt Matteo de Bellis, Asyl- und Migrationsexperte bei Amnesty International und der Autor des Berichts. Ausgeführt wurden die Rückführungen zwar von der libyschen Küstenwache, jedoch waren es die Frontex-Flugzeuge, die ihre Position ausmachten und weitergaben. «Auf diese Weise hilft Frontex dabei, dass jedes Jahr Tausende Menschen in das Land zurückgebracht werden, aus dem sie fliehen, und Ausbeutung und Folter ausgesetzt werden.»
Ein typischer pushback ist dieses Vorgehen nicht. Bei pushbacks, wie sie wiederholt in der Ägäis festgestellt wurden, werden Schutzsuchende aus europäischen Gewässern zurückgedrängt, ohne dass sie die Möglichkeit erhalten, einen Asylantrag zu stellen. Das verstösst gegen die EU-Menschenrechtskonvention.
Das Vorgehen der libyschen Küstenwache und der Frontex-Flugzeuge wird von Rechtswissenschaftlerinnen als pullback bezeichnet. Das bedeutet, die flüchtenden Menschen werden von Drittstaaten mit Unterstützung der EU davon abgehalten, überhaupt in die europäische Zuständigkeit und somit unter europäisches Recht zu gelangen. Und laut Frontex ist das – legal.
«Wenn die EU andere damit beauftragt, pushbacks durchzuführen, weil das für sie selbst illegal ist, dann entkriminalisiert sie dieses Vorgehen nicht, sondern es macht sie zur Mittäterin», sagt Omer Shatz. Der Strafverteidiger der auch an der Sciences Po in Paris lehrt, hat führende EU-Politiker vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. «Denn würden die Frontex-Flugzeuge nicht die Position der flüchtenden Menschen durchgeben und anordnen, dass sie gestoppt werden, würden sie nicht in ein Land zurückgebracht werden, wo ihnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit drohen», sagt Shatz. Und das mache die EU und Frontex zu Komplizen bei Verstössen gegen das Nicht-Zurückweisungs-Prinzip und das Verbot der kollektiven Ausweisung.
Die «Effizienz» der Libyer
Da es wenige Beweise für die Kooperation zwischen Frontex und libyscher Küstenwache gibt, hat die Republik recherchiert, wie oft ein durch Frontex beauftragtes Flugzeug vor Ort war, wenn ein Boot von Libyen aufgegriffen wurde. Ausgangspunkt der Recherche: interne, bisher unveröffentlichte Dokumente des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Etwa ein Quartalsbericht für April 2020 bis Juli 2020, in dem alle Boote gelistet werden, die von einer Küstenwache oder einer Hilfsorganisation aufgegriffen wurden.
Auch Nour Saids Überfahrt ist in diesem Dokument vermerkt – jedoch als einzige ohne Namen einer Organisation. Anhand dieses Dokuments und von Daten, die von Seenotrettungs-NGOs zur Verfügung gestellt wurden, lässt sich feststellen: Bei 43 Rückholungen durch die libysche Küstenwache kreiste 35-mal Frontex in der Nähe.
Der Quartalsbericht soll dazu dienen, die «Effizienz» der libyschen Küstenwache zu berechnen. Darunter versteht der Auswärtige Dienst der EU, wie viele einzelne Personen auf dem Mittelmeer von der libyschen Küstenwache aufgegriffen, in den nordafrikanischen Küstenstaat zurückgebracht und so daran gehindert wurden, europäische Gewässer überhaupt zu erreichen. In der Zeit von April bis Juli 2020 waren es laut dem Dokument 3375 Menschen, die zurückgeschafft wurden. Im Bericht heisst es, die libysche Küstenwache beweise «weiterhin, wie effektiv sie ist».
Diese Effektivität ist nicht neu: 2016 kamen noch fast 9 von 10 Menschen, die an den Küsten Tunesiens oder Libyens abgelegt hatten, in Europa an. Seither ist diese Zahl gesunken. 2018 und 2019 schaffte es noch etwa die Hälfte. 2020 waren es etwa 68 Prozent – ein Ausreisser nach oben im Abwärtstrend, der sich damit erklären lässt, dass die libysche Küstenwache im Frühjahr 2020 wegen der Corona-Pandemie über Wochen ihre Einsätze eingestellt hat.
Die Flugzeuge von Frontex sind nicht die einzigen, die beinahe täglich über dem zentralen Mittelmeer kreisen. Weil Schiffe der zivilen Seenotrettung immer wieder in europäischen Häfen festgesetzt werden, versuchen auch Hilfsorganisationen, aus der Luft flüchtende Menschen in Seenot zu retten.
