Heute lesen wir Ihre Gedanken!
Menschen sehen die Welt in Mustern – viel häufiger, als sie es sollten. Dass wir Zufall missverstehen, ist aber oft ganz nützlich.
Von Marie-José Kolly, 29.03.2021
Am 26. September 1937, einem Sonntagabend, nahmen mehrere zehntausend amerikanische Radiohörerinnen an einem Experiment teil, das beweisen sollte: Telepathie ist real.
«Schauen Sie, ob der konzentrierte Gedanke aus dem Geist unserer zehn Sender bis zu Ihnen gelangt», sagte der Moderator kurz nach 22 Uhr Ortszeit.
Es war ein ziemlich einfaches Experiment: Hinter einer verschlossenen Tür in der Nähe des Studios sässen zehn telepathische Sender, sagte er, fünf Männer, fünf Frauen. Eine Maschine würde gleich eines von zwei Symbolen zufällig auswählen. Die zehn Senderinnen würden sich darauf konzentrieren und versuchen, das Symbol gedanklich an die Hörer zu übermitteln. Dann würde eine Glocke ertönen, und die Maschine würde erneut wählen, insgesamt fünfmal.
Die Symbole an diesem Sonntagabend waren die Farben Schwarz und Weiss. «Am besten ist es, wenn Sie Ihren Eindruck aufschreiben, sobald Sie ihn empfangen», sagte der Moderator. Man solle nicht gross darüber nachdenken, die Symbole einfach nacheinander notieren.
«Die Maschine ist nun dazu bereit, das erste auszuwählen.»
Liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie mögen: Greifen Sie doch auch kurz zu Bleistift und Block. Stellen Sie sich vor, die Maschine stünde heute auf der Republik-Redaktion und wählte grade das erste Symbol. Notieren Sie es – S für Schwarz, W für Weiss. Ein Glockenschlag, dann das zweite. Das dritte, vierte, fünfte. Telepathisch übermittelt haben wir zwar nichts. Trotzdem wird das, was Sie aufschreiben, in ein paar Minuten von Interesse sein.
Nach diesem Abend im September 1937 schickten 46’433 Personen ihr Resultat per Post an den Radiosender der Zenith Radio Corporation. Und viele würden es ihnen an den darauffolgenden Sonntagabenden gleichtun: Bis in den Januar hinein würden sich Radiosender und Hörerinnen in Telepathie versuchen. Einmal würde die Maschine zwischen einem Kreis und einem Kreuz wählen, ein anderes Mal zwischen einer Wellenlinie und einem Stern. Kurz vor Weihnachten: zwischen Kopf und Zahl.
Das halbe Land fieberte mit: Würden nun die umstrittenen Hypothesen von Parapsychologen bestätigt? Waren Gedanken an Mitmenschen übertragbar, Gedanken von Mitmenschen lesbar?
Zunächst sah es danach aus. Die ersten paar sonntäglichen Telepathie-Experimente waren erfolgreich, Spiritistinnen jubilierten. Die von der Maschine gewählte Folge war zwar nicht immer am häufigsten, aber häufiger als die meisten der 31 anderen Folgen eingesandt worden (2 Symbol-Optionen an 5 Positionen sind 2 × 2 × 2 × 2 × 2 = 32 mögliche Folgen).
Betrachten wir das Experiment vom 10. Oktober 1937. Die Maschine hatte ausgespuckt, die Sender sich konzentriert auf:
SWWSW
Auch die Hörerschaft hatte die Folge Schwarz-Weiss-Weiss-Schwarz-Weiss besonders häufig gewählt. 6,6 Prozent haben diese Folge eingesandt – doppelt so viele wie statistisch erwartbar (3,1 Prozent).
Zudem entsprachen die Symbole der meistgewählten Folge – SSWSW – denjenigen der telepathisch übermittelten Folge – SWWSW – an vier von fünf Positionen: 1, 3, 4 und 5. Beeindruckend, nicht?
Medienmitteilungen der Radiostation von Zenith verbuchten die ersten Experimente als grossen Erfolg: Telepathie funktioniert. Der Beweis: Diese Resultate können nicht durch Zufall entstanden sein.
