Briefing aus Bern

Billig-Ravioli für die AHV-Debatte, Bauern versenken Agrarreform und ein Fraktions­chef geht zu weit

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (138).

Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler und Cinzia Venafro, 18.03.2021

«Ohne die Frauen macht man keine Reform»: Seit Wochen wiederholt die grüne Ständerätin Lisa Mazzone ihr Mantra. So auch am Montag, als im Stöckli wieder einmal über die Zukunft der Schweizer Altersvorsorge gestritten wurde.

Doch Mazzone und Co. hatten in der kleinen Kammer keine Chance: Die Ständeräte – drei Viertel von ihnen sind Männer – wollen die AHV mit 30 zu 12 Stimmen durch die Erhöhung des Frauen­renten­alters auf 65 retten.

Doch Verhandeln ist ein Geben und Nehmen. Also will der Ständerat die Frauen mit einem Zückerchen von der Reform überzeugen. Das Zauberwort sind sogenannte Kompensations­zahlungen. Die stände­rätliche Sozial­kommission hatte dort noch den Sparhebel angesetzt. Das Plenum will aber doch mehr Frauen­jahrgänge für den Renten­ausfall entschädigen. 150 Franken monatlich soll es dabei für ein Jahr mehr Arbeit geben.

Dabei wäre das Frauen­rentenalter 65 nur eine Minireform. Eine weitere Erhöhung des Renten­alters ist längst in Vorbe­reitung. So schrieb der Bundesrat unlängst auf eine parlamen­tarische Anfrage, wie denn das Umsatzdefizit von 20 Milliarden in 20 Jahren ausgeglichen werden solle: Das Referenz­alter der Frauen und Männer müsste wohl «um drei bis vier Jahre auf rund 68 Jahre angehoben werden, um das Umlagedefizit im Jahr 2040 decken zu können».

Eine Vorstellung, bei der es Mitte-Links unter der Bundeshaus­kuppel den Magen umdreht. Im Nationalrat wetzen Grüne, Gewerkschaften und linke Politikerinnen die Klingen, um nur schon das Frauen­renten­alter 65 zu bodigen.

Mehr als ein flaues Gefühl im Magen haben die bürgerlichen Jungparteien beim Gedanken an ihre Renten. Darum machten die Präsidentinnen der JEVP, JGLP, JSVP, der Jungen Mitte und der Jung­freisinnigen den Partei­sekretariaten diese Woche ein ganz besonderes Geschenk: eine Büchse Billigravioli als Proviant für die anstrengende Rentendebatte. Das Motto dazu: «Helfen Sie uns, damit wir uns später nicht von Büchsen­ravioli ernähren müssen

Die Angst vor Altersarmut treibe die Jungen um, mittlerweile würde der Grossteil davon ausgehen, dereinst gar keine Rente mehr zu erhalten, sagte die Präsidentin der Jungen Mitte, Sarah Bünter. Darum hat sie sich mit den Spitzen des EVP-, SVP- und Freisinnigen-Nachwuchses zusammengetan. Alleine hat eine Jungpartei wenig Gewicht, vereint allerdings könnten sie zu Mehrheits­machern avancieren.

Die Altvorderen haben es über 30 Jahre hinweg nicht hinbekommen, bei der Reform der AHV einen Konsens zu finden. Darum hebt Jungpolitikerin Bünter den Mahnfinger: «Wir sagen unseren Mutter­parteien: Reisst euch zusammen und redet miteinander. Wir haben es auch geschafft.»

Und damit zum Briefing aus Bern.

Landwirtschaft: Nationalrat legt Agrarreform auf Eis

Worum es geht: Mit der Agrar­reform 2022 – oder kurz: AP22+ – wollte der Bundesrat den ökologischen Fussabdruck der Land­wirtschaft reduzieren, unter anderem durch die Verminderung von Stickstoff­überschüssen und Pestizid­einsatz. Zudem plante die Regierung, damit der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch das Parlament spielt nicht mit: Der Ständerat legte das Geschäft auf Eis und diese Woche brachte der Bauern­verband um Mitte-Nationalrat Markus Ritter die grosse Kammer dazu, die Vorlage mit 100 zu 95 Stimmen zu stoppen. Gegen die Reform votierten die SVP, fast die ganze Mitte-Fraktion und die Mehrheit der FDP.