Was ist das Ziel der europäischen Behörden?
Ein kühler Tag Mitte Dezember 2020. Pascal Stadelmann trägt einen orangen Overall und starrt links aus dem Fenster der kleinen Propellermaschine Moonbird, die über dem Mittelmeer ihre Schleifen zieht. Zwei Stunden verharrt er bereits in dieser Position, während seine Augen die Wellen scannen. Die Luft ist stickig, der Lärm der Propeller dröhnt in den Ohren.
«Da, auf elf Uhr», sagt Stadelmann und hebt den Kopf in die entsprechende Richtung. «Da könnte etwas sein. Vielleicht ein Boot.» Langsam bringt er die Propellermaschine in Schieflage und verringert die Flughöhe, um näher ranzukommen an den kleinen dunklen Fleck im unendlichen Blau.
Der Fleck ist ein Fischerboot. Nach sechs Stunden in der Luft sitzt Pascal Stadelmann nun draussen vor dem Quartier auf Lampedusa, wo die Moonbird stationiert ist. Noch immer trägt er den orangefarbenen Overall. Der ist während des Fliegens Pflicht. Sollte die Moonbird abstürzen, könnten die Crewmitglieder durch die knallige Farbe leichter im Meer erkannt werden. Da die Maschine nur einen Motor hat, ist der Flug nicht ungefährlich.
Den Grossteil des Jahres trägt Stadelmann eine schicke schwarze Uniform mit Hemd und Krawatte. Der 30-Jährige ist Pilot bei der Swiss und bringt normalerweise Passagierinnen zu Arbeitsterminen oder an ihre Urlaubsziele. An seinen freien Tagen fliegt er für die Humanitarian Pilots Initiative. Diese arbeitet mit der Hilfsorganisation Sea-Watch zusammen, die von der italienischen Insel Lampedusa aus die Küsten überwacht.
Stadelmann fliegt mindestens eine Mission pro Tag. Im Sommer meist sogar zwei. Mehr als zwölf Stunden ist die vierköpfige Crew dann in der Luft. Den Blick beinahe durchgehend auf das Meer gerichtet. Denn ein Radar zur Ortung von Schiffen besitzt die Maschine nicht.
«Die Behörden wussten drei Tage lang genau, wo die Menschen sind, was zu tun wäre – und es wurde nicht eingegriffen»: Pilot Pascal Stadelmann über seinen Einsatz, als er das Boot mit Nour Said entdeckte. Video: Daniela Sala
Stadelmann sagt, er habe nicht das Gefühl, dass es für die europäischen Behörden das primäre Ziel sei, Menschen zu retten. «Eine Zeit lang befand sich kein einziges Schiff der zivilen Seenotrettungsorganisationen auf dem zentralen Mittelmeer. Jetzt sind es nur einige wenige.» Damit seien die Einzigen, die eingreifen könnten, die Seenotrettungsstellen in Malta oder Italien, die libysche Küstenwache oder irgendwelche Handelsschiffe.
Nicht nur im Wasser, auch in der Luft werden Rettungseinsätze von NGOs immer mehr erschwert. Weil sie in Malta und Italien keine Flugerlaubnis bekommen hatte, musste die Moonbird eine Zeit lang von Griechenland aus operieren. Das bedeutete für die freiwilligen Helfer dreieinhalb Stunden Flugzeit, nur um das Gebiet überhaupt zu erreichen, das sie überwachen sollten. Vor Ort blieben dann nur knapp zweieinhalb Stunden, bis der Treibstoff sich dem Ende zuneigte und sie zurückkehren mussten.
Diese Zeit reichte jedoch aus, um neben der Suche nach Schiffbrüchigen die neue Vorgehensweise der EU zu beobachten. Eine, die durch den Einsatz von Flugzeugen massgeblich vorangetrieben wird.
«Man merkt beinahe bei jeder Mission, dass seitens der europäischen Behörden versucht wird, Menschen auf der Flucht zurück nach Libyen oder Tunesien zu drängen», sagt Stadelmann. Es ist frustrierend: Wenn die Crew der Moonbird ein Boot in Seenot vorfindet, gibt sie dessen Position an die zuständigen Seenotleitstellen durch und hofft, dass diese reagieren. «Das endet jedoch meist so, dass die entweder gar nicht reagieren oder über uns nicht bekannte, inoffizielle Kommunikationswege die libysche Küstenwache auf die Boote hetzen, um die Menschen aufzugreifen und nach Libyen zurückzubringen», sagt Stadelmann.
