Recycle, Reuse, Refit
Wie es mit dem Klimaschutz bei Gebäuden wirklich klappt: Drei Prinzipien, drei Fallbeispiele und ein flammendes Plädoyer für eine Bauwirtschaft nach dem Kreislaufprinzip.
Von Palle Petersen, 18.03.2021
Klimaschutz im Bausektor?
Heute bedeutet das vor allem: Lärm und Staub. Ein Staffellauf gewaltiger Maschinen. Erst reissen Abbruchbagger und Planierraupen das Alte nieder. Dann schaffen Lastwagen die Abfallberge fort und neues Material heran. Schliesslich richten Baukräne und Betonmischer das Neue und Bessere auf.
Selbst ökologisch gesinnte Bauherren machen häufig Tabula rasa. Es scheint, als liessen uns Klimakrise und Zersiedlung nur eine Wahl: fort mit den Häusern und Siedlungen. Fort mit den Energieschleudern der Nachkriegszeit. Alles abbrechen und neu bauen.
Doch egal wie klimafreundlich und modern man ein Haus baut, die Sache hat einen Haken: die sogenannten «grauen Emissionen», die in Baumaterialien stecken, beim Transport und auf der Baustelle anfallen. Hier liegt die Klimakrux. Denn wie sich Häuser dämmen und ohne Öl und Gas heizen lassen, ist längst klar. Wie wir sie emissionsfrei bauen, nicht.
Darum liegt im Baubestand der grösste Hebel für den Klimaschutz. Die Gebäude der Schweiz bestehen aus 1,6 Milliarden Tonnen Material. Darin sind mehr Treibhausgase gebunden, als das Land je wieder ausstossen sollte: Beton und Mauerwerk, Metalle und Kunststoffe, alles steckt voller CO2. Die Vorstellung, alles abzureissen und eine bessere Schweiz zu bauen, ist darum absurd. Viel zielführender wäre es, Gebäude clever zu renovieren und weiterzubauen, ihre Bauteile und Materialien wiederzuverwenden.
Das Zauberwort dafür heisst: Kreislaufwirtschaft.
Folgende Prinzipien fallen beim Bauen darunter:
Recycle: Baumaterial nach dem Abbruch wieder aufbereiten. Das spart Rohstoffe und Platz auf der Deponie (ist aber schwierig, energieintensiv und teuer).
Reuse and repair: Bauteile wiederverwenden, falls nötig reparieren, anpassen oder zweckentfremden. Das spart Energie, die es bräuchte, um Altes zu vernichten und Neues zu produzieren.
Refit and repurpose: Häuser erweitern und umnutzen. Das erübrigt den Abbruch ganzer Gebäude und den Bau von neuen.
Damit die Bauwirtschaft in der Schweiz vom Wegwerfen in den Kreislaufmodus umstellt, muss sich so ziemlich alles ändern: Geschäftsmodelle, Mentalitäten, Ausbildungen, Baugesetze, Normen, Nachhaltigkeitslabels. Doch wer will, kann schon heute handeln.
1. Recycle: Das zweite Leben der Materialien
Der Rückbau von Häusern verursacht mehr Abfall als sämtlicher Siedlungs- und Sondermüll zusammen: 9 Millionen Tonnen im Jahr 2018. Das entspricht einer Lkw-Schlange doppelt so lang wie die Schweizer Landesgrenze. Hinzu kommt fast nochmals so viel Abfall, der beim Neubauen entsteht.
Die Theorie, diese Materialkreisläufe zu schliessen und aus der «urbanen Mine» stets neue Rohstoffe für den Bau zu fördern, klingt verlockend. Seit Jahrzehnten fördert die Schweiz darum das Recycling von Baustoffen und ist stolz darauf, zwei Drittel des Abfalls zu recyceln. Das ist ein wichtiger Anfang.