Warum Sie das wissen müssen: Das Zünglein an der Waage spielte die FDP. Dem Vernehmen nach ist Bauern­präsident Ritter dafür einen Kuhhandel mit den Liberalen eingegangen: Sein Verband beschloss im Herbst die Nein-Parole zur knapp gescheiterten Konzern­verantwortungs­initiative. Nun hilft die FDP, die Agrarreform zu versenken. Ritter setzt sich damit gegen Wirtschafts­minister Parmelin durch, der als ehemaliger Weinbauer selbst Landwirt ist.

Wie es weitergeht: Bereits am 13. Juni kommen die zwei Anti-Pestizid-Initiativen an die Urne. Ohne Agrarreform fehlen dem Bundesrat die Argumente, die er im Abstimmungs­kampf ins Feld führen wollte. Der Bauern­verband, der ebenfalls gegen die Initiativen ist, pokert also hoch, wenn er die Reform zurück an den Bundesrat schickt – auch wenn er versichert, die Vorlage sei nur «sistiert». Denn egal, wie man es nennt: Die Reform der Schweizer Landwirtschaft ist um Jahre verschoben.

Verbot von Tabakwerbung: Nationalrat ist gegen Initiative, aber für strengere Regeln

Worum es geht: Der Nationalrat will kein lückenloses Verbot für Tabak­werbung. Dennoch muss die Zigaretten­lobby bald mit Einschränkungen rechnen.

Warum Sie das wissen müssen: Im Jahr 2019 reichten mehrere Gesundheits­organisationen die Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung» ein, die de facto ein Verbot sämtlicher Zigaretten­werbung im öffentlichen Raum fordert – sei es auf Plakaten und mit Inseraten oder im Kino und bei Festivals. Die Initiantinnen argumentieren mit dem durch das Rauchen angerichteten Schaden: Es ist seit Jahrzehnten die häufigste Ursache vermeidbarer Todesfälle – jährlich sterben in der Schweiz rund 9500 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Weil gemäss Studien drei Viertel der Rauchenden als Minder­jährige mit ihrem Laster begonnen haben, sollen Kinder und Jugendliche besser vor Werbung geschützt werden. Die Initiative geht der bürgerlichen Nationalrats­mehrheit jedoch zu weit. Am Mittwoch­nachmittag sprachen sich 96 Parlamentarier gegen und 84 für die Initiative aus, 7 enthielten sich. Einschränkungen soll es trotzdem bald geben, wie auch etliche bürgerliche Rednerinnen durchblicken liessen: Das Parlament hat die Revision des Tabakprodukte­gesetzes bereits an die Hand genommen. Aus diesem Grund empfehle auch der Bundesrat die Initiative ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung, sagte Gesundheits­minister Alain Berset im Nationalratssaal.

Wie es weitergeht: Der Ständerat wird sich in der Sommer­session mit dem Tabakprodukte­gesetz befassen; seine Gesundheits­kommission beantragt Verbote, die weiter gehen, als es der Nationalrat im Dezember vorsah: Auch in Gratis­zeitungen und im Internet soll nicht länger für Tabak­erzeugnisse geworben werden dürfen. Die vom Nationalrat abgelehnte Volksinitiative wird der Ständerat im Verlauf des Jahres beraten.

Öffentlichkeitsprinzip: Einsicht in Dokumente soll kostenlos sein

Worum es geht: Wer gestützt auf das Öffentlichkeits­prinzip in der Bundes­verwaltung amtliche Dokumente einsehen möchte, soll dafür nach dem Willen des National­rats künftig nur noch in Ausnahmefällen zur Kasse gebeten werden können – nämlich dann, wenn der Aufwand für Schwärzungen, Anonymisierungen und andere Anpassungen besonders gross ist. Das kommt vor allem dem investigativen Journalismus zugute.