Dann prüfte der damals junge Psychologe Louis D. Goodfellow die Daten mit statistischen Methoden. Die Daten aller Sonntagabende und aller Teilnehmenden, die aus den Kopf-oder-Zahl-, die aus den Schwarz-Weiss-, die aus den Kreis-Kreuz-Experimenten. Denn mehr Daten sind häufig bessere Daten. Und Goodfellow fand heraus:
Die Resultate waren tatsächlich nicht durch Zufall entstanden.
Aber eben auch nicht durch Telepathie. Sondern dadurch, dass die Leute von Zenith genauso wie die vielen Hörer – ja, Menschen – nicht besonders gut darin sind, sich nach den Gesetzen des Zufalls zu verhalten. Und damit erzählen die Daten aus den Telepathie-Experimenten eine nicht minder interessante Geschichte: eine über die menschliche Wahrnehmung.
Wie hätten Sie Ihren Zufall gerne?
Sieht man vom Telepathie-Überbau ab, so schrieben die Radiohörerinnen in den späten 1930er-Jahren einfach Zufallsfolgen auf, so wie Sie vor ein paar Minuten. Beziehungsweise: Sie schrieben das auf, was Sie für eine Zufallsfolge, generiert durch eine Maschine, hielten. Da wir Menschen das nicht so gut können und wir es alle auf eine ähnliche Weise nicht so gut können, verfallen wir beim Aufschreiben solcher Pseudo-Zufallsfolgen in ähnliche Muster.
Nehmen Sie nochmals Ihren Zettel zur Hand. Steht da so etwas wie:
SSWSW (oder umgekehrt: WWSWS)?
Oder vielleicht:
SWWSW (oder WSSWS)?
(Fast) jede Wette, dass Sie nicht
SSSSS (WWWWW)
oder
SSSSW (WWWWS)
aufgeschrieben haben.
Wir Menschen scheinen es zu mögen, wenn der Zufall auch nach etwas Zufälligem aussieht.
Das gilt etwa für eine Folge, deren Elemente gemischt sind. In der also ungefähr gleich viele schwarze und weisse Symbole, Kreise und Kreuze, Köpfe und Zahlen vorkommen. Was nicht nach Zufall aussieht:
SSSSS, SSSSW, WSSSS
Das gilt weiter für eine Folge, die möglichst asymmetrisch daherkommt. Was nicht nach Zufall aussieht:
SWSWS, SSWSS, WSSSW
Regelmässigkeit fühlt sich irgendwie unzufällig an (warum das so ist, dazu kommen wir gleich).
Das wurde etwa sichtbar, als man Anfang November versuchte, das Muster 11211 telepathisch zu übertragen. 1 und 2 stehen ab hier wahlweise für Schwarz und Weiss, Kreis und Kreuz, Kopf und Zahl, Welle und Stern et cetera. Der Anteil der Hörerinnen, die 11211 geantwortet hatten, war um ein Vielfaches niedriger als der Anteil derer, die am 10. Oktober das von der Maschine gewählte Muster eingeschickt hatten.
Es wird noch stärker sichtbar, wenn man die Daten über die verschiedenen Experimente hinweg mittelt und die jeweils analogen Muster – 11111 und 22222 oder 11212 und 22121 – zusammenfasst und die entsprechenden Anteile summiert.
Es wird noch einmal stärker sichtbar, wenn man sich die Stabilität dieser Ergebnisse vor Augen führt und die Einsendungen zu den sonntagabendlichen Experimenten nebeneinander betrachtet. Auch hier stehen 1 und 2 je nach Datum der einzelnen Telepathie-Experimente für verschiedenste Symbolpaare.
Wer noch einen Nachweis dafür brauchte, dass nicht Telepathie das Verhalten der Hörerschaft steuerte: Das war er.
«Hätte in einem der Experimente auch nur das geringste bisschen Telepathie mitgewirkt, so hätten die Radiohörer das maschinengewählte Muster etwas häufiger verwendet als in anderen Tests. In keinem Fall ist das geschehen», schreibt Goodfellow im «Journal of Experimental Psychology».
Münzen erinnern sich nicht, wir schon
Sehen wir uns also an, was die Daten über die menschliche Kognition zu erzählen haben.