Doch dabei entsteht fast ausnahmslos Minderwertiges. Beton und Mauerwerk enden zu Kies zermahlen unter Strassen. Wird wieder Beton gemischt, ist er schwächer und braucht neuen Zement, spart also kaum CO2. Das meiste Holz und fast alle Kunststoffe werden verbrannt. «Thermisches Recycling» heisst dieser Vorgang. Er bringt Heizenergie, doch die Rohstoffe verpuffen dabei in die Atmosphäre – im Kreislaufdenken ein Tabu.
Was auf Schweizer Baustellen abgebrochen wird, ist also alles andere als kreislauffähig. Mit Fensterglas und Gips lässt sich heute kaum etwas anfangen. Dazu kommen gewaltige Mengen Mischabbruch, denn viele Dinge sind so verklebt und vergossen, dass sie sich nur schlecht trennen und aufbereiten lassen. Ein Drittel des Bauabfalls landet darum auf der Deponie.
Die Rückbaufirma Eberhard will das ändern. Der Familienbetrieb mit Sitz in Kloten baut zurzeit eine komplexe Robotikanlage, um Mischabbruch zu trennen. Zuerst erfassen Kameras, Infrarotsensoren, 3-D-Scanner und Metalldetektoren auf einem Förderband den Abfall. Dann weisen intelligente Algorithmen jedes Teil einer Materialklasse zu. Schliesslich sortieren Roboterarme den Abfall, der danach korrekt entsorgt oder für einfache Anwendungen wie den Strassenbau weiterverwendet wird.
Doch das allein rechtfertigt die Investitionen noch nicht. Patrick Eberhard, zuständig für Baustoffkreisläufe, sagt: «Im heutigen Markt hat die Anlage keine Chance. Aus den einzelnen Materialklassen müssen wir hochwertige Produkte entwickeln, zum Beispiel Fliesen aus Leichtmineralik.» Die Firma Eberhard geht damit eine Wette ein: Sie setzt darauf, aus den sortierten Ziegeln, dem Glas oder dem Holz neue Baustoffe zu entwickeln.
Wie ein solches Upcycling funktionieren kann, zeigen Firmen wie Stone Cycling oder Pretty Plastic in den Niederlanden. Sie machen aus Bauabfall Backsteine – wahlweise in grünen, ocker oder grauen Farbtönen – und verwandeln ihn in Kacheln für die Fassadenverkleidung.
Doch egal, wie innovativ die Recyclingprodukte werden: Der Weg vom Abfall zurück zum Baustoff und wieder zum Haus bleibt der schwierigste und energieintensivste. «Recycling ist zwar besser als Deponieren», sagt Eberhard, «aber nur der erste Schritt auf der Evolutionsleiter zur Kreislaufwirtschaft. Wir müssen weniger bauen, weniger abreissen und weniger wegwerfen.»
2. Reuse and repair: Das zweite Leben der Bauteile
Heutzutage landen Millionen völlig funktionsfähige Bauteile auf der Deponie – zerstört in der Eile kompetitiver Abbruchfirmen. Eine Tür raushauen und entsorgen kostet rund 20 Franken. Sie sauber ausbauen, damit sie woanders wieder eingebaut werden kann? Locker das Fünffache.
Manche tun das trotzdem.
«Welcome to the world of Schrott», sagt Marc Angst und schiebt den Baustellenzaun zur Seite. Angst ist Architekt beim Baubüro In Situ, das in Winterthur das Pilotprojekt K 118 verwirklicht: Drei Stockwerke für Gewerbeateliers werden auf eine hundertjährige Industriehalle gesetzt.
Rechtlich zählt das Projekt als Neubau. Doch neu ist hier nur wenig: Die Stahlträger stammen von einem Basler Lebensmittellager, das orange leuchtende Fassadenblech hing früher an einer Winterthurer Druckerei, über Dachelementen aus Olten liegen Solarpanels aus Zürich, und von dort kommt auch die Treppe.