Warum Sie das wissen müssen: Mit dem Inkraft­treten des Öffentlichkeits­gesetzes kam es vor 15 Jahren zum Paradigmen­wechsel. Bis dahin galten amtliche Dokumente als geheim, sofern sie nicht ausdrücklich zur Veröffentlichung freigegeben worden waren. Seither gilt das Gegenteil: Alles, was nicht ausdrücklich für geheim erklärt wurde, soll öffentlich sein. So versuchte der Bund, verloren gegangenes Vertrauen in die Ämter und leitende Beamte zurückzugewinnen. Einzelne Abteilungen aber torpedierten die neue Transparenz, indem sie überrissene Gebühren verlangten. Krasses Beispiel: Vor bald zehn Jahren wollte das Bundesamt für Land­wirtschaft der Zeitschrift «Beobachter» für eine Liste aller Milchverarbeitungs­betriebe, die monatlich mehr als 100’000 Franken Verkäsungs­zulage beziehen, 275’000 Franken in Rechnung stellen. Nun möchte der Nationalrat solcher Willkür Einhalt gebieten. Der Gesetzes­änderung stimmten alle Fraktionen mit Ausnahme der FDP und der Mitte zu.

Wie es weitergeht: Das Geschäft geht nun an den Ständerat. Ob dieser zustimmen wird, ist offen – schliesslich verfügen die FDP und die Mitte dort über eine komfortable Mehrheit.

SBB: Gute Aussichten trotz Rekordverlust

Worum es geht: Die SBB haben 2020 im Tages­schnitt gut ein Drittel weniger Reisende transportiert als im Jahr davor. Die Folge ist ein Defizit von 617 Millionen Franken, der höchste Verlust seit der Ausgliederung der Bahn in eine AG im Jahr 1999.

Warum Sie das wissen müssen: Schon vor Corona hatten die SBB zu kämpfen – Lokführer­mangel, Verzögerungen bei den neuen Fernverkehrs­zügen von Bombardier und viele Verspätungen zehrten an den Nerven von Passagieren und Personal. Doch trotz roter Zahlen und Sparmassnahmen gibt es positive Neuigkeiten: So stieg nach dem Abgang von SBB-Chef Andreas Meyer im April letzten Jahres das Vertrauen der Mitarbeiterinnen in die Geschäfts­leitung markant. Sein Nachfolger Vincent Ducrot verspricht, dass es weder Kündigungen noch Tarif­erhöhungen geben werde. Und er konnte sich mit den Gewerkschaften über die Sparpläne einigen, indem er einer Verlängerung des Gesamtarbeits­vertrags auf drei Jahre hinaus zustimmte.

Wie es weitergeht: Die SBB gehen davon aus, dass Passagier­zahlen und Einnahmen nach dem Ende der Pandemie wieder steigen werden. Um laufende Immobilien­projekte nicht zu gefährden, erwägt der Bundesrat, die Verschuldungs­obergrenze der SBB zu erhöhen. Der Personal­bestand bei den Lokführerinnen und Zugbegleitern soll sich per Mitte 2021 normalisieren. Zugausfälle wegen fehlenden Personals dürften künftig also seltener vorkommen.

Der Rüffel der Woche

«Füür im Dach» in Bundesbern. In der Hauptrolle diese Woche: SVP-Fraktions­chef Thomas Aeschi. Der Zuger Nationalrat hat mit Nora Kronig Romero, der Vizechefin des Bundesamts für Gesundheit, eine neue Lieblings­feindin gefunden. Und so deckte der fleissige Aeschi seinen zweiten Lieblings­feind, Bundesrat Berset, mit giftigen Fragen zu dessen Spitzen­beamtin ein. Dies so unverfroren frech, dass selbst Partei­kollege und Nationalrats­präsident Andreas Aebi ihm vor versammeltem Nationalrat die Leviten las. Dann wurde Aeschi auch noch zu Berset ins Büro zitiert: Dort tauchte er wenig reumütig, dafür flankiert von seinen Partei­kollegen Thomas Matter und Albert Rösti auf. Diese drei Herren stellen Kronig seit Wochen als unfähig hin. Mitte-Links wittert darob eine Männer­verschwörung: Die SVP habe sich nur auf Kronig eingeschossen, weil sie eine Frau sei, sagte etwa Grünen-Fraktions­chefin Aline Trede. Für den aggressiven Ton gabs für Aeschi dem Vernehmen nach eins auf die Finger. Oder wie er es selber formuliert: «Ich schätzte das klärende Gespräch, in welchem die Impfstoff­beschaffung persönlich mit Bundesrat Berset besprochen werden konnte.»

Illustration: Till Lauer