Goodfellow hat die Folgen nach der Zahl der Symmetrien, die sie enthalten, kategorisiert. Die asymmetrischsten waren die meistgewählten, die symmetrischsten fielen am stärksten ab. Vielleicht sei aber Symmetrie gar nicht das beste Konzept, um über diese Dinge nachzudenken, schreibt er. Genau genommen sehe man hier die Tendenz der Hörerinnen, ihre Antwort an der Stelle X zu ändern – und zwar vor dem Hintergrund ihrer vorangehenden Antworten.
Die Maschine wählt das erste Symbol, sie schreiben auf. Beim zweiten Mal steht da schon die erste Antwort. Sollen sie die gleiche Antwort geben oder lieber zum anderen Symbol wechseln?
Beim dritten Mal ist die Entscheidung schwieriger: Nun gibt es zwei vorangehende Symbole, welche die Hörer – offensichtlich – berücksichtigen. Und der Wunsch, für eine gemischte Folge Antwort 3 von den ersten zwei Antworten zu unterscheiden, widerspricht – je nach Antwortverhalten bei 1 und 2 – dem Wunsch nach einer unregelmässigen Folge. Ein Beispiel:
Hat man bei der zweiten Antwort nicht gewechselt, so führt die Strategie, erneut nicht zu wechseln, zu einer maximal ungemischten und symmetrischen Folge:
11 + 1
Also wechseln: 112.
Hat man aber bei der zweiten Antwort gewechselt, so führt erneutes Wechseln zu einer Symmetrie:
12 + 1
Also lieber 122.
Eine Münze tut das nicht. Sie erinnert sich nicht. Sie startet bei jedem neuen Wurf mit exakt denselben Wahrscheinlichkeiten dafür, dass Kopf oder Zahl oben liegen wird.
Ein Mensch dagegen kann beim Aufschreiben des dritten Pseudo-Zufallssymbols gar nicht vergessen haben, was er vorher notiert hat, kann die Ereignisse nicht unabhängig voneinander betrachten. Deshalb denken viele von uns intuitiv: Wenn vorhin schon zweimal Kopf oben gelegen habe, sei die Wahrscheinlichkeit dafür beim nächsten Wurf niedriger.
Warum unsere Intuition so tickt, beschrieben die Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman 1971 mit dem «Gesetz der kleinen Zahlen».
Werfen wir vorher einen kurzen Seitenblick auf die Gesetze der grossen Zahlen. Sie besagen: Führt man ein Zufallsexperiment häufig genug durch, so nähern sich die relativen Häufigkeiten der Ergebnisse – etwa der Anteil von Kopf und von Zahl – den theoretischen Wahrscheinlichkeiten dieser Ereignisse an. Einfacher gesagt: Wenn man die Münze oft genug wirft, wird man etwa gleich viele Köpfe wie Zahlen sehen.
Der zentrale Punkt dabei ist «oft genug». Was beim Szenario «zu wenig oft» eintritt, beschreibt das Gesetz der kleinen Zahlen als kognitive Verzerrung: Menschen erwarten intuitiv, dass sich das, was in grossen Zahlen passiert, auch in kleinen Zahlen niederschlägt. Die Folge à 5 Symbole soll also die grosse Folge repräsentieren: Sie soll ungefähr zur Hälfte aus Köpfen und Zahlen bestehen und zwischen den beiden Symbolen abwechseln.
Können wir uns auch deshalb so schlecht zufällig verhalten, weil wir im wirklichen Leben selten wiederholt mit einer Münze oder sonstigen Zufallsexperimenten hantieren?
«Das auch», sagt der Informationstheoretiker Lav Varshney. Er erforscht in der Nähe von Chicago sowohl die menschliche als auch die künstliche Intelligenz. Menschen verstünden Möglichkeiten besser als Wahrscheinlichkeiten, sagt er. Was wir schon erlebt hätten, gehöre zu unserer «Menge der Möglichkeiten». Einer unregelmässigen Zufallsfolge – etwa 11212 – seien wir alle schon begegnet, und andere solche Muster hätten wir als sehr ähnlich wahrgenommen: die typische Zufallsfolge.