Selbst die Fenster stammen von verschiedenen Orten. Sie sind bis zu zehn Jahre jung. Älter sind nur die grossen Industriefenster vom benachbarten Lokstadt-Areal. Dort entsteht gerade ein urbanes Wohnquartier: Ein paar denkmalgeschützte Fassaden und eine Fabrikhalle bleiben stehen – der ganze Rest wurde nicht mehr benötigt. «Diese Fenster haben wir ganz am Anfang eingelagert», sagt Angst. «Da geht es auch um Symbolik.»
Neu sind im K 118 nur der Kalkstein für den Liftschacht und der Beton, um die Stahlträger feuerfest auszugiessen. Die Decken und ein paar Stützen und Wände, die den Altbau verstärken, sind aus Recyclingbeton gemacht. Das meiste Neue besteht aus nachwachsenden Materialien: Holzbretter tragen die Fassade, dazwischen sorgen 900 Strohballen für die Wärmedämmung. Der Lehm für den Innenputz kommt aus einer nahen Baugrube.
Auch innen überwiegt gerettetes Material. Das Parkett stammt aus einem Weinlager und einer Wohnsiedlung. Abgehobelte Bühnenbretter sind an die Zwischenwände geschraubt. Brandschutztüren, Heizkörper und Lampen, WC-Schüsseln und Lavabos sind ebenfalls wiederverwendet, selbst die Elektroschränke und 200 Laufmeter Kabeltrassen. Die Kurvenelemente findet Marc Angst wunderschön, «wie die Schienen der Brio-Holzeisenbahn».
Später in der Bar träumt der Architekt von einer «Mad Max»-Welt ohne Abfall. Alles Hippiekacke und Steampunk? Im Gegenteil: Das Projekt verursacht 59 Prozent weniger Treibhausgase als ein identischer Neubau, vom Standardhaus ganz zu schweigen. Selbst der «SIA-Effizienzpfad Energie», einer der strengsten Standards für Nachhaltigkeit im Bauen, wäre mit doppelt so hohen Emissionen zufrieden. Das K 118 ist ein Klimachampion.
Die Bauteiljagd dahinter ist händische Knochenarbeit. Kleine Dinge finden Marc Angst und sein Team im Netz und bei Bauteilbörsen. An die wichtigen Teile kommen sie über ein informelles Netzwerk und auf eigene Faust. Wird etwas abgerissen, erhalten sie oft einen Anruf. Sehen sie Bauprofile um bestehende Häuser, nehmen sie den Hörer selbst in die Hand. Dann heisst es reingehen, beurteilen und verhandeln. Bezahlen können sie wenig bis nichts.
Denn: Wiederverwendung bedeutet Mehrarbeit. Zum Ausbauen, Anpassen, Einlagern und Wiedereinbauen nimmt man die Dinge oft mehrmals in die Hand. Die Lohnkosten sind darum die Knacknuss für Projekte wie das K 118.
Das gilt auch für die Planung. Normalerweise bestimmen Ingenieurinnen erst die Anforderungen und bestellen dann passende Teile. Hier mussten sie ungewöhnliche Einzellösungen erfinden: Der Stahlbau passt nicht auf seinen Sockel? Wenn man die Träger abschneidet, kann man die Reststücke rundherum anschrauben und daran die Fassade aufhängen. Die Decken sind zu schwach für die neue Nutzung? Zum Glück gibt es genug Träger, um sie doppelt so eng zu legen. Die Heizkörper sind zu klein für das grosse Atelier? Dann montiert man eben zwei übereinander. Und wie erreicht man ambitionierte Energieziele mit alten Industriefenstern? Indem man sie zum Kastenfenster aufdoppelt und in einer dicken Strohbauwand verbaut.
Insgesamt durfte das Pilotprojekt nicht teurer als ein Neubau sein. Dass die Idealisten das Ziel erreichten, ist erstaunlich: Immerhin konkurrierten sie mit einer spezialisierten und auf Effizienz getrimmten Bauindustrie, die ihre normierten Produkte just in time und mit Garantie auf die Baustelle bringt.