Malta müsste handeln, aber Malta reagiert nicht
Manchmal bekommen Stadelmann und seine Kollegen auch mit, wie ein von Frontex beauftragtes Flugzeug die Position des Bootes an die Seenotleitstellen weiterleitet, die dann entscheiden, wer für die Rettung zuständig ist. Das ist möglich aufgrund des sogenannten Radios, des Funksenders, über den Flugzeuge miteinander kommunizieren. Er ist für alle in der Luft hörbar.
Funkt die Crew der Moonbird dazwischen, wird sie von den Frontex-Flugzeugen und den Seenotleitstellen meist ignoriert. Wenn das geschieht, fliegt die Moonbird noch einmal zur Position des Bootes in Seenot zurück. Oft beobachtet die Crew dann, wie die libysche Küstenwache die Menschen aufgreift – dies belegen Videos und Fotos, die der Republik vorliegen. Die Moonbird-Crew kann nicht mehr tun, als die Vorfälle zu dokumentieren.
Dokumentiert wird, dass die EU-Staaten auch dann nicht retten, wenn sich Boote mit Geflüchteten in ihrem Zuständigkeitsbereich befinden. Dass die libysche Küstenwache auch dann noch Boote abfängt und zurück nach Libyen bringt, wenn sich diese schon in einer europäischen SAR-Zone befinden. Und laut internationalem Seerecht Malta oder Italien für die Rettung der Menschen verantwortlich wären.
So auch am 28. August 2020. Ein Boot mit etwa 25 Menschen wird innerhalb der maltesischen Seenotrettungszone von der Moonbird gesichtet. Auch die Osprey 3 von Frontex ist vor Ort. Die Moonbird leitet die Position des Bootes via Sea-Watch an die maltesische Seenotleitstelle weiter. Eigentlich wäre die maltesische Küstenwache jetzt dazu verpflichtet, das Boot zu retten – indem sie selbst ausrückt oder Schiffe in der Nähe zur Rettung verständigt.
Doch es kommt anders. Das Boot wird von der libyschen Küstenwache aufgegriffen, die sich zum Zeitpunkt der Sichtung aus der Luft nicht in unmittelbarer Nähe befindet – das bestätigen Videoaufnahmen sowie Logbucheinträge. Dies, obwohl Handelsschiffe näher dran gewesen waren. Hat sich der Vorfall so zugetragen, ist dies ein illegaler pushback – der schwer zu beweisen ist, da nicht alle Positionen der Schiffe im Mittelmeer öffentlich zugänglich sind.
Frontex bestätigt, dass die Osprey 3 am 28. August 2020 ein Boot mit rund 25 Migrantinnen an Bord gesichtet habe. Danach seien die zuständigen Behörden informiert worden. Wieso diese nicht eingriffen, bleibt unklar: Das maltesische Ministerium für Inneres und nationale Sicherheit, zuständig für die Seenotleitstelle, reagiert weder telefonisch noch schriftlich auf Anfragen.
Reda Issa, Kommandeur der libyschen Küstenwache, sagt im Gespräch mit der Republik: «Unser Job ist es, Menschen zu retten. Wenn wir sehen, dass ein Boot zwei oder drei Meilen in den maltesischen Verantwortungsbereich fährt, dann rufen wir die maltesische Küstenwache an, und mit deren Einverständnis fahren wir in das Territorium und helfen den Migranten.»
Für die Rechtswissenschaftlerin Violeta Moreno-Lax ist dieses Vorgehen kein Versehen. Weil Flugzeuge und Drohnen ihren Radar ausschalten könnten, sei nur schwer nachzuvollziehen, ob ein Boot tatsächlich gesichtet wurde und wer dann darüber informiert worden sei: «Das erleichtert es der EU und den Mitgliedsstaaten, sich aus ihrer Verantwortung zu ziehen.»
Drohnen übernehmen
Bald sollen nicht mehr nur Flugzeuge über dem Mittelmeer Kreise ziehen: Im Oktober 2020 vergab Frontex einen Auftrag an das israelische Unternehmen Israel Aerospace Industries, das gemeinsam mit Airbus eine militärische Langstreckendrohne für die Überwachung der EU-Aussengrenze liefern wird.
Bisher wurde diese Drohne vor allem in Kriegsgebieten eingesetzt, im Gazastreifen, in Afghanistan oder in Mali. Ab 2021 soll eine unbewaffnete Drohne dieser Art laut Frontex permanent von Italien, Malta und Griechenland aus das Mittelmeer überwachen und die Positionen von Booten mit Menschen auf der Flucht weitergeben. Und das Mittelmeer soll nur der Anfang sein.