«Aber wenn Sie nie erfahren haben, dass bei fünf Münzwürfen fünfmal die Zahl oben liegen kann, ist diese Erfahrung eben nicht in Ihrer ‹Menge der Möglichkeiten› abgelegt.» Und somit nicht typisch für den Zufall.
Eine regelmässige Reihe glücklicher oder unglücklicher Ereignisse betrachten wir also gerne als Fügung, als etwas Bedeutsames. Beim Pokerspiel nennen wir es vielleicht Momentum, beim Basketballspiel hot hand, im Leben Karma.
Nicht immer sind sie auch wirklich bedeutsam.
Wenn Sie Mitte Dezember fünfmal im Restaurant waren und sich dabei nie mit dem Coronavirus angesteckt haben: War das Karma? Der Beweis dafür, dass man sich in der Beiz gar nicht anstecken kann? Vielleicht doch eher: Zufall.
Menschen sind Mustererkennerinnen
Die Regelmässigkeit von Regeln zu erkennen, ist für uns Menschen zentral. Von der Geburt an müssen wir lernen, die Welt um uns herum zu verstehen. Unsere Kognition ist also geradezu dafür gemacht, Muster zu erkennen, um daraus Zusammenhänge abzuleiten.
Deshalb denkt der Kognitionspsychologe Tom Griffiths von der amerikanischen Princeton-Universität etwas anders über unser Verhältnis zum Zufall nach. Ja, sagt er, unsere Intuition, manche Zufallsfolgen seien bessere Beispiele für Zufälligkeit als andere, sie möge paradox wirken. Aber wenn Menschen Zufälligkeit einschätzten, nutzten sie keine mathematische Definition des Zufalls.
Sie fragten sich nicht: Was ist die Wahrscheinlichkeit dieses Resultats in einem zufälligen Prozess?
Sondern: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein zufälliger Prozess hinter diesem Resultat liegt?
«Und aus dieser Perspektive ist jegliche Regelmässigkeit in den Daten Evidenz für einen anderen Prozess, für Regeln oder Zusammenhänge», sagt Griffiths. Zufälle sind dann einfach alles andere.
Das half unseren Vorfahren, sagt der Psychologe: Sie lebten in einer Welt, wo sie vielleicht mehrmals beobachteten, dass fünf Tage lang die Sonne schien und dann mehr Rehe an einem bestimmten Ort grasten. Und sie mussten herausfinden, ob dieser Zusammenhang kausal ist.
Es hilft auch Kindern. «Die erleben Situationen wie: ‹Ich habe dieses Ding losgelassen, es ist auf den Boden gefallen. Ich habe das jetzt fünfmal getan – kann ich davon ausgehen, dass dieser Zusammenhang längerfristig bestehen wird?›»
Die Sensibilität für Verstösse gegen Zufälligkeit hilft auch Forscherinnen, Neues zu entdecken. Der britische Chirurg John Snow erkannte anhand der räumlichen Verteilung von Cholerafällen in London, dass die meisten Kranken ihr Wasser bei derselben Pumpe an der Broad Street holten. Die Behörden legten sie still, was dazu beitrug, den Ausbruch zu kontrollieren.
In all diesen Fällen sei es wichtig, Regelmässigkeiten erst einmal als bedeutsam zu betrachten, sagt Griffiths. Um überhaupt eine Chance zu haben, Kausalzusammenhänge zu erkennen. Um mit der Welt klarzukommen.
«Aber je mehr Sie über die Welt wissen, desto häufiger werden Sie eine Regelmässigkeit sehen, die nicht durch einen Kausalzusammenhang zustande kam. Sondern durch Zufall.»
Als moderne Erwachsene tun wir gut daran, erstens offen und zweitens vorsichtig zu sein, wenn merkwürdige Muster auftreten. Was auf den ersten Blick nach Verschwörung aussieht, kann gut auch einfach Zufall sein.
PS: Sobald wir nicht mehr nur intuitiv denken, können wir Zufall. «In Spielen wie Schere-Stein-Papier verhalten sich die Menschen mit der Zeit immer zufälliger», sagt Griffiths. «Weil das dort die beste Strategie ist.»