Um da mitzuhalten, braucht es umfassendes Material- und Konstruktionswissen. Der Architekt klappt den Laptop auf und zeigt eine Grafik, die wiederverwendete mit neuen Bauteilen vergleicht. Je weiter rechts ein Teil liegt, desto mehr CO2 spart es; je weiter oben, desto günstiger ist es.
Oben rechts liegen die klaren Fälle. Gebrauchte Fenster beispielsweise sparen viel Geld und noch mehr Treibhausgase.
Etwas darunter liegen Bleche und Stahlträger. Sie kosten gebraucht dasselbe wie Neuware, reduzieren die Emissionen aber deutlich. Auch hier sollte man nicht nachdenken.
Rechts unten liegen die Solarpanels. Hier spart Wiederverwendung viel CO2, ist wegen der Mehrarbeit aber teurer. Im heutigen Markt muss man sich den Klimaschutz hier leisten wollen.
Links oben liegen Heizkörper und Waschbecken. Diese Teile wiederzuverwenden, ist für die Ökobilanz zwar zweitrangig, aber immerhin gut fürs Portemonnaie.
Links unten schliesslich liegen Parkettbretter. Die aufwendige Handwerksarbeit macht deren Wiederverwendung deutlich teurer, und trotzdem ist der Klimagewinn bescheiden.
Nicht bei jedem Bauteil ist die Wiederverwendung also sinnvoll. Trotzdem liegt hier enormes Potenzial: Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Umwelt schätzt etwa, dass in der Schweiz jährlich 5 Millionen wiederverwendbare Bauteile anfallen. Damit sie öfter ein zweites Leben finden, müssen Architektinnen, Ingenieure und Bauämter umdenken.
Einige tun dies bereits. Zu ihnen zählen risikobereite Bauherrinnen wie die Stiftung Abendrot, die «nachhaltige Pensionskasse» aus Basel, die das K 118 finanziert hat. Schon vor der Baubewilligung hatte sie viel Geld für Bauteile, Arbeit und Lagerkosten ausgegeben. Auch die Stadt Zürich erfasst zurzeit die Bauteile ihrer nächsten Abbruchobjekte und plant einen Architekturwettbewerb mit Bauteilkatalog. Das könnte für andere grosse Immobilieninvestoren wie Banken und Versicherungen, Pensionskassen oder die SBB interessant sein.
Und das Interesse wächst. 2020 bekamen die zwei Gründerinnen von In Situ den renommierten Prix Meret Oppenheim für Architektur. Mittlerweile klopfen Dutzende Interessierte beim Baubüro an, vor allem kleinere Genossenschaften oder Private. Wenn die grossen Investoren kommen, sind die Wiederverwender bereit: Im Herbst haben sie die Tochterfirma Zirkular gegründet. Künftig wollen sie nicht nur selbst so bauen, sondern andere dabei beraten und begleiten. Das ergibt Sinn – schliesslich fehlen nicht Bauteile, sondern Know-how und Projekte.
3. Refit and repurpose: Das zweite Leben der Häuser
Nicht nur einzelne Bauteile wiederverwenden, sondern ganze Häuser: Hier ist die Schwergewichtsklasse des Kreislaufbauens angesiedelt – beim Umbau.
Der grösste Hebel bezüglich grauer Emissionen liegt ausgerechnet da, wo wir eigentlich längst wüssten, wie es geht. Ist etwa die Betriebsenergie das Problem, kann man Heizungen austauschen und Fassaden dämmen. Ist dagegen bauliche Verdichtung gefragt, lassen sich Siedlungen punktuell ersetzen, Stockwerke aufbauen oder Zimmerschichten anfügen.
Im Umbau steckt heute nur halb so viel Geld wie im Neubau. Doch ist der Wille da, lässt sich auch hier vieles verwirklichen. Dann werden Bürobauten zu Wohnhäusern oder Industriebauten zu Museen.