Schritt für Schritt wird die Überwachung aus der Luft an den EU-Aussengrenzen weiter ausgebaut. Denn nicht nur Frontex setzt auf diese Technologie. Die EU-Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs verleiht bereits seit Jahren Drohnen an Mitgliedsstaaten. Für das Mittelmeer, aber auch den Ärmelkanal. Auch EU-Mitgliedsstaaten wie Griechenland und Italien unterschrieben 2020 entsprechende Verträge mit Rüstungsherstellern.
Das einheitliche Ziel: die Überwachung mittels Militärdrohnen an den Seegrenzen und kleiner Quadrocopter an den Landesgrenzen. Einen Quadrocopter hätte der Schiffbrüchige Nour Said im Juni 2020 mit blossem Auge vom Wasser aus nicht erkennen können. Auch eine Langstreckendrohne eher nicht, da sie meist so hoch fliegen wie Passagierflugzeuge.
Am Morgen des dritten Tages auf See hat Nour Said keine Ahnung mehr, in welcher Richtung Europa liegt. Der einzige Anhaltspunkt: das Flugzeug, das erneut über ihnen kreist.
Auch Pascal Stadelmann hat das Boot mit Said aus der Luft beobachtet – am Tag eins auf See. Am späten Nachmittag kreiste er in der maltesischen Seenotrettungszone darüber. Mehrmals rief die Moonbird-Crew bei der Seenotleitstelle in Malta an. Obwohl diese rund um die Uhr besetzt sein sollte, nahm niemand den Anruf entgegen. Als es dunkel wurde, verlor die Crew die Spur. Am nächsten Tag widmete sie die gesamte Mission der Suche nach dem Boot. Vergeblich. Am Morgen des 19. Juni hörte die Moonbird den Funkspruch eines Fischers: Er sei einem Boot mit etwa 20 Personen an Bord begegnet – nur wenige Meilen vor der Küste Lampedusas.
An das Fischerboot erinnert sich Said noch genau. Er habe gehofft, dass der Mann ihnen den Weg nach Europa zeigen würde.
Doch der Fischer hat schlechte Nachrichten: Ein Sandsturm ziehe auf. Einer, den das Boot und seine Insassen nicht überleben würden. Nach mehr als 78 Stunden auf See drehen sie also um, fahren dem Fischerboot hinterher und nehmen Kurs auf die tunesische Küste. Über ihnen kreist noch immer das Flugzeug von Frontex, wie eine Rekonstruktion der Republik belegt.
Das Flugzeug, das Nour Said Hoffnung schenkte, hat ihn nicht gerettet. Es hat ihn nur gesehen. So wie viele andere Menschen, die in einem kleinen Boot in ein besseres Leben übersetzen wollen. So wie manche der 984 Menschen, die 2020 auf das Mittelmeer hinausfuhren und nie mehr lebend gesehen wurden.
Epilog
Seit November 2020 ist die Republik in Kontakt mit Nour Said, der uns die Geschichte seiner gescheiterten Flucht erzählte – über Whatsapp oder über Videotelefonate. Immer wieder schreibt er, dass er erneut in ein Boot steigen werde, um nach Europa zu gelangen. Den Tod fürchte er nicht, sagt er. Denn das Leben in Tunesien fühle sich für ihn so an, als wäre er bereits tot. Was mache es also für einen Unterschied, wenn er am Mittelmeer sterben würde?
Einen Tag vor Weihnachten kommt schliesslich die Nachricht: «Friede sei mit Ihnen, denn wir sind alle Brüder. Und heute ist ein glückliches Ereignis passiert.» Dazu ein Foto vom Meer mit einem Schiff am Horizont.
Nour Said erreicht an diesem Tag endlich sein Ziel Lampedusa, verbringt zwei Wochen auf einem Quarantäneschiff und wird dann in eine italienische Stadt gebracht. Dort bleibt er nicht lange. Die Aussichten auf Asyl und vor allem einen Arbeitsplatz seien zu schlecht. Er zieht weiter Richtung Norden, nach Paris. Er schickt Fotos von sich vor dem Eiffelturm und erzählt, wie er auf der Strasse übernachtet.
Die Journalistinnen Vera Deleja-Hotko, Ann Esswein und Bartholomäus von Laffert gehören zum Kollektiv Selbstlaut, Daniela Sala ist freischaffende Multimediajournalistin in Italien. Die Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium des Investigative Journalism for Europe Fund. Mitarbeit: Luisa Izuzquiza, Phevos Simeonidis, Mirco Keilberth, Felie Moucir Zernack und Taher Zaroog.