Oder ein Lagerhaus wird zur lebendigen Siedlung: Willkommen in Bern.
Bis vor wenigen Jahren verbrannte die Stadt auf dem Holliger-Areal südlich des Inselspitals ihren Kehricht. Früher war die Schokoladenfabrik Tobler hier zu Hause. Als sie die Produktion verlagerte, zogen Kreative und Journalisten, Gemüsehändler und ein Teelager in das Lagerhaus aus den Sechzigerjahren.
Heute steht nur noch der Rohbau – ein gewaltiges Skelett aus Stahlbeton. Darüber ragen zwei neue Treppenhäuser übers Dach. Rundherum stehen die ersten Holzelemente für drei neue Geschosse, bald kommen jene für die Fassade. Wenn das Projekt im kommenden Herbst fertig ist, zieht die Genossenschaft Warmbächli mit 150 Erwachsenen, 50 Kindern und Gewerbetreibenden ein. Der Lagerkoloss wird ein pralles Stück Stadt.
Aus Ressourcensicht ist die Umnutzung ein 21’000 Tonnen schwerer Gewinn: So viel Beton tritt ein zweites Leben an. Das CO2 darin entspricht dem jährlichen Fussabdruck von etwa 375 Schweizerinnen im Inland. Und eigentlich müsste man die Energie für den vermiedenen Abbruch noch dazurechnen.
Der Umbau ist ein intellektueller Kraftakt. Das Haus ist 25 Meter breit – um Wohnungen zu belichten, eigentlich zu viel. Die Stützen stehen im Abstand von 6 Metern – zu schmal für 3 Zimmer, zu breit für 2. Die Geschosse sind zwischen 3,6 und 4,7 Meter hoch – mehr als nur grosszügig, aber doch nicht hoch genug, um Zwischendecken einzuziehen. Zu allem Übel liegt das Haus auch am Hang, und in seiner Mitte stand ein stockdunkler Kakaobohnensilo.
Doch mit dem Architekturbüro BHSF fanden die jungen Genossenschafter unkonventionelle Lösungen. Von der Güterstrasse 8, wie das Projekt auch heisst, führt eine Laderampe ins Haus. An der Ecke liegt der «Selbstbau-Loft», in dem es beim Einzug nur einen Küchenanschluss und Bäder in Holzboxen gibt. In den Wohnungen rundherum sind so auch die Zimmer gebaut, auf dass sich die Bewohnerinnen darauf Kinderzimmer und Büros zimmern. Oder offene Galerien zum Fernsehschauen, Musizieren und Arbeiten.
In den oberen Lagergeschossen und der Aufstockung aus leichten Holzständerwänden entstehen weitere Grosswohnungen, aber auch ganz normale für Familien, Paare und Einzelne. Wo früher der Kakaobohnensilo stand, liegen heute sechs neue Geschossdecken, die so hoch wie vier Lagergeschosse sind. Die Wohnungen in diesem Bereich sind komplex verschachtelt, mit verschieden hohen Räumen und Treppen. Die «Kind und Kegel»-Wohnung mit 15 Zimmern reicht zum Beispiel über drei Stockwerke.
Die untersten drei Geschosse sind halb im Hang vergraben. Im Dunkeln liegen Mieterkeller und Technik, die Autogarage und ein riesiger Velokeller. Zum Hof hin, wo Tageslicht hereinkommt, gibt es einen Quartierraum, eine Kita und riesige Gewerbeflächen. In der Innenstadt sind Letztere ein Wagnis. Doch die ersten Interessenten haben angeklopft: ein Gebrauchtmaterialhändler und eine Lebensmittelgenossenschaft.
Eigentlich war das Toblerone-Lager eine einzige Zumutung für das Vorhaben, günstige Wohnungen und Gewerbeflächen einzubauen. Kein Wunder, interessierten sich die alteingesessenen Genossenschaften nach dem städtebaulichen Wettbewerb nur für die Neubauprojekte auf dem Areal. Einzig die neu gegründete Genossenschaft Warmbächli fing damals Feuer für das komplizierteste Baufeld. So bekamen sie Land und Lagerhaus im Baurecht und eine Million Franken als Sanierungszustupf. Für die Stadt Bern, die das Fünffache für den Abbruch budgetiert hatte, ein gutes Geschäft.
Damals wusste man nur wenig über das Haus. «Ob wir halb blauäugig waren? Mindestens», sagt Gründungsmitglied Tobias Willimann heute. Doch schlimme Überraschungen blieben aus.
Die Mieten werden günstig, aber nicht rekordtief. Umgekehrt zeigt sich: Anspruchsvolle Umbauten sind nicht billiger als Neubauten. Aber komplizierter. Für die Erdbebensicherheit mussten Bauarbeiter die Treppenhäuser und einige Wände mitten in die Struktur betonieren. Ebenso sorgsam mussten sie den Kakaobohnensilo aus dem Haus herausbrechen und die neuen Geschossdecken einziehen. Und an zig weiteren Stellen mussten sie konstruktive Einzellösungen finden.
Geld gespart haben die wagemutigen Genossenschafter darum nicht. Doch sie haben nicht nur 21’000 Tonnen Beton gespart, sondern auch ein Haus mit Geschichte und Charme gewonnen. Die Wohnungen sind so vielfältig und die Raumhöhen so opulent, wie man es sonst nur aus öffentlichen Bauten und grossbürgerlichen Wohnungen kennt. Mit einem kostenoptimierten Neubau wäre man in Bern bei den üblichen 2,3 Metern gelandet.
Als Fallbeispiel ist die Güterstrasse 8 interessant. Sie zeigt, was möglich ist, wenn man sich auf das Vorhandene einlässt. Aber sie ist untypisch. Das Gros der abgerissenen Altbauten bilden keine Fabrikhallen, sondern Bürohäuser und Wohnsiedlungen der Zwischen- und Nachkriegszeit.
Auch sie liessen sich eigentlich umbauen und aufwerten: Nur selten ist die bestehende Bausubstanz am Ende. Doch oftmals sind die Wohnungen kleiner als heute üblich, und die Parzellen weisen Baureserven auf. Anders als bei komplexen Umnutzungen wie in der Berner Güterstrasse lässt sich mit materialgenügsamen Sanierungen und behutsamen Erweiterungen von alten Wohnsiedlungen deshalb nur wenig Geld anlegen – und verdienen.
So ist die heutige Ersatzneubau-Mentalität zumindest ökonomisch erklärbar.
Aus Klimasicht wäre es trotzdem besser, möglichst viel zu erhalten und darauf aufzubauen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Umbauten einen Startvorteil haben: Die Betriebsemissionen fallen erst nach und nach an. Dagegen kosten Neubauten viele graue Emissionen – und zwar jetzt und auf einen Schlag.
Die Stadt Zürich weiss das. Im September veröffentlichte sie eine Studie, wie sie Netto null erreichen könnte. Wenig überraschend sind alle Häuser gedämmt und alle Öl- und Gasheizungen verschwunden. Was ausserdem im Zielbild steht, ist politischer Sprengstoff: «Die 2020 bestehenden Gebäude stehen praktisch alle auch 2050 noch.»
Ideen für die Zukunft
Zwei Drittel des Schweizer Baubestands stammen aus den letzten 60 Jahren. All die Decken und Wände aus Beton und Backstein lassen sich nicht an neue Orte bringen – mit klugem Weiterbau aber durchaus in einen neuen Lebensabschnitt. Hier spielt Musik. Wann wird die Baubranche das realisieren?
Eine Umbau- und Reparaturkultur wäre schon heute möglich – das zeigen die zwei Baustellen in Bern und Winterthur. Damit sie skaliert, sind aber mehr als überzeugte Architekten und neugierige Bauherrinnen nötig. Es braucht eine Transformation der ganzen Bauwirtschaft – einen neuen Mainstream.
Und es braucht Planungssicherheit. Die Politik und die Berufsverbände müssen den Rahmen dafür setzen und Anreize schaffen. Das fehlt heute komplett: Sowohl in der Energiestrategie 2050 als auch im CO2-Gesetz sind die grauen Emissionen im Bausektor kein Thema. In den Nachhaltigkeitslabels beschäftigen sich nur wenige Faktoren damit, und die Grenzwerte sind viel zu hoch. In den Ökobilanzen von Ersatzneubauten spielt es überhaupt keine Rolle, was abgerissen wird.
Ein Beispiel: Letztes Jahr ersetzte das Internationale Olympische Komitee an seinem Hauptsitz in Lausanne drei Gebäude aus den Jahren 1986, 1998 und 2008. Sie wurden weit vor Ende ihrer Lebensdauer abgerissen. Trotzdem bekam der geometrisch aufwendige Neubau aus Beton, Stahl und Glas das zweite Platinzertifikat des Standards Nachhaltiges Bauen Schweiz. Beim amerikanischen Indikator LEED erreichte er sogar die höchste Punktzahl, die bisher je vergeben wurde. Ein Label, das graue Emissionen entsprechend ihrem Klima-Impact gewichten und die auf dem Bauplatz vorhandenen Gebäude miteinbeziehen würde, müsste ihn anders benoten: ungenügend.
Immerhin: Letzten Oktober hat sich der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein zu Netto null, Ressourcenschonung, Kreislaufwirtschaft und Suffizienz bekannt. Ein Positionspapier ist ein Anfang. Doch es liegt an der Politik, in den kommenden Jahren die wichtigen Fragen zu beantworten:
Wann kommen gesetzliche Grenzwerte für graue Emissionen, so wie sie für die Betriebsenergie längst Standard sind?
Wie lassen sich die im Baubestand gebundenen Emissionen miteinbeziehen?
Werden diese ins Grundbuch geschrieben und als Emissionsschulden angerechnet, wenn ein Gebäude zu früh abgerissen werden soll?
Welche Lebensdauer gilt dabei in den Ökobilanzen für den Rohbau und emissionsintensive Bauteile?
Sollte man besonders umsichtige Bauherrinnen mit einem Flächenbonus belohnen?
Wie hoch sind wirksame Entsorgungsgebühren?
Brauchen wir Materialpässe für Häuser?
Sind flexiblere Normen für reuse-Bauteile nötig?
Oder Steuervorteile für Umbauten und reuse-Handwerk?
Geht die öffentliche Hand in ihren Ausschreibungen voran?
Rücken die Architekturschulen den Umbau und den kreislauffähigen Neubau ins Zentrum der Lehre?
Welche Forschung soll der Schweizerische Nationalfonds fördern?
Bringt die Politik die Kraft für kluge Antworten auf, wird die Wegwerf- zur Kreislauf-Bauwirtschaft. Die Baustoffindustrie und die Abfallberge schrumpfen. Und neue Geschäftsmodelle folgen von allein: Dann werden Neubau- zu Umbaufirmen und Bauingenieurinnen zu Reparaturexperten. Aus Abbruch- werden Ausbaufirmen, die Bauteile aufarbeiten und mit Garantie weiterverkaufen.
Dann gibt es Bauteilhändler mit cleverer Logistik, die Kaufoptionen bis zur Baubewilligung anbieten. Ausserdem entstehen Branchenverzeichnisse, Standardverträge und nutzerfreundliche Datenbanken. Intelligente Ingenieurprogramme werden Tragwerke vorschlagen, ausgehend von räumlichen Ideen und erhältlichen Bauteilen.
Für Bauherren und Architektinnen werden die Beschränkungen des Vorhandenen dann selbstverständlich – und die Idee, Ressourcenverbrauch und Wohlstand zu entkoppeln, wird Realität.